Urlaub
Ben war wieder zurück in der PAST-Familie und hatte sich schnell wieder in den Alltag der Autobahnpolizei eingearbeitet. Mit Alex verstand er sich gut, und Semir ließ sich, genau wie er es sich vorgenommen hatte, auch nicht ganz ins Büro verbannen, obwohl die Leitung der Polizeistation schon einige Bürozeit in Anspruch nahm, ein Umstand, der wiederum Andrea sehr gut gefiel. Obwohl Semir auch weiterhin ständig bereit war, Überstunden zu machen und Wochenenddienste zu übernehmen und gefährliche Einsätze immer noch nicht ausgeschlossen waren, so überwiegten doch mittlerweile die Tage, an denen er pünktlich Feierabend machen konnte, rechtzeitig zum Abendessen zuhause war und die Abende mit seiner Familie verbringen durfte.
So vergingen die ersten Monate, und es nahten die Osterferien. Semir hatte sich eine Woche Urlaub genommen, um mit Andrea und den Kindern zuerst zu seinen Schwiegereltern und anschließend zu Andreas Freundin nach Freiburg zu fahren. Ben ließ es sich natürlich nicht nehmen, seinen Freund damit aufzuziehen, als sie beide in der Teeküche standen. „Du fährst freiwillig zu deinen Schwiegereltern und zu Andreas Freundin? Und was machst du für dich in deinem Urlaub?“ – „Ich fahre mit der schönsten und besten Ehefrau von allen, reicht das nicht? Nein, Ben, ich werde schon Zeit für mich finden oder mit den Kindern etwas unternehmen, außerdem sind wir bei Andreas Eltern nur einen Abend und in Freiburg haben wir eine eigene Ferienwohnung. Da bleibt schon genug Zeit für uns. Wichtig ist, dass ich hier mal wieder raus komme.“ Vom Großraumbüro drang die Stimme des großgewachsenen Kollegen Bonrath zu ihnen hinüber. „Bist du dir denn sicher, die Dienststelle hier alleine lassen zu können? Jetzt, wo du uns gerade so gut im Griff hast? Nicht, dass Ben und Alex in der Zwischenzeit die ganze Autobahn in Schutt und Asche legen.“ Bonrath bemühte sich, bei dem letzten Satz um eine naturgetreue Wiedergabe der Tonlage ihrer ehemaligen Chefin Kim Krüger. „Ach Bonrath, da habe ich keine Bedenken. Das Chaos klappt auch ohne mich, wozu habe ich hier das beste Team um mich geschart, das man sich vorstellen kann?“
Gegen 15:00 Uhr betrat Andrea mit Ayda und Lilly im Schlepptau die Dienststelle, begrüßte alle Kollegen, die sie noch aus ihrer aktiven Zeit in der PAST kannte und blieb dann bei ihrer Freundin Susanne stehen, während ihre Töchter direkt in Semirs Büro liefen, um ihren Vater von den letzten Tätigkeiten vor dem Kurzurlaub abzuhalten. Der schaffte es aber, sie weiter zu Ben zu schicken, um die letzten Büroarbeiten zu erledigen, fuhr dann den Rechner runter, schnappte sich seine Jacke und verließ sein Büro.
Ben beschäftigte Semirs Kinder mit Stiften und Papier, bis Semir kam, um sie abzuholen. Dann brach Familie Gerkan endlich in ihre Osterferien auf. Sie hatten die PAST schon verlassen, da fiel Bens Blick auf den Stoffhasen „Hasi“, den Lilly bei ihm auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte. Er sprang auf, schnappte sich das Tier und rannte hinter seinem Freund und dessen Familie her.
