Diese Geschichte ist der erste Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:
1.Fall: -
2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
3.Fall: Auf dünnem Eis
4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
5.Fall: Blackout
6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
7.Fall: Vertrauen
8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
9. Fall: Kalter Abschied
----------------------------------------------------------------------------------------
Ein Mann hastete durch den Nebel. Er musste seine Kollegen finden, ihnen berichten, was er gesehen hatte. Sein Herz raste und hämmerte wie ein wilder Kolibri gegen seinen Brustkorb. Verzweifelt versuchte er die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen. Er musste klar denken, wenn er hier wieder rauskommen wollte! Verdammt, er hatte sich immer auf seinen Verstand verlassen können, warum schaltete er sich ausgerechnet in diesem Augenblick aus?
Dann tauchte eine Silhouette vor ihm im Nebel auf, brachte seinen Körper dazu sich zu beruhigen. Er war gerettet. Sie hatten ihn rechtzeitig gefunden! Doch er hatte sich getäuscht. Seine Rettung sollte sein Untergang sein. Die Gestalt hob den Arm und richtete eine Waffe auf ihn. Es war zwei Uhr, als Schüsse den finnischen Nebel durchbohrten.
1.500 km südlich
„Ben!“, schimpfte Semir laut und schüttelte seinen jüngeren Partner unsanft an der Schulter. „Mach die Augen wieder auf!“ Der Angesprochene rieb sich verschlafen die Augen. „Ist ja gut, ist ja gut … ich bin ja schon wach. Man wird sich jawohl um zwei Uhr in der Nacht eine Pause gönnen können!“, murrte er. „Jaja und ich soll die ganze Arbeit für dich machen oder was?“ Ben lehnte sich in seinen Sitz zurück und lächelte. „Da würde ich nicht Nein sagen.“ Semir warf seinem Nebenmann einen strengen Blick zu. Aufgebracht schüttelte er den Kopf. „Du warst derjenige, der diesen Fall unbedingt wollte, darf ich dich daran erinnern?“ Der Braunhaarige rümpfte die Nase. Langsam glaubt er, dass es ein verdammter Fehler war, sich mit dem Fall Seifert einzulassen. Seit knapp zwei Wochen beschattete das Team diesen Seifert, weil man glaubte er hätte Verbindungen zur Drogenszene, aber bisher tappten sie vollkommen im Dunkeln. Es war unmöglich Seifert irgendetwas anzuhängen. Der Typ war ein Phantom. Das Einzige was sie hatten war ein Hinweis von einem Informanten, der kurze Zeit später unter tragischen Umständen auf der Autobahn ums Leben gekommen war. Nicht einmal das hatten sie Seifert nachweisen können. Dieser Umstand war doch tatsächlich als ein normaler Unfall durchgegangen. Er sah gelangweilt auf die große Villa und merkte, wie die Müdigkeit ihn übermannte und er zurück in den Schlaf sank.
Ben fand sich in einer Schulklasse wieder. Vor der Tafel stand eine blonde Frau, seine Lehrerin Frau Schmitz, daneben ein Junge. Seine schwarzen Haare standen wirr in alle Richtungen, seine blauen Augen waren auf den Boden gerichtet. Er wirkte, als wolle er gerade überall sein, nur nicht in diesem Raum. „Kinder, das ist Michael Hansen. Er hat gerade einige Klassen übersprungen…“, begann die Lehrerin und er stöhnte innerlich auf. Ein Streber hatte ihm gerade noch gefehlt. Seine Augen weiteten sich, als die Lehrerin auf den freien Stuhl neben ihm zeigte. „... Schau Michael dahinten ist noch ein Platz frei.“ „Aber Frau Schmitz hier sitzt doch Mark“, erwiderte der braunhaarige Junge schnell und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Sollte sie ihn doch vorne neben Anne-Marie setzen. Die würden prima zusammenpassen. „Ben. Ich denke, wir werden für Mark schon einen anderen Platz finden“, sagte Frau Schmitz mit einem breiten Lächeln, „setz dich ruhig hin Michael. Dann können wir gleich mit dem Unterricht beginnen. Der kleine schwarzhaarige Junge löste sich schüchtern von der Seite der Frau und setzte sich dann stillschweigend neben seinen neuen Tischnachbarn. Im nächsten Augenblick verdunkelte sich der Raum und rote Flammen stiegen durch das Fenster.
