Eskalation
Semir Gerkan betrat gemeinsam mit seinem Partner Alex Brandt langsam und wachsam das Dach des Bürohochhauses am Düsseldorfer Medienhafen, auf das sich Volker Krewitz und sein Bruder Harald mit ihrer Geisel geflüchtet hatten. Die beiden Hauptkommissare der Autobahnpolizei Köln waren die letzten Stockwerke durch das Treppenhaus gelaufen und atmeten schwer. Das gesamte Rheinland stöhnte seit mehreren Wochen unter einer Hitzewelle mit Temperaturen von über 30°C im Schatten und auch an diesem Montag brannte die Sonne unnachgiebig vom azurblauen Himmel auf den Asphalt der Großstadt. Die Jeans klebte Semir an den Beinen, das T-Shirt unter der schweren Weste hing klitschnass an seinem Oberkörper. Er wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß aus seinen Augen und rieb sich die Hände nacheinander an der Hose trocken. Er wünschte sich an den Badesee zurück, an dem er mit seiner Familie den Sonntag im Schatten unter den Bäumen und im Wasser verbracht hatte.
Auch Alex lief der Schweiß aus allen Poren, er benutzte seine T-Shirt-Ärmel, um sich das Gesicht zu trocknen. Mit seinem Partner verständigte er sich durch Handzeichen, sie teilten sich auf und gingen hinter den Dachaufbauten für die Klimaanlage in Deckung, als auch schon die ersten Schüsse in diese einschlugen.
Wie hatte es nur soweit kommen können? Volker und Harald Krewitz hatten eine Bank überfallen und dann an einer Tankstelle an ihrer Autobahn ihre Chefin als Geisel genommen, die zufällig zu der Zeit dort zum Tanken angehalten hatte. Über Funk erfuhren Semir und Alex von der Geiselnahme und konnten die Verfolgung aufnehmen. Sie konnten schließlich das Fluchtauto bis in den Düsseldorfer Medienhafen verfolgen. Anscheinend waren die Räuber zwar brutal und zum Äußersten bereit aber nicht besonders intelligent, denn die erfahrenen Polizisten waren in der Lage gewesen, das Auto an diesem Bürogebäude zu stoppen. Dort hatte sich ein Schusswechsel entfacht zwischen den Bankräubern und den Polizisten, im Verlauf dessen Kim Krüger von Volker ins Bein geschossen wurde und ihm und seinem Bruder die Flucht mit ihrer Geisel in das Gebäude und auf dessen Dach gelang, wohin ihnen Semir und Alex gefolgt waren.
Und nun befanden sich die Brüder mit Kim Krüger auf der einen Seite des Daches, die zwei Beamte der Autobahnpolizei auf der anderen. Beide Parteien hatten hinter Dachaufbauten Deckung gefunden. Semir lud konzentriert seine Waffe nach, in dieser Situation wollte er auf zwei volle Magazine nicht verzichten, Alex tat es ihm gleich. Die Situation schien aussichtslos, gingen sie aus der Deckung, gäben sie ein gutes Ziel ab, und das wussten auch die Brüder. Semir schaute Alex fragend an und formte mit seinen Lippen die Frage „SEK?“ Der Angesprochene zeigte auf seine Uhr und zuckte mit den Schultern. Bereits auf der Fahrt hierher hatten sie die Verstärkung gerufen, die nun auf sich warten ließ.
Haltlos
Kim Krüger lag neben einem Dachaufbau. Sie ebenfalls in Deckung zu bringen, hielten die Krewitz-Brüder für nicht erforderlich, sie selbst war ja durch ihre eigenen Kollegen keiner Gefahr ausgesetzt. Ihre helle Leinenhose war am Oberschenkel vom Blut durchtränkt. Kim wusste, dass Alex und Semir sich ebenfalls auf dem Dach befanden und dachte fieberhaft nach. Wenn es ihr gelang, einen der Brüder zu überwältigen und zu entwaffnen, dann könnte sie dadurch vielleicht so viel Erstaunen bei den Bankräubern hervorrufen, dass sie Alex und Semir die nötige Zeit zum Angreifen verschaffen würde. Sie hob ihren Oberkörper und drehte ihren Kopf in die Richtung, in der sie Semir und Alex vermutete. Sie konnte lediglich einen halben Ärmel und eine Stiefelspitze ausmachen, der Rest von Semirs Körper war hinter dem Dachaufbau verborgen.
Aber Semir spürte die Bewegung seiner Chefin, es trennten sie nur wenige Meter. Er entschied sich, die Krewitz-Brüder anzusprechen. „Geben sie auf! Wenn das SEK auf das Dach stürmt, überleben Sie den Tag nicht. Jetzt hätten Sie noch die Chance, mit ein paar Jährchen Gefängnis davon zu kommen.“ Während er sprach, lugte er vorsichtig um die Ecke und blickte geradewegs in das schmerzverzerrte Gesicht von Kim Krüger. Die Chefin der Autobahnpolizei versuchte, sich mit ihm zu verständigen und einen Angriff ihrerseits auf die Bankräuber anzukündigen. Semir schüttelte energisch den Kopf, Das konnte ihre Chefin nicht ernst meinen. Auf gar keinen Fall sollte sie die Räuber angreifen. Er befürchtete auch, dass sie mit ihrer Verletzung zu schwach sein, den Kerl auch nur einen Moment lang zu überwältigen. Aber Kim besaß einen ebensolchen Dickkopf wie Semir und ließ sich von ihm nicht umstimmen. Sie sah in dieser Aktion ihre einzige Chance und streckte drei Finger nach oben. „Auf Drei“, sollte das heißen. Semir schaute schnell zu Alex hinüber, zeigte auf seine Uhr und hob ebenfalls drei Finger. Dann zählte er gleichzeitig mit seiner Chefin anhand der Finger bis drei. Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger und los!
Während Kim Krüger sich auf Harald Krewitz warf, der vor Schreck seine Waffe fallen ließ, die Kim mit einem Fußtritt über den Rand des Daches zu befördern gelang, nutzten Alex und Semir die Verwirrung auf Seiten der Bankräuber, um unter Abgabe einiger Schüsse ihre Deckung zu verlassen und nach vorne zu stürmen. Kim verließen schnell die Kräfte, aber Semir war da schon an ihrer Seite und übernahm ihren Gegner.
Alex gelang es, Volker Krewitz innerhalb von Sekunden zu überwältigen, ihm die Waffe abzunehmen und Handschellen anzulegen. Semir hatte mit dessen Bruder größere Schwierigkeiten. Der großgewachsene Kerl verfügte über Bärenkräfte. Die Kämpfenden bewegten sich bedrohlich auf den Rand des Daches des etwa zehnstöckigen Hauses zu.
Als endlich das erwartete SEK das Dach betrat, konnte Alex ihnen Volker Krewitz übergeben und seinem Partner zu Hilfe eilen, der gerade einige empfindliche Schläge einstecken musste. Alex zog Harald Krewitz weg, konnte allerdings nicht verhindern, dass dieser Semir einen letzten Tritt in die Seite versetzte. Zwei SEK- Beamte erreichten Alex in dem Moment, in dem Semir versuchte, sich auf dem Dach abzustützen und aufzurappeln. Aber sein Griff ging ins Leere und er verlor das Gleichgewicht. Bevor Alex helfend zugreifen konnte, stürzte er kopfüber über die Dachkante und fiel ins Leere.