Der unheimliche Mönch

  • Semir war inzwischen nach einem kurzen Abstecher nach Hause, um Ben´s Hausschlüssel zu holen, am Gutshof angekommen. Das Haus sah von außen völlig normal aus und so läutete Semir erst einmal, bevor er die Tür aufschloss. Auch stand Ben´s Dienstmercedes im gekiesten Hof, also war er schon mal nicht mit dem unterwegs. Als er in den Hausflur trat, rief er laut: „Sarah? Ben? Tim? Lucky? Wo steckt ihr?“ Aber keine Antwort ertönte. So durchsuchte Semir systematisch die Räume und sah auch im Schlafzimmer Sarah´s gepackte Kliniktasche noch stehen-sie waren auf jeden Fall nicht zur Entbindung gefahren. Auch das Bett war gemacht-es sah nicht so aus, als wenn heute Nacht jemand darin geschlafen hätte.
    Als er in den Räumen nichts Ungewöhnliches entdecken konnte, wollte er gerade in der Remise nachsehen, ob die Familienkutsche da war, da läutete das Telefon und nach einem Blick auf das Display ging Semir ran. Da stand nämlich, dass es Hildegard war, die anrief, vielleicht hatte die eine Ahnung davon, wo Ben und seine Familie abgeblieben waren. Bevor er noch einen Pieps sagen konnte, sprudelte es aus dem Hörer: „Na Gott sei Dank-ich habe mir schon begonnen Sorgen zu machen, weil ihr euch nicht gemeldet habt!“ rief Hildegard am anderen Ende, aber ihre Stimme wurde gleich wieder weniger euphorisch, als Semir sich zu erkennen gab und der Frau mitteilte, dass er gerade nach Sarah und Ben suchte. „Sarah hat mir gestern Nachmittag Tim und Lucky vorbei gebracht, die auch bei mir übernachtet haben, damit Sarah und Ben in die Klinik zur Kreisssaalbesichtigung mit Geburtsfilm gehen konnten-außerdem muss sich Tim ja dran gewöhnen, ein paar Tage bei mir zu bleiben, wenn das neue Baby geboren wird, drum haben wir das so ausgemacht.
    Jetzt habe ich begonnen mir Sorgen zu machen, weil Sarah Tim eigentlich gleich am Morgen abholen wollte, da sie heute um zehn mit ihm noch einen Kinderarzttermin zur Vorsorgeuntersuchung hatte, wie sie mir mitgeteilt hat. Lucky wollte sie danach mitnehmen und wir hatten eigentlich vor, dann noch gemütlich etwas essen zu gehen, aber jetzt ist es schon nach elf, ohne dass ich etwas von ihr gehört habe und das ist absolut unüblich-Sarah ist normalerweise sehr zuverlässig!“ berichtete sie und hängte dann noch an: „Ich dachte mir, dass vielleicht die Geburt heute Nacht losgegangen ist und sie einfach noch nicht dazu gekommen sind, mir Bescheid zu geben!“ aber das musste Semir verneinen-da hätten sie die Kliniktasche wohl mitgenommen. „Ich suche gerade nach den beiden und sage ihnen Bescheid, sobald ich etwas weiss!“ versprach er Hildegard und die wünschte ihm sorgenvoll viel Glück bei der Suche.


    Nun ging Semir in die Remise und sah auf den ersten Blick, dass das Familienauto, der BMW-Kombi, fehlte. Nun nahm seine Unruhe immer mehr zu. Ben war ein routinierter Fahrer, aber was wäre, wenn die beiden auf dem Weg zur Uniklinik oder zurück verunglückt waren? Wie oft hatte man schon von Fällen gehört, wo ein Wagen unbemerkt tagelang in einem Gebüsch, einem Gewässer oder einem Steinbruch lag? Allerdings wäre es dann schon merkwürdig, dass alle beiden Handys ausgeschaltet worden wären-und das hätten sie ja schon zuhause machen müssen, was überhaupt nicht Ben´s und Sarah´s Art war, die eigentlich beide mit ihren Mobiltelefonen regelrecht verheiratet waren, etwas was Semir fremd war, der das Ding zwar nutzte, aber manchmal froh war, es ausschalten zu können und seine Ruhe zu haben. Er nutzte vielleicht 10% der Möglichkeiten, während Ben ständig mit dem Teil herumspielte und auch immer das neueste Modell haben musste. Fakt war aber, dass sich beide Handys hier auf dem Grundstück am Vorabend das letzte Mal eingewählt hatten und seine Freunde seitdem spurlos verschwunden waren.


    Semir rief in der PASt an und schilderte, was er vorgefunden hatte. „Susanne-bitte checke auf allen möglichen Wegen zwischen hier und der Uniklinik, ob da ein Unfall-vielleicht mit bewusstlosen Personen gemeldet wurde!“ bat er, aber eigentlich war ihm klar, dass da keine Meldung vorliegen konnte, denn die beiden hatten ja immer Papiere bei sich, der Wagen war auch regulär zugelassen-sowas hätten sie schon lange erfahren. „Ach ja Susanne-und vielleicht könntest du herausfinden, ob die beiden gestern bei der Kreisssaalbesichtigung waren, dann können wir eingrenzen, ob sie auf dem Hin-oder dem Rückweg verschwunden sind!“ bat er dann, aber noch während er sich auf dem Grundstück umschaute, kam Susanne´s Rückruf, dass sie dort nicht erschienen waren, sie hatte gerade mit der Hebamme gesprochen, die das Event gestern geleitet hatte und der Sarah und ihr Mann durchaus bekannt waren.


    Verdammt-wo konnten die beiden und ihr Wagen nur stecken? Nachdem sie sicher nicht freiwillig verschwunden waren und Tim bei Hildegard zurück gelassen hätten, deutete alles auf einen Unglücksfall, oder eine Entführung hin-aber wer hatte das gemacht und warum-und wo steckten die beiden? Kurz entschlossen rief Semir Konrad an, denn wenn irgendeine Lösegeldforderung einging, dann würde die an Konrad gehen, so viel war klar, aber auch der fiel aus allen Wolken, als er erfuhr, dass sein Sohn und seine hochschwangere Schwiegertochter verschwunden waren.
    Semir war regelrecht verzweifelt-vielleicht konnten sie Lucky mal schnüffeln lassen-der würde seine Familie vielleicht aufstöbern und so rief er Hildegard an, die versprach mit dem Familienhund so bald wie möglich hier herzukommen. „Allerdings dauert es jetzt noch ein Weilchen-Tim hat noch nichts gegessen und wenn der hungrig ist, kann ich mit dem nicht losfahren. Ich werde dem jetzt ein Kindermenü warm machen, ihn essen lassen und danach fahren wir -er wird seinen Mittagsschlaf dann vermutlich im Auto machen. Hoffentlich weint er nicht, wenn er nach Hause kommt und die Mama nicht da ist!“ sagte Hildegard, aber das konnte man jetzt nicht ändern.


    Semir sah auf seinen Zettel, den er von Susanne bekommen hatte. Vielleicht würde er noch kurz eine Adresse zuvor abklappern können, wo so ein weißer Mercedes gemeldet war-irgendwie hatte er das Gefühl, dass Ben´s Verschwinden mit dem Fall zusammenhängen könnte und nach kurzer Überlegung rief er dann Hartmut an. Er wollte sich im Anschluss nicht alleine in dem Wäldchen umsehen, in dem es angeblich spukte, wofür es aber sicher eine naturwissenschaftliche Erklärung gab. Und wenn es um Naturwissenschaften ging, dann war Hartmut der richtige Ansprechpartner! Der Rotschopf versprach, sich mit einigen Messgeräten auf den Weg zu machen und so brach Semir kurze Zeit später zu der Adresse auf, wo ein weißer Mercedes gemeldet war-das war in dem Ort wo er erst mit Ben gewesen war-dort lag das Anwesen von Peter Fitz, der verschwundenen Leiche!