„Nein! Renn weg!“ Schweißgebadet wurde Ben aus seinem Traum gerissen. Er schnappte hektisch nach Luft und begann erst langsam zu realisieren, wo er war. Im Auto, bei einer Observation. „Ben … ist alles in Ordnung?“, fragte Semir besorgt und der Angesprochene spürte, wie sein Partner seine Hand auf seine Schulter legte. Er nickte leicht, merkte aber, wie er weiterhin zitterte. „Ja … ich … es war nur ein Traum. Ein ziemlich abgedrehter Traum.“ Sein Nebenmann zog irritiert die Augenbraue hoch. „Erzähl, was für ein Traum? Muss ja schlimm gewesen sein, du hast geschrien, als würde es um Leben und Tod gehen.“ Ben lächelte gequält. „Es ist lange her und eigentlich … eigentlich will ich da jetzt auch nicht drüber reden.“ Er merkte, wie Semir erneut ansetzen wollte. „Wirklich Semir, ich will nicht darüber sprechen“, wiederholte er genervt und drehte den Kopf in Richtung Fenster. Er schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Der Traum hatte ihn aufgewühlt und es war mehr als schwer vor seinem Partner die Fassung zu bewahren. Er hörte, wie Semir noch ein paar Mal versuchte die Wahrheit aus ihm herauszulocken, dann jedoch schließlich aufgab, als Ben dazu übergegangen war überhaupt nicht mehr auf ihn zu reagieren und stattdessen gedankenverloren aus dem Fenster sah.
*
Ben war froh, als er endlich zu Hause in seinem Bett liegen konnte. Die letzten Stunden der Observation waren nicht nur wegen der Langeweile eine Qual gewesen, sondern auch weil ihn der Traum beschäftigte. Er hatte diesen Traum schon lange nicht mehr gehabt, geglaubt, dass er diesen Verlust endlich abgehakt hatte. „Vielleicht verfolgt er dich, weil du schon so lange sein Grab nicht mehr besucht hast?“, murmelte er sarkastisch zu sich selbst. Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie Michael wohl heute aussehen würde, ohne Erfolg. Das Gesicht seines toten Freundes begann vor seinem inneren Auge zu verblassen. Er seufzte und begab sich in sein Bett, schließlich musste er in paar Stunden wieder zum Dienst erscheinen und der hatte Schlaf bitter nötig.
„Ben!“, schrie eine Jungenstimme, „komm her, schau dir das Mal an!“ Der Braunhaarige rannte in großen Schritten zu seinem Freund. Michael hielt ihm mit einem breiten Grinsen eine Kette entgegen. „Cool, oder? Hab ich gestern von meinem Papa bekommen. Er hat sie mir geschenkt, einfach so!“ Ben sah das Schmuckstück skeptisch an. „Ketten sind noch nur etwas für Frauen“, lachte er. Sein Gegenüber sah ihn traurig an. „Okay, naja … dann schenke diese doch einfach deiner Schwester“, sagte er leise und drückte ihm ein zweites Exemplar in die Hand. „Ich muss dann auch los. Wir sehen uns ja dann morgen zur Mathearbeit.“ Ben sah ihm hinterher. Es war seinem Freund anzusehen, dass er ihn durch seine Aussage verletzt hatte. „Michael! Komm, das war nicht so gemeint. Ich werde dir Kette morgen ganz sicher umhaben. Wir sind doch beste Freunde!“, schrie er in die Richtung, in der sein Freund verschwunden war. Sein Freund drehte sich um, doch urplötzlich schossen um sie herum Flammen aus dem Boden. Es wurde unglaublich heiß und er verlor Michael aus den Augen. „NEIN!!! Michael, warte!“
„Michael!!“ Laut schreiend fuhr Ben aus seinem Albtraum hoch. Er zitterte, Angstschweiß lief sein Gesicht herunter. Sein Herz pochte rasend schnell gegen seinen Brustkorb, Tränen rannen über seine Wangen. Seine Hände hatte er fest in die Bettdecke gekrallt. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, jammerte er genervt. Warum zur Hölle jetzt! Warum wurde er diese Sache einfach nicht los! Es dauerte lange, bis er seine Atmung und seinen Körper wieder unter Kontrolle bekam. Er schüttelte einige Male energisch den Kopf, um die Bilder loszuwerden. „Es war nur ein Traum … ein dummer, naiver Traum!“, redete er sich immer und immer wieder ein und merkte, wie sein Körper langsam wieder zur Ruhe kam. Er schloss die Augen erneut, doch als die Bilder zurückkehrten, riss er sie wieder auf. Er würde heute Nacht wohl keinen Schlaf mehr finden. Mit einem lauten Seufzer hob er die Beine aus dem Bett und ging mit müden, schwerfälligen Schritten zu einer Kaffeemaschine, um sich eine Tasse zu brühen.