Semir war schon mit dem Familienkombi rückwärts aus der Parklücke gerollt, und wollte gerade an der PAST vorbeifahren, da erblickte er seinen mit dem Stofftier winkenden Freund und bremste. Ben zog die Tür hinter Andrea auf und drückte „Hasi“ einer strahlenden Lilly in die Hand. „Was tätest du nur eine Woche ohne Hasi, Lilly?“, und zu Semir und Andrea sagte er noch: „So, jetzt seht aber zu, dass ihr hier wegkommt. Schönen Urlaub!“
Unfall
Etwa eine Stunde später wurden Ben und Alex an eine Unfallstelle auf der A3 gerufen. Dort zeigte sich Ben und Alex ein Bild der Verwüstung, ein LKW stand quer zur Fahrbahn und hatte offenbar zwei weitere Wagen in die Leitplanke gedrängt. „Bin gespannt, warum gerade wir hierher kommen sollten“, fragte Alex. „Hmm, ich auch. Sind doch Leute genug da.“, pflichtete Ben seinem Partner bei und deutete auf die drei Streifenwagen und Einsatzkräfte der Feuerwehr, die bereits damit beschäftigt waren, ihr Material wieder zusammen zu packen.
Verkehrsunfälle zählten zwar auch zum Alltag der Kriminalbeamten der Autobahnpolizei, deren Aufnahme an sich aber erledigten eigentlich die Kollegen von der Streife.Ein Polizist in Uniform, den Alex und Ben nicht kannten, trat auf sie zu. „Sind Sie die Herren von der Kriminalpolizei? Mein Name ist David Niehms, ich bin neu im Revier.“ – „Brandt, guten Tag Herr Niehms, das ist mein Kollege Jäger, warum haben Sie uns gerufen? Was ist hier passiert?“
Der junge Streifenpolizist schilderte kurz den Unfallhergang: „Der LKW-Fahrer ist aus noch nicht geklärter Ursache nach links von seiner Fahrbahn abgekommen, hat die Mittelleitplanke durchbrochen, die Gegenfahrbahn überquert und dabei den Kombi dort hinten zwischen sich und der Leitplanke eingeklemmt. In die Unfallstelle raste dann der schwarze Kleinwagen.“ – „Was ist mit den Insassen?“ – „Der LKW-Fahrer ist nur leicht verletzt, aber zur Überwachung und Blutprobenentnahme ins Krankenhaus gebracht worden. Im Kombi saß eine vierköpfige Familie, die Rettungswagen sind gerade weg. Und für den Fahrer des Kleinwagens kam jede Hilfe zu spät, er ist aus seinem Wagen geschleudert worden. Als wir nach seinen Papieren suchten, haben wir einen Koffer mit Rauschgift und recht viel Bargeld gefunden, deshalb ...“ – „…schauen wir uns den Koffer und den Kleinwagen doch mal genauer an, nicht wahr, Ben? … Ben?“
Alex blickte sich um. Ben stand nicht mehr neben ihm. Irgendetwas an dem dunkelblauen Kombi, der vollkommen zerstört zwischen der Leitplanke und dem LKW lag, hatte ihn magisch angezogen. Alex ging ihm nach. „Merken Sie sich, was Sie noch sagen wollten“, entschuldigte er sich noch bei David Niehms.
Der LKW hatte die Fahrerseite tief eingedrückt und den Wagen etwa zur Hälfte aufgeschlitzt. Jetzt war der schwere Transporter für die Bergungsmaßnahmen etwas zurückgezogen worden. Beide Reifen auf der linken Seite waren platt, so lag der Wagen hier tiefer. Das Dach war später von der Feuerwehr geöffnet worden, um die Insassen befreien zu können. Ein dunkelblauer Skoda Octavia, Ben musste nicht erst auf das Kennzeichenschauen, ihm reichte ein kleiner, bunter Aufkleber an der hinteren Seitenscheibe, um Gewissheit zu haben.
Obwohl er wusste, dass der Wagen leer war, riss er die einen Spalt weit geöffnete hintere Tür ganz auf und spürte wie ein leichter Gegenstand auf seine Stiefel fiel. Er hob ihn auf und schloss seine rechte Hand um einen Stoffhasen mit langen Ohren. „Hasi?“, flüsterte er.