    Ben hatte seiner Sarah im Licht der Kerzen ein Frühstück gemacht. Auf dem Regal standen Kekse und Dosen, ein paar süße Limonaden waren in den Kästen und Wasser in ausreichender Menge-also verhungern und verdursten würden sie nicht so schnell! Sarah trank viel, wegen der Milchproduktion und zwang sich auch, etwas zu essen, obwohl ihr ein wenig schummrig war und sie sich schwach fühlte. Auch Ben war nicht entgangen, dass es seiner Frau nicht so gut ging, wie nach der letzten Entbindung, wo sie wenige Stunden später ein fürstliches Frühstück eingenommen hatte und unter die Dusche gesaust war. Die kleine Mia-Sophie begann zu quäken und während Sarah aß, trug Ben seine kleine Tochter unendlich vorsichtig ein wenig herum, schaukelte sie und drückte sie an sich. Wie klein sie war, aber sie war einfach perfekt. Was für ein Unterschied zu Tim, der immer schon ein kräftiges Baby und jetzt auch ein aktiver, pausbäckiger kleiner Zweijähriger war. „Wie schwer wird sie wohl sein?“ fragte er Sarah und die sagte nach kurzer Überlegung. „Ich denke nicht viel mehr als 2500 g!“ und das konnte hinkommen. „Sind wir froh, dass sie nicht so groß ist, sonst hättest du sie vermutlich nicht herausgebracht und dann wären wir beide jetzt tot!“ sagte Sarah und Ben überlief ein Schauer des Entsetzens. Als Sarah nun aber wieder zum Eimer ging und Ben sich höflich abwandte, sagte sie, nachdem sie sich danach mit Mineralwasser die Hände gereinigt und sich auch sonst ein wenig gewaschen hatte. „Ben-es blutet viel mehr als normal-ich glaube wir müssen schauen, dass wir hier bald rauskommen-ich werde nicht mehr lange Milch haben, wenn das so weiter geht!“ und Ben sah seine Frau nun völlig panisch an, aber dann geleitete er sie wieder zu ihrem Lager, gab ihr seine Tochter, die inzwischen in seinem Arm eingeschlafen war und begann dann systematisch ihr Gefängnis nach etwas zu durchsuchen, womit er das Schloss aufbrechen konnte-jetzt würde er aktiv werden und gnade Gott ihren Entführern-er und Semir, der sicher schon nach ihnen suchte, würden die fertig machen!

  • Semir fuhr zu der angegebenen Adresse und war überrascht, als das Navi ihn in den Hof des gesprächigen Bauern, des direkten Anliegers von Peter Fitz leitete. Die Hofeinfahrt lag allerdings in einer anderen Straße und so hatte er die Adresse nicht erkannt. Der alte Bauer rauchte ein Pfeifchen und kam sofort neugierig näher, als er das Polizeifahrzeug und den kleinen türkischen Polizisten erkannte. „Was wollen sie denn diesmal wissen-oder haben sie etwa Neuigkeiten wegen unserem verstorbenen Nachbarn?“ zwinkerte er, aber diesmal ließ Semir, der schon wieder einen Blick auf seine Uhr hatte, sich auf keinen längeren Plausch ein-es würde schließlich nicht mehr allzu lange dauern, bis Hildegard mit Tim und Lucky eintraf. „Ich hätte nur eine kurze Frage: Auf sie ist ein weißer Mercedes 190 Diesel zugelassen, dürfte ich den mal sehen?“ fragte Semir und der Bauer schüttelte den Kopf. „Das geht gerade leider nicht, denn mein Enkelsohn ist im Augenblick mit Frieda, meiner Frau auf Einkaufstour im Nachbarort.“ gab er Bescheid und Semir nickte zunächst und wollte gerade wieder ins Auto steigen, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu kommen, da fiel sein Blick plötzlich zu einer weghängenden Latte des zur Garage umfunktionierten Holzschuppens des Nachbargrundstücks. Er war sich sicher, dass die Garage leer gewesen war, als er sich das letzte Mal mit Ben dort umgesehen hatte und das Tor hatte definitiv offen gestanden, aber jetzt schimmerte da der Lack eines dunkel-metallicgrauen Fahrzeugs durch und zog Semir magisch an.


    Mit einem kurzen Gruß schwang er sich ohne weitere Erklärung in sein Dienstfahrzeug, kurvte um die Ecke, erstaunt betrachtet von dem alten knorrigen Mann und parkte seinen Wagen wenig später im Hof des Nachbaranwesens. Mit zwei Schritten war er am Garagentor, das zwar geschlossen, aber nicht versperrt war und öffnete es. Und da stand er-der Wagen von Ben und Sarah! Voller Bangen trat er näher und spähte ins Innere, aber das war leer, soweit er erkennen konnte, nur Sarah´s Handtasche befand sich im Fußraum der Beifahrerseite und daneben das Handy, aus dem der Akku entfernt war und daneben lag. Mit zitternden Händen schlüpfte Semir in Einmalhandschuhe, von denen er immer ein paar in der Tasche trug und öffnete die Heckklappe, denn durch die getönten Scheiben hatte er nicht erkennen können, was sich im Fond befand. Dann seufzte er erleichtert auf, denn außer Lucky´s Transportbox und einem leeren Kindersitz war auch dort niemand zu finden. Der Schlüssel steckte und nun zog Semir seine Handschuhe wieder aus und verständigte sofort die Zentrale:


    „An alle Einheiten-ich möchte sofort jeden verfügbaren Mann und natürlich die Spurensicherung inclusive Hartmut, der ja sowieso schon auf dem Weg in diese Richtung ist, auf dem Hof von Peter Fitz haben. Ich habe Ben´s Auto gefunden, aber von ihm und seiner Frau fehlt weiterhin jede Spur!“ meldete er und es dauerte nicht lange, da fuhren die ersten Polizeifahrzeuge und Hartmut in den Hof. Semir hatte inzwischen das Polizeisiegel erbrochen und sich grob im Haus und den Nebengebäuden umgesehen. Er hatte auch laut: „Ben? Sarah?“ gerufen und dann angestrengt gelauscht, falls die dort irgendwo gefangen gehalten würden und sich vielleicht bemerkbar machen konnten, aber alles war still geblieben. Vor jeder Tür, die er öffnete, hatte er einen Kloß im Hals und war voller Angst vor dem, was er vielleicht finden würde, aber er konnte niemanden entdecken-tot oder lebendig. Sein Bauchgefühl sagte ihm sowieso, dass Ben noch lebte, aber gerade signalisierten ihm auch alle Sinne, dass er in höchster Gefahr schwebte. Hoffentlich fanden sie bald einen Hinweis, denn sonst würde er noch durchdrehen.


    Nun fiel ihm Hildegard ein und mit einem Fluch und einem kurzen Gruß an seine Kollegen sprang er in seinen Wagen. Er wusste nicht, ob die ein Handy oder einen Hausschlüssel für das Gutshaus hatte. Sie wartete inzwischen sicher schon eine Weile auf ihn und wunderte sich und so bog er kurze Zeit später mit quietschenden Reifen, dass der gepflegte Kies nur so aufstob, in Ben´s Hofeinfahrt ein, wo tatsächlich schon ein VW- Caddy stand. Lucky und Frederik, sein Freund, der Golden Retriever Hildegard´s kamen schwanzwedelnd auf ihn zu-sie hatten bereits gemeinsam ein wenig herum geschnüffelt, während Tim gerade noch tief und fest im Kindersitz im Fond schlief. Semir begrüßte Tim´s zuverlässige Kinderfrau und erklärte ihr gleich: „Wir haben das Auto von Sarah und Ben im Nachbarort gefunden, aber von den beiden fehlt jede Spur!“ teilte er ihr mit und Hildegard schlug erschrocken die Hände vor den Mund.
    Inzwischen war Tim erwacht und hatte sofort zu weinen begonnen. Wenn er aufwachte war er oftmals noch ein wenig knatschig und als Hildegard ihn abschnallte und aus dem Wagen holte, erkannte er, wo er war und begann immer wieder kläglich „Mama, Mama!“ zu rufen, was Semir in der Seele weh tat. Hildegard gelang es allerdings ihn zu beruhigen und als sie merkte, dass er dringend eine frische Windel brauchte, denn das mit dem Sauberwerden hatte er bisher strengstens vermieden, bat sie Semir, ihr doch das Haus aufzusperren. „Sarah und Ben wollten mir zwar schon einen Schlüssel nachmachen lassen, aber irgendwie sind wir da noch nicht dazu gekommen!“ sagte sie entschuldigend und trug dann Tim, der nun seinen Kopf an sie drückte und die Ärmchen um sie geschlungen hatte, ins Bad, wo eine Wickelkommode stand. Als sie die oberste Schublade öffnete, versetzte es ihr einen Stich, denn neben Tim´s Kleinkinderwindeln war ein ganzer Stapel Neugeborenenwindeln einsortiert. Wo um Himmels Willen steckten Sarah und Ben nur?


