Andreas Hansen saß in seinem Auto und sah durch die Windschutzscheibe auf das Krankenhaus. Seine braunen Augen scannten die Umgebung. Er konnte Joshua sehen, der vor dem Haupteingang nervös auf und ab stiefelte. Immer mal wieder fuhr sich der junge blonde Mann durch die Haare, setzte sich auf die Bank, um dann direkt wieder aufzustehen. Der Freund seines Sohnes schenkte seiner Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit und so war es nicht schwer, sich vor ihm zu verbergen. Er griff in seine Hosentasche und zog ein Foto heraus. Sanft strich er mit dem Zeigefinger darüber. „Es tut mir leid. Es musste sein“, sagte er leise. Ihm war klar, dass er mit diesem Schuss alles verändert hatte. Sein Sohn würde ihn hassen, wenn er es nicht ohnehin bereits getan hatte. Nie würde Mikael die Wahrheit erfahren. Er wünschte, dass er ihm sagen könnte, dass er tief in seinem Inneren schwach war und nicht der starke unerschütterliche Mann, den er vorgab zu sein. Ihm sagen könnte, dass er immer das Wichtigste für ihn war und bleiben würde, egal was er in der Vergangenheit getan hatte. Denn eins wusste er, er war bei weitem nicht der Vater, der er hatte sein wollen, als seine Frau schwanger war. Sie hatten sich unendlich auf das Kind gefreut und er hatte alles besser machen wollen, als sein eigener Vater. Am Ende hatte er versagt und sich in seinen Geschäften verloren. Die Chance verpasst ein guter Vater zu sein. Nie würde er vergessen, was er deshalb seinem eigenen Sohn antun musste.
Er hatte in der Falle gesessen und einfach keinen Ausweg gefunden. Jemand hatte ihn immerhin dabei gesehen, wie er bei Seifert gestanden hatte, als dieser den Sohn eines russischen Mafioso ermordet hatte. Hatte all das sogar auf Video. Wie hätte er jemals entkommen können? Es war ihm keine Wahl geblieben, als den Deal zuzustimmen. Was hätte er sonst tun sollen? Er war gezwungen worden, dieses Dokument von seinem Sohn zu bekommen und es zu vernichten. Man hatte von ihm verlangt, dass er Mikael tötete. Warum, darüber war es sich bis heute nicht im Klaren. Vielleicht nur so aus Spaß, vielleicht weil er es schon lange in seinem Gehirn abgespeichert hatte. Er hatte nach einer Alternative gesucht, doch Sebastian hatte ihn nie aus den Augen gelassen und als er ihn endlich los geworden war, da hatte er ihn nur noch mehr Probleme gemacht. Er hatte ihm ein Schlangengift für Jäger angedreht, mit dem Versprechen, er habe das Gegenmittel. Nichts hatte er! Er war betrogen worden und vielleicht bald nicht mehr nur der Mörder von Sebastian Seifert, sondern auch von Ben Jäger. Der Junge hatte gewiss schon seine letzten Atemzüge getan und das nur, weil er das Gesicht von Konrad Jäger sehen wollte, wie er um seinen Sohn bangt, nachdem er ihm damals alles genommen hatte. Den Moment auskosten und ihm dann triumphierend das Gegenmittel präsentieren. Vielleicht hätte er noch etwas Geld bekommen können, obwohl er es eigentlich nicht benötigt hatte. Mit einer Millionen und den Rücklagen aus dem Drogengeschäft ließ sich ganz gut leben.
Er seufzte und ließ den Kopf gegen die Lehne des Sitzes fallen. Es war lange her, als er in einen solchen Schlamassel gesteckt hatte. Die Probleme, die er hatte, als Konrad ihn damals verriet, waren ein Kindergeburtstag gegen seine Jetzigen. Er war so naiv gewesen und hatte gehofft, dass er Mikael sicher in die Hände von Jäger übergeben konnte, doch er hatte sich getäuscht. Er hatte all die Zeit gewusst, dass er nicht alleine bei dieser Übergabe gewesen war. Jemand hatte sie beobachtet, genau geprüft, ob er es auch tat. Und er hatte es getan. Stümperhaft eine Wahrscheinlichkeit errechnet, wie er schießen musste, damit sein Sohn es schaffen würde und das obwohl es keine Garantie gegeben hatte, dass die Kugel im Körper seines Kindes einen anderen Weg nahm, als er sich erhoffte. Dazu war Mikael ohnehin schon am Ende gewesen. Aber es war seine einzige Chance geblieben. Was wäre passiert, wenn er nicht geschossen hätte? Vermutlich hätte man Mikael dennoch erschossen und Konrad und diesen Polizisten gleich mit. Seine Augen folgen einmal mehr Joshua, der weiterhin nervös auf und ab tigerte. Er löste seinen Blick und sah auf die Reisetasche voller Geld, die auf seinen Beifahrersitz lag. Es war Konrads eigene Schuld, dass er sein Spiel nicht durchschaut hatte. Hatte sein alter Freund wirklich geglaubt, er würde zwei Übergaben riskieren? Eine war schon halsbrecherisch genug, da brauchte er unmöglich eine Zweite. Hätte er Mikael übergeben, hätte er ihnen gesagt, wo Ben ist und bis dahin wäre er mit dem Geld längst über alle Berge gewesen. Das Geld würde reichen, um sich vorerst zurückzuziehen und seine Geschäfte in Finnland von seinem Stellvertreter leiten zu lassen. Er musste ja nur warten, bis sich die Russen wieder beruhigt hatten und er seinen Gegner bei den Bullen los war. Dann könnte er zurückkehren und vielleicht könnte er dann Mikael alles erklären. „Du bist albern Andreas, du hast deinen Sohn heute verloren“, sagte er leise zu sich selbst und sah wieder auf das Foto in seiner Hand. Das Foto war schon einige Jahre alt. Mikael trug darauf blaue Polizeiuniform und irgendwie hatte es ihn auch mit Stolz erfüllt, dass sein Sohn ihm nicht auf seinem Weg gefolgt war. Den Weg, dem ihn sein Vater damals vorgegeben hatte und auf den er Mikael nie drängen wollte, aber doch unterschwellig getan hatte. Er sah auf und verfolgte wie Joshua in das Krankenhaus ging. Er selbst griff in diesem Augenblick nach seinem Handy und rief in der Klinik an. Andreas Hansen lächelte in sich hinein. Man schien noch niemanden des Personals über die Umstände informiert zu haben und so war es leicht für ihn Informationen zu erhalten, als er der Schwester sagte, dass er der Vater war. „Ihr Sohn hat die OP gut überstanden“, hörte er sie sagen. Kurz darauf legte er auf. Mehr brauchte er nicht wissen. Er wartete noch einige Minuten vor dem Krankenhaus und sah zu, wie zwei uniformierte Kollegen das Gebäude betraten. Nun, damit hatte sein Plan noch besser geklappt, als er sich erhofft hatte. Niemand würde nur in die Nähe seines Sohnes kommen, endlich war er in Sicherheit, bis er die Sache geklärt hatte. Er startete das Auto und fuhr los. Er würde sich erst einmal einige Tage zurückziehen und dann Kontakt mit dem Mann aufnehmen, der seinen Sohn tot sehen wollte. Es war Zeit, dass er das Blatt zu seinen Gunsten drehte.