Danach führte sein Weg zu seinem Nachtschränkchen. Er nahm seine Kette, die er fast täglich trug, in die linke Hand. Seine Finger glitten über den Anhänger und er spürte, wie sich Trauer und Wehmut an die Oberfläche kämpften. An sich war der Anhänger nicht wirklich besonders. Ein Oval, mit der Silhouette eines Mannes, vielleicht ein antiker Denker oder Herrscher – er hatte es nie wirklich nachgeschaut. Darunter ein kleines Viereck. Dennoch war sie für ihn mit vielen Erinnerungen verknüpft. Michael hatte sie ihm geschenkt. Es war die wichtigste Erinnerung an seinen Freund, die er hatte. Er lächelte bei dem Gedanken daran, dass sie sich in den ersten Monaten nach ihrem ersten Treffen überhaupt nicht Grün waren. Er hatte für einen dämlichen Streber gehalten und ihn das nicht nur einmal spüren lassen. Doch alles hatte sich geändert, als er an einem Nachmittag seine kleine Schwester Julia vor irgendwelchen Schulschlägern beschützt hatte. Michael hatte dabei selbst einiges abbekommen, aber die Tatsache, dass er sich alleine sieben älteren Jungen entgegengestellt hatte, hatte ihn imponiert. Doch Michael war tot. Er war gemeinsam mit seinen Eltern in einem Brand gestorben. Ben war Polizist geworden - wegen ihm. Sie hatte diesen Traum zusammen gefasst, auch wenn er sich heute sicher war, dass sie ihn vielleicht nicht gemeinsam verfolgt hätten, wäre Michael nicht gestorben. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Die Jahre nach dem Tod seines Freundes waren wirklich schlimm gewesen, aber inzwischen hatte er geglaubt, dass er darüber hinweg war. Eine Fehleinschätzung, wie sich jetzt herausstellte. Er konnte ihn einfach nicht vergessen. Er war immer noch ein Teil von ihm und würde es wohl immer bleiben.
Er stöhnte auf und legte die Kette wieder auf das Schränkchen, als könnte er dadurch die trüben Gedanken in seinem Schädel vertreiben. Danach setzte er sich auf das Bett und starrte ins Leere, die Kaffeetasse mit seinen zittrigen Händen fest umgriffen. Als Michael gestorben war, war das seine erste Begegnung mit dem Tod gewesen und doch erinnerte er sich noch genau an die Beerdigung. Es hatte geregnet und an seinen feinen, schwarzen Schuhen hatte anschließend der Schlamm geklebt. Seit diesem Augenblick war Ben oft an dem Grab gewesen, manchmal mehrmals in der Woche, bis es schließlich immer mehr nachgelassen hatte. Sein letzter Besuch war nun über vier Monate her. Vielleicht sollte er morgen vorbeischauen. Eventuell würden dann diese Albträume endlich nachlassen? Ben stöhnte auf und stellte die Tasse auf dem Nachtschränkchen ab. Er musste dringend versuchen noch etwas Schlaf zu finden, sonst würde Semir sich bei seinem Anblick fürchterliche Sorgen machen.
Ben erwachte nach nur wenigen Stunden unruhigem Schlaf erneut. Er wurde diesen Albtraum und die damit verbundenen Erinnerungen einfach nicht mehr los. Er stand auf, weil er wusste, dass er sicherlich eh keinen Schlaf mehr finden würde. Er stiefelte in die Küche und zwang sich etwas zu essen, obwohl er eigentlich keinen Hunger hatte. Danach saß er noch lange auf seinem Sofa und starrte die Wand gegenüber von ihm an, bis die Uhr endlich angab, dass es Zeit war loszufahren. Er zog sich seine Lederjacke über und griff nach den Autoschlüsseln, um zur Dienststelle aufzubrechen.