    Semir hatte inzwischen Lucky in die immer noch offen stehende Remise gelockt und er und sein Hundefreund wedelten jetzt erwartungsvoll mit den Schwänzen und sahen ihn an. „Lucky-such das Herrchen!“ befahl Semir und deutete auf den Platz, wo das Auto normalerweise stand. Lucky begann auch intensiv herumzuschnüffeln, er war zwar kein ausgebildeter Suchhund, aber das Kommando „Such!“ hatte er in der Hundeschule gelernt und da schon öfter einen mit Leckereien gefüllten Dummi gefunden, dessen Inhalt er dann genüsslich verspeisen durfte. Lucky folgte auch einer Spur und verschwand hinter dem Haufen Gerümpel in der Ecke, wo er aufgeregt zu bellen begann. Semir wollte gerade erfreut näher treten, um zu sehen, was Lucky gefunden hatte, da schoss auf einmal eine fauchende Katze heraus und rannte über den Hof davon und Lucky und Frederik hinterher, bis die sich über die Gartenmauer in Sicherheit gebracht hatte. „Ach Lucky-du sollst doch keine Katzen jagen, sondern Herrchen finden!“ seufzte Semir auf und überlegte, was er als Nächstes machen sollte.


    Lars hatte inzwischen seine Überlegungen und Internetrecherchen weiter fortgeführt. Gegen die Idee mit dem Wasser sprach, dass das alte Gemäuer noch nie –auch nicht nach starken Regenfällen überschwemmt gewesen war. Anscheinend waren dort so raffinierte Entwässerungskanäle angebracht, dass es schier unmöglich sein würde, die Gefangenen zu ersäufen. Außerdem bräuchte er dazu vermutlich Wasser aus einem Hydranten, denn das kleine Bächlein, das durch das Wäldchen floss, führte nur geringe Wassermassen, also konnte er das mit dem Wasser wohl vergessen.
    Die Sache mit dem Gas gefiel ihm immer besser, denn ihm war eingefallen, dass es auf dem Anwesen seines Großvaters, das ebenfalls im Dorf war, noch einige inzwischen verbotene giftige Maulwurfpatronen gab und zwei Gasmasken hingen da auch noch herum, mit denen er und Felix früher öfter gespielt hatten. Als er die heutigen frei verkäuflichen Maulwurfgaspatronen googelte, stellte er fest, dass die nur noch ekelhaft rochen und so die geschützten Maulwürfe vertrieben, aber ihnen nicht schadeten. Er hoffte jetzt nur, dass sein Opa, der inzwischen auch ziemlich dement war, die richtig giftigen noch nicht entsorgt hatte, aber als er kurz darauf mit seinem Wagen in dessen Hof fuhr und die benötigten Dinge aus dem Stadel holte und im Kofferraum seines Autos verstaute, kam ihm entgegen, dass alte Leute einfach nichts wegwerfen konnten. Sein Opa kam, schwer auf seinen Stock gestützt, um die Ecke geschlurft und sagte erfreut: „Lars-schön, dass du mich besuchen kommst!“ aber Lars sprang sofort wieder ins Auto und rief, während er schon davon fuhr: „Ich muss an die Uni, tschüß Opa!“ und der alte Mann sah ihm enttäuscht nach.
    Lars stellte seinen Wagen in der Lichtung, die er dazu immer nutzte, ab. Man konnte so das grüne Auto nicht auf den ersten Blick sehen und bis zum Zugang zu ihren Gewölben war es nicht allzu weit. Bewaffnet mit den zwei Gasmasken und mindestens zwanzig giftiger Maulwurfpatronen stieg er in die Tiefe und machte das Licht an. Mit der Vergasung ihrer Opfer wollte er noch warten bis Felix da war-der sollte sich nur ebenfalls die Finger schmutzig machen, dann konnte er ihn im Anschluss besser unter Kontrolle behalten! Aber eine weitere Vorsichtsmaßnahme war ihm jetzt auch noch eingefallen und mit diabolischem Grinsen begann er kurz darauf ein Kabel zu verlegen.

  • Ben hatte inzwischen in ihrem Gefängnis zunächst vergeblich nach etwas gesucht, womit er die Türe aufbrechen konnte und nach einer Weile dieses Vorhaben auch wieder verworfen. Zu stabil war die Holztür und die sah aus, als hätte sie schon mehrere hundert Jahre überstanden-warum sollte sie ausgerechnet dann nachgeben, wenn er dagegen donnerte und Brecheisen war hier leider auch keines. Seine Schulter tat ihm sowieso schon weh, seit er versucht hatte, die Geheimtür in ihrer Remise auf zu brechen, aber das war nichts gegen die Sorgen, die er sich um Sarah und seine Kleine machte. „Hast du auch Schmerzen?“ hatte er sie gefragt, aber seine Frau hatte den Kopf geschüttelt. „Nur die normalen Nachwehen, gerade wenn Mia-Sophie saugt, aber es kommt einfach mehr Blut als normal und ich fühle mich schwach!“ antwortete sie wahrheitsgemäß-schönreden half ja jetzt auch nichts!
    Dann besah er sich das Türschloss. Es war ein ganz normales Schloss und als er durchsah, steckte auch von draußen kein Schlüssel. Suchend ließ er seinen Blick nochmals durch ihr Kellerverließ schweifen und dann inspizierte er die durchweichte Matratze, auf der Sarah ihr Baby zur Welt gebracht hatte. Nach kurzer Prüfung stellte er fest, dass es sich um eine Federkernmatratze handelte und mit demselben scharfkantigen Stein, mit dem er seine Tochter abgenabelt hatte, schnitt er jetzt die Füllung auf und tatsächlich-darin waren stabile metallene Sprungfedern. Er zerrte und riss, schnitt sich wohl auch die Finger ein wenig auf, aber dann hatte er eine Art Behelfsdietrich gebastelt, mit dem er dann in mühevoller Kleinarbeit-Sarah hielt ihm manchmal die Kerze näher-begann, am Türschloss herum zu manipulieren. Nach gefühlten Stunden rührte sich auf einmal etwas und die Tür, die unten einen etwa 5cm großen Spalt hatte, schwang auf.


    Vorsichtig trat er in den Gang hinaus und spähte um die Ecke. Auf der einen Seite war die Leiche in der Nische, etwa 20m von ihnen entfernt, auf der anderen Seite kam nach ein paar Schritten ein massives Metallgitter, das einen großen Kellerraum abtrennte, in welchem viele Computer, Drucker und eine Foliermaschine standen. Aha-hier wurden also die Raubkopien hergestellt und verpackt! Sehen konnte Ben nur etwas, weil er die Kerze mitgenommen hatte. Das Handy in seiner Tasche hob er für den Notfall auf und eben für den kurzen Kontrollblick in den Gewölbekeller. Ben besah sich das Gitter, aber er konnte nicht herausfinden, wie sich das öffnen ließ. Er fasste mit beiden Händen daran und rüttelte, aber es bewegte sich kein bisschen. Vielleicht gab es doch einen ganz anderen Weg hier heraus-er hätte ja auch nie vermutet, dass sich in seiner Remise eine Geheimtür befand!
    Anscheinend war von ihren Entführern gerade keiner in der Nähe und nachdem es auf dieser Seite keinen Ausweg gab-zumindest keinen ersichtlichen, machte sich Ben nun unterirdisch auf den Weg zu seinem Haus. Sarah und die Kleine sperrte er inzwischen zur Sicherheit wieder ein, nachdem er ihr das erklärt hatte und nahm den Schlüssel, der einfach an einem Haken neben der Tür gehangen hatte, derweil an sich. Sollten die Mönche zurück kommen, wussten sie schließlich nicht, dass er nicht mehr in dem Raum war und vielleicht würden sie sich gegenseitig beschuldigen, den Schlüssel woanders hingetan zu haben. Auf jeden Fall wäre seine Familie fürs Erste sicher und er hoffte jetzt, so schnell wie möglich Hilfe holen zu können. „Sarah-ich gehe jetzt los-ich liebe dich!“ rief er und sie antwortete mit besorgter Stimme: „Ich dich auch-pass auf dich auf mein Schatz!“ und schon schritt er zügig voran.


    Als er die verwesende Leiche passierte, hielt er einen Moment die Luft an, aber dann ging er einfach weiter. Erstens hatte er eine Kerze und auch noch eine Ersatzkerze und ein Feuerzeug dabei, so dass er die ganze Zeit etwas sehen konnte und zweitens wusste er ja jetzt, dass da kein Absturz drohte-immerhin hatten sie den Weg ja gestern schon passiert. Die ganze Zeit hielt er die Augen offen, ob da nicht ein Ausstieg, eine Tür oder ein weiterer Gang kamen, aber er konnte nichts entdecken, außer einigen Lüftungskanälen. Dann stieg der Weg leicht an, er wusste, jetzt war er schon direkt bei seinem Haus. Dann stand er in dem Hohlraum, der ihm und Sarah gestern zum Verhängnis geworden war und musterte erneut-wie schon am Vortag die Türe, die von innen freilich als solche zu erkennen war, die aber leider kein Schloss aufwies. Wieder warf er sich dagegen und versuchte vergeblich eine Möglichkeit zum öffnen zu finden, aber er hatte keinen Erfolg. Er betastete die Wände außen herum, versuchte verzweifelt einen Mechanismus zu entdecken, der die Türe entriegelte, aber er blieb ohne Erfolg. Plötzlich hörte er, wie entfernt Hildegards Stimme nach Lucky und Frederik rief.
    Verzweifelt brüllte er: „Hier bin ich-hallo-hört mich denn keiner?“ aber nichts war zu vernehmen. Wieder schrie er und dann hörte er zwar gedämpft, aber ganz nahe plötzlich Tim´s Stimme, die fragend: „Papa?“ sagte und ganz aufgeregt versuchte er seinen Sohn dazu zu bringen, Hildegard oder irgendjemand anderen näher zu holen, aber als Hildegard nun ziemlich entfernt lockend rief: „Komm Tim-was willst du denn in der Remise? Wir fahren jetzt wieder zu mir nach Hause und da kriegst du ein Eis!“ entfernten sich die kleinen tapsenden Schritte, wenig später wurde eine Autotür geschlossen, dann noch eine und dann startete der Motor, das Fahrzeug fuhr vom Hof und es war alles ruhig. Ben lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, die Tränen schossen in seine Augen und langsam glitt er daran herunter. Die Rettung war so nah gewesen, aber jetzt war alles ruhig und so rief er zwar noch ein paarmal, aber dann machte er sich wieder schweren Herzens auf den Rückweg.

  • Semir hatte sich nochmals kurz ins Auto gesetzt, um zum Anwesen von Fitz zu fahren. Hartmut sollte jetzt mit ihm kommen-sie würden gemeinsam das Wäldchen untersuchen und dann vielleicht nochmals zum Haus zurück kehren-vier Augen sahen mehr als zwei!
    Hildegard hatte Tim inzwischen gewickelt, packte noch ein paar Sachen für ihn ein, denn sie wusste ja nicht, wie lange dessen Aufenthalt bei ihr dauern würde und Semir ihre Handynummer gegeben. Sie gingen gemeinsam aus dem Haus, zuerst fuhr Semir, nachdem er abgeschlossen hatte und dann packte Hildegard zunächst die Hunde ins Auto und rief dann Tim, der wie ein Blitz in der Remise verschwunden war, deren Tor ja immer noch offen stand. Ja so einen Zweijährigen zu beaufsichtigen war wie einen Sack Flöhe hüten-sie waren schon sehr mobil, begannen auch immer besser zu sprechen, aber andererseits kannten sie noch keine Gefahr. Sie wollte soeben losspurten, um ihn zu holen, aber dann lockte sie ihn mit einem Eis und wie erwartet kam das kleine Leckermäulchen sofort angelaufen, setzte sich brav in seinen Kindersitz und ließ sich anschnallen.
    Als sie losfuhren, sagte er „Papa da!“ und zeigte entschlossen auf die Remise, aber momentan gab Hildegard nichts darauf. Tim plapperte weiter vor sich hin, sprach mit einem imaginären Spielfreund, aber auch der Papa kam immer wieder in dem vor, was er da von sich gab. Hildegard überlegt kurz, fuhr dann an den Straßenrand und rief Semir´s Nummer an. Als der sich meldete, sagte sie zu ihm: „Herr Gerkhan, vielleicht klingt das jetzt blöd, aber bevor ich losgefahren bin, ist Tim in die Remise gelaufen und hat danach voller Überzeugung gesagt: „Papa da!“-sie haben sich da schon gründlich umgesehen?“ fragte sie voller Bangen, denn inzwischen hatte sie schon Horrorvisionen, dass Ben da irgendwo tot in der Ecke lag, denn ansonsten hätte er sich doch bemerkbar gemacht und sein unbedarfter Zweijähriger, der noch keine Ahnung davon hatte, was tot sein hieß, hätte ihn gefunden und versuchte das jetzt mitzuteilen. Semir stutzte kurz-klar waren die Aussagen Zweijähriger nicht sehr verlässlich, aber trotzdem würde er sich dort nun gemeinsam mit Hartmut nochmals gründlich umsehen und das teilte er Hildegard auch mit, die dann ihr Handy weglegte und weiter fuhr. Egal was die Polizisten jetzt fanden-fürs Erste wer Tim auf jeden Fall bei ihr gut aufgehoben und sie hatte alle Informationen die sie hatte, weitergegeben, jetzt mussten sich die Profis darum kümmern und Tim´s Eltern auffinden.


    Als Semir in den Hof des verfallenen Anwesens bog, waren nach einer ergebnislosen Durchsuchung viele Menschen geschäftig dabei Spuren zu sichern und inzwischen war auch ein Autotransporter eingetroffen, mit dem man Ben´s Fahrzeug in die KTU zur eingehenden Untersuchung bringen würde. „Hartmut-ich brauche dich jetzt-gerade hat mich die Kinderfrau der Jägers angerufen, Tim würde immer vom Papa erzählen und er wäre auch kurz zuvor in der Remise gewesen. Ich hatte eigentlich gedacht, ich hätte mich da gründlich umgesehen, aber jetzt wäre mir doch wohler, wenn du da auch noch einen Blick hinein werfen würdest!“ bat er den rothaarigen Techniker und der nickte, schälte sich aus seinem weißen Ganzkörperanzug und stieg zu Semir ins Auto.


    In diesem Moment fiel Semir´s Blick zufällig in den Hof des Nachbaranwesens und jetzt stockte ihm beinahe der Atem. Da stand jetzt ein alter weißer Mercedes Diesel und auf der Ablage befanden sich eine umhäkelte Klorolle und ein Hut. Mit einem Fluch raste Semir mit quietschenden Reifen um die Ecke so dass Hartmut sich verzweifelt am Haltegriff festklammerte und der alte Bauer, der nach dem Mittagessen, das seine Frau und Felix in Form eines Grillhähnchens mitgebracht hatten, jetzt noch kurz über die Felder fahren wollte, um zu sehen, wie das Wintergetreide stand, blieb in der bereits geöffneten Autotüre stehen, als der silberne BMW um die Ecke schoss. „Herr Gerkhan-womit kann ich ihnen dienen?“ fragte er erstaunt und Semir war im selben Moment bewusst, dass der alte Mann fast mit Sicherheit keine Ahnung davon hatte, zu was man seinen Wagen zweckentfremdet hatte. „Wo ist ihr Enkel?“ fragte Semir scharf, der die Zusammenhänge immer besser begriff: „Der ist vorhin mit dem Fahrrad weggefahren, er wollte nicht einmal mit uns zu Mittag essen!“ antwortete der Bauer verblüfft und deutete unbestimmt in die Richtung zum Nachbarort, wo Semir gerade her kam. „War das, nachdem er bemerkt hatte, dass wir das Auto in der Garage gefunden haben?“ fragte Semir scharf und der Bauer nickte betreten. „Felix ist ein lieber Junge!“ verteidigte er seinen Enkel, aber Semir war schon aus dem Hof gerast und nahm die Verfolgung auf.
    Allerdings war weit und breit kein Radfahrer zu entdecken, anscheinend war dessen Flucht doch schon eine Weile her und Semir ließ sich nun von Susanne das Passfoto von Felix Hintersteiner schicken und das glich exakt der Beschreibung, die die Ladenbesitzer abgegeben hatten. Felix hatte die illegalen Raubkopien bei den Händlern abgeholt, er war bisher polizeilich noch nicht aufgefallen-aber wo steckte er jetzt und wo war sein Komplize mit den feingliedrigen Händen?



    Nach kurzer Überlegung fuhren sie nun doch zunächst zu Ben´s Anwesen, stürmten in die Remise und sahen sich dort nochmals um, allerdings ohne Ben oder etwas anderes Auffälliges zu finden. Semir sperrte mit zitternden Fingern das Haus auf, er fühlte, gerade geschah etwas Schreckliches mit seinem Freund, aber verdammt, wo war der? Sie durchsuchten gemeinsam das Haus und plötzlich blieb Hartmut in dem verwinkelten Zwischengang, der zur Remise führte und wo der Zählerkasten stand, stehen. „Verdammt noch mal-wer verbraucht denn hier gerade so wahnsinnig viel Strom?“ wunderte er sich, denn das Rädchen, das den Verbrauch anzeigte, drehte sich rasend schnell, bis es plötzlich beinahe still stand. Hier war gerade der Energiedieb am Werke gewesen, um den er sich kümmern sollte, da war sich Hartmut ziemlich sicher, aber wo steckte der und hatte das Verschwinden ihrer Freunde vielleicht genau mit dem zu tun?


    Ben war inzwischen wieder zurück bei Frau und Kind. „Sarah, stell dir vor-Tim war ganz in der Nähe der Geheimtür in der Remise, ich habe auch Hildegards Stimme gehört, ich wollte ihn dazu bringen, Hilfe zu holen, aber er hat nicht verstanden, was ich ihm mitteilen wollte!“ erzählte er ein wenig mutlos. „Immerhin suchen sie anscheinend schon nach uns-vielleicht kommt ja bald Hilfe!“ versuchte Sarah ihm und auch sich selber Mut zu machen, als plötzlich das Licht wieder anging und sie aus dem großen Raum Geräusche hörten. Ben hatte die Tür hinter sich ein Stück weit zugezogen, aber sowohl durch den Spalt am Boden als auch durch die Türritze konnten sie hören, was gesprochen wurde und der Polizist überlegte verzweifelt, was er nun machen sollte. Man konnte vom Gewölbekeller her durch die Verwinkelung nicht sehen, dass die Tür ein wenig offen stand, aber wenn er jetzt hinaus stürmte, verriet er ihren Entführern, dass er frei war und verspielte somit den Überraschungseffekt. Nachdem er ja nicht wusste, wie man das Eisengitter öffnete, waren sie dann genauso weit wie vorher und so legte er seinen Zeigefinger auf den Mund und signalisierte Sarah dadurch, leise zu sein und die nickte. Mia-Sophie lag friedlich schlummernd, warm eingepackt auf ihrem Lager und Sarah hatte sich ein wenig hingesetzt und sich gezwungen viel zu trinken, um den Blut-und Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Bisher hatte sie noch Milch und ihrem Baby ging es gut-sie wusste nur nicht, wie lange das so bleiben würde.
    Einige scharrende Geräusche waren zu hören gewesen und dann hörte man plötzlich schnelle Schritte und ein aufgeregter junger Mann rief panisch: „Lars-stell dir vor, die haben das Auto der Jägers gefunden! Gerade als ich mit meiner Oma vom Einkaufen gekommen bin, waren da eine Menge Polizisten auf Peter´s Anwesen!“ rief er, aber Lars beruhigte seinen Freund. „Na und-deswegen führt doch keine Spur zu uns und schon gar nicht in unser Versteck. Wir erledigen jetzt unsere Gefangenen, dann gibt es keine Zeugen und daraufhin warten wir hier unten in aller Ruhe ab, bis sich die Lage beruhigt hat-vielleicht bringen wir zuvor noch den Wagen weg, aber das weiss ich noch nicht. Ich habe auch schon alles mitgebracht, was wir dafür brauchen, um das Pack auszuräuchern!“ sagte er und hielt Felix die eine Gasmaske hin, die zweite hatte er schon um den Hals hängen. „Was hast du vor?“ fragte Felix verwundert und griff langsam nach der Gasmaske. „Wir werden die jetzt mit den alten giftigen Maulwurfspatronen, die mein Opa noch aus Zeiten, als die Viecher noch nicht unter Naturschutz standen, aufgehoben hat, vergasen. Wenn wir die in den Gang und unter der Tür durch werfen, werden sie sterben, wie früher die Juden in der Gaskammer!“ erklärte er und Sarah´s und Ben´s Augen hatten sich geweitet, als sie hörten, was ihr Los sein sollte. Verdammt-jetzt musste er etwas unternehmen und vielleicht konnte Ben an das Mitgefühl und die Menschlichkeit des zweiten Mönchs appellieren, dessen Stimme klang nämlich jung und ängstlich, während der Wortführer, der anscheinend der Anführer war, völlig skrupellos schien.


    So stieß er verzweifelt die Tür weit auf, trat an das Gitter, wo wenige Meter von ihm entfernt zwei junge Männer in Mönchskutten standen und beide eine Gasmaske in den Händen hielten. Der eine der beiden hatte neben sich eine Schachtel mit Patronen, die ein wenig aussahen, wie die Rauchgaspatronen, die sie bei der Polizei oft einsetzten. „Ich bitte euch verschont doch meine Frau und meine neugeborene Tochter-wir werden niemandem von euch und euren Geschäften erzählen, wenn ihr uns freilasst und ich stelle mich auch als Geisel zur Verfügung, wenn ihr das möchtet. Wenn es um Geld geht-ich bin reich und kann euch sicher finanziell gut stellen, wenn ihr uns nur verschont!“ bat er und trat wie vorhin, als er den Gewölbekeller gemustert hatte, an das Gitter und umfasste es mit beiden Händen, als er plötzlich einen gurgelnden Schrei ausstieß, seine Haare zu Berge standen und seine Hände sich um das Eisen verkrampften, als der Strom durch seinen Körper floss.

  • Sarah kam voller Entsetzen aus dem Kellerraum, als sie Ben´s Schrei hörte, der in ein unmenschliches Geräusch überging, als er weiter an dem Gitter hing und der Strom unter entsetzlichen Schmerzen durch ihn hindurch floss-bei der einen Hand hinein und bei der anderen hinaus. Durch die Muskelkontraktionen, die er nicht beeinflussen konnte, war es ihm unmöglich das Gitter loszulassen, sein ganzer Körper verkrampfte sich, aber er konnte nicht mehr willentlich auch nur den kleinen Finger rühren. Seine Augen traten beinahe aus den Höhlen und entsetzt starrte Felix auf das schreckliche Schauspiel, während Sarah voller Panik zu schreien begann. „Bitte-macht den Strom aus-er stirbt!“ flehte sie und nun begann es bereits nach verkohltem Fleisch zu riechen und aus Ben´s Mund kam nur noch ein schwaches Stöhnen. Sarah überlegte verzweifelt was sie tun konnte, aber sie war zu gut ausgebildet, um jetzt den Fehler zu machen, ihren Mann anzufassen. Dann würde sie ebenfalls sterben und ihre Kinder wären Waisen. Nein sie konnte Mia-Sophie nicht diesen beiden Bestien in den Mönchskutten hinterlassen und deshalb bettelte und flehte sie um Ben´s Leben.


    Lars stand kalt lächelnd vor ihnen und genoss sichtlich das Schauspiel. Er hatte gerade das Gefühl absoluter Macht über Leben und Tod, endlich hatte er die Aufmerksamkeit, nach der es ihn verlangte. Mit seinem dünnen schwachen Körper mit den Spinnenfingern war er ein Leben lang von den Gleichaltrigen verspottet worden. Früher war er regelmäßig von seinen Mitschülern gehänselt und auch verprügelt worden-er hatte in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Freund gehabt, nämlich Felix, aber auch den hatte er immer zu dominieren versucht, was der meistens auch tolerierte. Jetzt starb vor seinen Augen und sozusagen durch seine Hand ein Mensch, der das absolut verdient hatte-zumindest nach seinem Dafürhalten. Er hatte es gewagt, ihr bequemes Leben zu stören, indem er das Haus kaufte und mit seiner Familie bezog. Lars hatte nämlich vorgehabt, noch ein wenig Geld zu sparen und dann den Gutshof selber zu erwerben-zusammen mit Felix hätte er dann ihre Produktion ausgeweitet und sie hätten sich dort ein schönes Leben gemacht. Aber jeder der seine Kreise störte, würde dafür zur Rechenschaft gezogen werden, so wahr er Lars Degowski hieß!


    Nun begann auch das Baby zu weinen, das mitbekommen hatte-so klein es auch war- dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war und jetzt kam plötzlich Leben in Felix. Mit ein paar Schritten war er am gut isolierten Kabel und zog heftig daran, so dass die Enden, die Lars einfach abisoliert und um die Gitterstäbe gelegt hatte, abgingen und der Strom nicht mehr durchfließen konnte. Nun begann allerdings das Starkstromkabel Funken zu sprühen und wie eine Schlange durch die mächtige Energie des Drehstroms, der hindurch floss hin und her-zu schlagen. Mit einem Fluch sprang Lars zurück, war mit ein paar Schritten an der Verteilung und schaltete den Strom zu diesem Kabel, das normalerweise die Verpackungsmaschine versorgte, ab. Nachdem die Foliermaschine, die ja schon ein älteres Modell war, ihre Macken hatte und Drehstrom brauchte, hatten sie so ein Kabel durch den Gang verlegt. Zunächst war das Ganze durch eine Sicherung abgesichert gewesen, aber weil die alte Maschine immer wieder Fehlströme aufwies und ständig eben diese Sicherung geflogen war, was sie wieder ins Haus hatte eilen lassen, um sie wieder reinzudrücken-anfangs war sogar immer einer der FI-Schalter geflogen und die alten Leutchen waren ebenfalls teilweise ohne Strom gewesen- so hatte Lars da eine Brücke eingebaut und nun reagierte das System eben nicht mehr auf Fehlströme, was zwar gefährlich war, aber das hatte Lars nichts ausgemacht.


    „Sag mal spinnst du!“ fuhr er seinen Freund an. „Du hättest uns beinahe umgebracht!“ aber Felix stand immer noch leichenblass vor dem Gitter und starrte auf das Drama, das sich-untermalt von Babygeschrei- dahinter abspielte. Sarah hatte Ben, sobald der Strom weg war zu Boden gezogen und seine Vitalfunktionen überprüft. Er war noch knapp bei Bewusstsein, aber schon während sie an der Halsschlagader nach seinem Puls fühlte, spürte sie nur noch ein schwaches Flattern und dann schlossen sich Ben´s Augen und er wurde bewusstlos. Auch die Atmung hatte ausgesetzt und so begann Sarah mit dem Mut der Verzweiflung mit der Reanimation. Der Strom hatte augenscheinlich sein Herz geschädigt und eigentlich war er schon tot-sozusagen hingerichtet wie auf dem elektrischen Stuhl, aber das konnte sie nicht akzeptieren-vielleicht hatte er doch noch eine minimale Chance!
    Sarah schob sein Shirt nach oben, kniete sich neben ihn und begann seinen Brustkorb rhythmisch, wie sie es schon hunderte Male in ihrem Leben gemacht hatte, einzudrücken. Laut zählte sie 28,29,30, hörte dann auf, um seinen Kopf zu überstrecken, seine Nase zuzuhalten und ihm zweimal Atemspende zu geben. Danach begann sie sofort wieder mit der Thoraxkompression in einem Takt von etwa 100 Mal pro Minute.
    Nun stellte sich Felix eigentlich zum ersten Mal in seinem Leben gegen Lars. „Warum hast du das getan?“ schrie er ihn an, aber Lars verteidigte sich: „Das war nur eine Vorsichtsmaßnahme, um uns zu schützen und wie du siehst ja nicht vergebens. Wäre er nicht aus dem Gefängnis ausgebrochen, würde er jetzt nicht so daliegen!“ schrie er zurück. „Aber das spielt doch sowieso keine Rolle-du hattest doch eh vor, die ganze Familie umzubringen, aber da mach ich nicht mit!“ brüllte nun Felix, riss sich die Gasmaske vom Hals und schleuderte sie beiseite. „Die Polizei ist wahrscheinlich schon unterwegs, die suchen uns und werden uns sicher auch bald finden. Gerade wenn da jemand aus ihren Reihen betroffen ist, lassen die nicht mehr locker, bis die Schuldigen bestraft sind!“ appellierte er an seinen Freund. „Komm lass uns aufgeben, wir stellen uns und in ein paar Jahren sind wir wieder draußen!“ versuchte er Lars zu beeinflussen, aber der schüttelte den Kopf und wies anstatt dessen auf das schreckliche Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte. „Wir haben einen Polizisten umgebracht-wir wandern lebenslänglich hinter Gitter, ich werde mich nicht ergeben!“ fuhr Lars ihn an.


    Sarah pumpte derweil mit dem Mute der Verzweiflung das Blut durch Ben´s Körper. Sie merkte schon-sehr lange würde sie das nicht mehr durchhalten. Sie war eh schon schwach gewesen und bei der körperlichen Anstrengung floss nun auch das Blut wieder vermehrt aus ihr heraus, aber trotzdem würde sie nicht aufgeben, bevor sie nicht selber bewusstlos über ihrem geliebten Mann zusammen brach. Sie würde es sich nie verzeihen, wenn sie nicht einfach alles versuchte!


    Semir und Hartmut hatten derweil nochmals die Kabel verfolgt. Die führten in die Remise, verschwanden dann aber unter Putz im Boden. „Da muss irgendwo ein Keller sein, ein Gang oder so etwas-wenn ich nur eine Ahnung hätte, wo der Zugang ist!“ überlegte Semir verzweifelt, während sie hektisch herumblickten. Allerdings war die Remise groß und nicht sonderlich gut beleuchtet und immer mehr formte sich in Semir´s Bauch das Gefühl, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Sein Freund brauchte gerade dringend seine Hilfe-er fühlte es, aber wie sollte er ihn nur finden.
    Auf dem Herweg hatte er Hartmut auch von Ben´s unheimlicher Begegnung in dem Wäldchen erzählt, die er erst für ein Phantasieprodukt gehalten hatte und dass auch Lucky abgehauen war. Nun fiel Hartmut etwas ein. „Semir-Ben hat uns doch erzählt, dass sein Haus sozusagen historische Wurzeln hat und da Steine aus einem geschleiften Kloster verbaut sind-lag das vielleicht in dem Wäldchen, das ihr ergebnislos durchsucht habt?“ fragte er aufgeregt und Semir nickte. „Wir haben da zwar keine Ruinen mehr gefunden, aber Ben hat mir das erzählt. Er weiß das von einem Geschichtsprofessor in Rente, den er öfters beim Gassi gehen trifft.“ bestätigte er. „Und mitten im Dorf war ein Frauenkloster und da haben sie auch Babyskelette gefunden, wenn ich mich recht erinnere?“ fragte Hartmut und wieder nickte Semir. „Irgendwie müssen die Mönche ja ungesehen zu den Nonnen gekommen sein-ich habe da schon öfters von unterirdischen Gängen gehört und die Richtung könnte stimmen. Was wäre jetzt, wenn hier unterirdisch ein Gang führt, dessen Zugang wir nur nicht entdecken können, weil er so gut getarnt ist? Aber nachdem ich nicht an Geister und übernatürliche Erscheinungen glaube, denke ich, dass da jemand den anderen Zugang zu schützen weiß-wir werden uns da jetzt einfach umsehen und die Augen offen halten-was Besseres fällt mir jetzt auch nicht ein!“ sagte der Rotschopf und Sekunden später saßen sie in Semir´s Wagen und der holperte so schnell er konnte über den Feldweg zu dem Wäldchen.

  • Wenig später kamen die beiden an dem Wäldchen an. Sie stellten den Wagen mitten auf dem geschotterten Feldweg ab. „Dort vorne hat Ben angeblich das letzte Mal den schwebenden Mönch gesehen!“ erklärte Semir mit einem unsicheren Lächeln, deutete mit dem Finger in diese Richtung und schon machten Hartmut und er sich dorthin auf den Weg. Es war zwar früher Nachmittag, aber statt einem goldenen Oktober, begann gerade der feucht-nasskalte Herbst über das Land zu ziehen. Vor wenigen Tagen hatte das Thermometer die 20°C-Grenze untertags noch überschritten, aber jetzt hatte sich das Wetter gewendet, ein ungemütlicher kalter Wind wehte die bunten Blätter von den Bäumen, so dass der Boden wie von einem Teppich bedeckt war. Als Semir zufällig seinen Blick nach rechts wandte, sah er einen Fahrradlenker hinter einem Baum hervorstehen und war mit ein paar Schritten bei dem unversperrt dort abgestellten Fahrzeug angekommen. „Sehr lange kann es noch nicht hier stehen-es ist nicht feucht und auch auf dem Sitz befinden sich keine Blätter-ich wage jetzt mal die Hypothese, dass das das Fahrrad von Felix ist, aber dann muss der sich irgendwo hier in der Nähe befinden!“ vermutete Semir und als er nun noch einen Schritt weiter ging, rief auf einmal ein Käuzchen.


    „Das ist aber ungewöhnlich!“ wunderte sich Hartmut. „Eulenvögel sind dämmerungs-und nachtaktiv-normalerweise sitzen die jetzt irgendwo und schlafen!“ erklärte er gerade Semir, aber als er nun seinen Kollegen ansah, wunderte er sich. Semir stand da wie zur Salzsäule erstarrt. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen und er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen Punkt in einiger Entfernung. „D…da-Hartmut-was ist das?“ krächzte er und widerstand mit aller Macht der Versuchung sich umzudrehen und in wilder Panik davon zu stieben. Hartmut wandte den Blick und konnte sich einen Augenblick ebenfalls des Gruselns nicht erwehren. Tatsächlich schwebte etwa 15 Meter von ihnen entfernt ein Wesen in schwarzer Mönchskutte einen Handbreit über dem Boden. Die Kapuze verdeckte das Gesicht, aber die langen Spinnenfinger deuteten anklagend in ihre Richtung. Nun drehte sich das Wesen leicht, so dass sie es auch im Seitenprofil sehen konnten, aber Fakt war-es berührte den Boden überhaupt nicht. Semir stammelte völlig fertig: „Ich glaube ja eigentlich nicht an Geister-aber das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“ aber nun war Hartmut, der zwar auch einen Augenblick gebraucht hatte, um sich zu fangen, schon auf dem Weg zu der unheimlichen Gestalt. „Hartmut sei vorsichtig!“ schrie Semir und gerade schossen ihm sämtliche grausige Szenen aus allen Gruselfilmen, die er in seinem Leben schon gesehen hatte durch den Kopf, aber der Rothaarige ließ sich nicht aufhalten.


    Sarah drückte derweil Ben´s Brustkorb immer noch rhythmisch ein. Die kleine Mia-Sophie brüllte sich inzwischen die Seele aus dem Leib und langsam begann die Verzweiflung von Sarah Besitz zu ergreifen. Sie hatte inzwischen das Gefühl, dass sie jetzt der Richter war, der für Ben über Leben und Tod zu entscheiden hatte. Sie konnte eigentlich schon lange nicht mehr und fürchtete sich vor dem Moment, wenn ihre Kräfte erlahmten und Ben dann langsam kalt und blau werden würde, aber noch war es nicht so weit! Sie dachte an Tim, an ihre kleine Tochter-sie konnte es nicht zulassen, dass die ohne Papa aufwuchsen und darum würde sie einfach weiter machen und ihre Erschöpfung versuchen nicht wahr zu nehmen.
    Obwohl sie so beschäftigt war, bemerkte sie, dass die Aufmerksamkeit der beiden jungen Männer in den Mönchskutten, die inzwischen alle beide ihre Kapuzen von sich geworfen hatten, gerade von einem Warnsignal abgelenkt waren. Sie hatte auch ein Käuzchen rufen hören, aber weil ihr langsam fast schwarz vor den Augen wurde, beachtete sie das nicht weiter, sondern machte mit ihrer lebensrettenden Arbeit weiter.


    Wenig später war Hartmut bei dem unversehrten Moospolster das Semir und Ben bei ihrem letzten Besuch schon ergebnislos untersucht hatten und lief jetzt mitten durch das körperlose Wesen hindurch. Semir befürchtete schon, dass sein Verstand sich jetzt zu verwirren begann, aber Hartmut sah sich nun völlig unbeeindruckt suchend um plötzlich verschwand die unheimliche Gestalt. „Na hab ich mirs doch gleich gedacht!“ rief er triumphierend und nun rückte Semir langsam näher.

  • „Transmissionsholographie!“ sagte er einfach und deutete auf ein Gerät, das wassergeschützt in einem alten Baum mit vielen Baumhöhlen versteckt war. „Hier ist der Laser eingebaut und anscheinend haben wir vorhin irgendeine Lichtschranke passiert, die das Gerät eingeschaltet hat!“ erklärte er schlicht und jetzt atmete Semir erleichtert auf. Nachdem nun klar war, dass es hier nicht spukte, sondern versierte Elektronikbastler am Werk waren, begannen nun Semir und Hartmut die nähere Umgebung gründlich abzusuchen, aber obwohl sie ihre Augen offen hielten, fanden sie momentan keinen Zugang zu dem vermuteten Gang. „Verdammt noch Mal-ich spüre es, Ben und Sarah brauchen unsere Hilfe und die sind auch hier irgendwo ganz in der Nähe!“ fluchte Semir. Hartmut versuchte auch das stromführende Kabel zu verfolgen, aber das verschwand einfach so im Erdboden. „Das sichert zusätzlich noch unsere Theorie, dass sich hier ein unterirdisches Bauwerk befindet!“ bekräftigte Hartmut, aber obwohl sie wirklich gründlich nachsahen, fiel ihnen nichts weiter auf. Weiter und weiter steckten sie ihren Radius, aber das einzige was Hartmut noch fand, war in einem Baum angebracht ein Lautsprecher und wenn man genau hinhörte, konnte man mit guten Ohren ganz leise ein unangenehmes Geräusch wahrnehmen. „Vermutlich sendet dieser Verstärker Töne im Ultraschallbereich aus, die für Hunde und andere geräuschempfindliche Tiere extrem unangenehm sind, so dass sie dieses Wäldchen meiden!“ erklärte er Semir und der nickte zustimmend-so ließ sich Lucky´s wilde Flucht logisch erklären.


    In einem Versteck zwischen kleinen Büschen und Bäumen fanden sie einen dunkelgrünen Wagen und die Halterabfrage, die sie an Susanne sandten ergab, dass der auf einen gewissen Lars Degowski, wohnhaft im Nebenort, zugelassen war. „Wenn ich diesen Namen höre, läuft es mir kalt den Rücken herunter!“ sagte Semir und Hartmut nickte. Obwohl es schon viele Jahre her war, erinnerten sie sich beide noch mit Schaudern an das Gladbecker Geiseldrama. „Gut dass dieser Wagen hier steht, beweist ja noch nicht, dass der mit Ben´s Entführung etwas zu tun hat!“ wiegelte Hartmut ab, aber als Susanne ihnen nun das Passfoto von diesem Degowski zuschickte, war zu vermuten, dass er derjenige gewesen war, der in der Nacht, als die Leiche aus der Pathologie verschwunden war, den weißen Mercedes gefahren hatte-er glich dem erstellten Phantombild aufs I-Tüpfelchen. „Verdammt-wir wissen inzwischen schon ziemlich viel über die Verbrecher, die Sarah und Ben gekidnapped haben, aber warum können wir sie nur nicht finden?“ lamentierte Semir, als sie plötzlich hinter sich eine Bewegung wahr nahmen.


    Im Keller hatte Felix inzwischen voller Entsetzen den Bemühungen Sarah´s, ihren Mann wieder zu beleben, beobachtet. Das Baby schrie und Felix war von seinen Eltern und Großeltern, die auf ihn einen Rieseneinfluss hatten, immer angehalten worden, auf Schwächere, Kinder und auch Babys Rücksicht zu nehmen. Vielleicht hatte er sich deshalb auch schon in der Grundschule mit Lars abgegeben, der nach seinem Zuzug aus Bottrop mit seiner Mutter, die sich dort nicht mehr halten konnte, weil sie eine Cousine des Geiselnehmers war, obwohl das Verbrechen schon lange vor Lars´ Geburt stattgefunden hatte, nicht sonderlich beliebt war. Er hatte sich mit dem Außenseiter angefreundet, der wegen seiner schmächtigen Gestalt, den unheimlich langen und dabei sehr geschickten Spinnenfingern und auch seiner merkwürdigen Art von den Mitschülern gehänselt und verprügelt worden war. Der hatte sich nie in die Dorfgemeinschaft eingefügt und auch wenn seine Mutter nach ein paar Jahren einen rechtschaffenen Mann aus dem Ort geheiratet und mit dem noch zwei Kinder bekommen hatte, was sie sozusagen zur Einheimischen machte und Lars´ Vater, der sich vor einigen Jahren umgebracht hatte, aus dem Dorf stammte, war er nie glücklich gewesen, sondern hatte immer nach Höherem gestrebt-allerdings nicht mit legalen Mitteln, was ihm wiederum Ärger einbrachte. Irgendwie war aber aus ihrer Beziehung eine Art Hassliebe geworden. Felix hatte den Nervenkitzel ihrer illegalen Geschäfte geliebt, aber andererseits hatte Lars auch jede Beziehung zu einer Frau boykottiert. Felix war eh schon schüchtern gegenüber Frauen gewesen, aber mit seinem merkwürdigen Freund, den er ständig im Schlepptau hatte, hatten sich alle primär interessierten Mädchen bald mit Schaudern abgewandt, so dass Felix noch nie eine Freundin gehabt hatte-Lars übrigens auch nicht, aber den konnte sich Felix sowieso nicht mit einem weiblichen Wesen gemeinsam vorstellen.


    Hier vor sich sah er jetzt den Beweis einer großen Liebe. Die hübsche Frau-sozusagen die neue Gutsherrin- hatte erst vor wenigen Stunden ein Kind zur Welt gebracht und jetzt kämpfte sie verzweifelt um das Leben ihres Mannes, der durch die Schuld von Lars mit seinen ständigen Elektrobasteleien diesen verheerenden Stromschlag bekommen hatte. Das war wahre Liebe, denn auch der Polizist hatte sich sozusagen als Pfand für seine Familie angeboten und Felix wusste, dass zwar seine Eltern und Großeltern sich so um ihn kümmern würden, aber hier war etwas ganz anderes im Gange. Da gab es Liebe-Emotionen-etwas was Felix in seinem Leben mit Lars, der jeglichen Sozialkontakt boykottierte-schmerzlich vermisst hatte. Mit jeder weiteren Sekunde reifte in ihm der Entschluss, nun endlich den Schritt zu tun, den er schon eine ganze Weile immer wieder erwägt hatte-endgültig mit Lars zu brechen und ein eigenes, bürgerliches Leben mit einer Familie in Angriff zu nehmen. Klar-er hatte Schuld auf sich geladen und würde erst einmal ins Gefängnis müssen, aber wenn er jetzt alles tat, um ihre Entführungsopfer zu retten, würde er vielleicht nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis noch jung genug sein, um ein wenig Glück zu finden und deswegen stellte er sich jetzt vehement gegen seine ehemaligen Freund, der ihm gerade seine Sicht der Dinge klar gemacht hatte.


    Als der sich nicht auf Diskussionen einließ, versuchte Felix den Keller zu verlassen. Dort oben waren sicher bereits Polizisten, die nach ihnen suchten und dabei die die Alarmanlage ausgelöst hatten-die würde er zu Hilfe holen. Lars sprang ihn von hinten an und schon wälzten sich die beiden jungen Männer in den Mönchskutten in einem erbitterten Kampf auf dem Boden. „Ich lasse mir von dir nicht meine Zukunft zerstören-es hätte alles so schön werden können, wenn du nicht plötzlich verrückt spielen würdest!“ schrie Lars und Felix war ganz erschüttert von der Macht des Angriffs und der blanken Wut in Lars´ Worten. Sie kugelten immer noch über den kalten Steinboden und nun gelang es Lars-obwohl er eigentlich körperlich noch schwächer war als Felix-den beinahe bewusstlos zu schlagen. Mit letzter Kraft und brummendem Schädel stieß Felix den widerlichen jungen Mann, dem der Wahnsinn aus den Augen sah, von sich, sprang auf und hetzte Richtung Treppe. „Ich bring dich um-ich bring euch alle um!“ war das Letzte was Felix vernahm, bevor er den perfekt getarnten Eingang verließ und Sekunden später vor Semir und Hartmut zusammen brach.

  • Semir und Hartmut drehten sich überrascht um. Nur ein kurzes Stück von ihnen entfernt war ein unauffälliger Baumstumpf, der auf gut geschmierten Angeln saß, zusammen mit einigen Moospolstern aufgeschwungen und gab den Blick auf eine Treppe frei, die in die Tiefe führte. Ein irres Lachen hallte von unten herauf und Felix, den die beiden Polizisten sofort identifizieren konnten stieß hervor: „Schnell-sie müssen die Familie da drunten retten-Lars hat giftige Maulwurfpatronen und will sie damit ausräuchern!“ stieß er hervor und bevor er noch ausgesprochen hatte, war Semir schon an ihm vorbei gehetzt und in die Tiefe eingetaucht. Er verschwendete auch keinen Gedanken daran, dass es sich auch um eine Falle handeln könnte, sondern stürmte so schnell er konnte die Treppe hinunter und sah dort etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.


    Der Mönch mit den Spinnenfingern hatte eine Gasmaske aufgesetzt und war gerade dabei, ein Ding, das aussah wie die Rauchgaspatronen, die sie bei der Polizei hatten, aus einer Packung zu nehmen, die auf einem kleinen Tisch neben einer Menge Computer stand. Den Raum dominierte eine alte Verpackungsmaschine, aber diese ganzen Dinge registrierte Semir nur im Unterbewusstsein, denn sein Blick wurde magisch von etwas angezogen, was sich hinter einem großen Metallgitter abspielte, das einen Gang abtrennte, der in die Richtung von Ben´s Haus führte. Dort kniete Sarah, deren Bauch gar nicht mehr dick war, auf dem Boden und war gerade dabei, seinen besten Freund zu reanimieren und was ihn noch viel mehr entsetzte-das Ganze wurde untermalt vom jämmerlichen Geschrei eines neu geborenen Babys.


    Semir gefror beinahe das Blut in den Adern-um Himmels Willen, was war hier geschehen? Aber jetzt blieb keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denn die nächste Gefahr war mit den Händen zu greifen. Wenn es sich tatsächlich um giftige Patronen handelte,dann waren in wenigen Minuten alle tot, die sich in diesem Gewölbe befanden,außer dem Typen mit der Gasmaske und der würde schon wissen, warum er die aufgesetzt hatte. Wie in Trance zog er seine Waffe. Jetzt blieb keine Zeit mehr zu überlegen, oder einen Plan zu schmieden-es ging ums blanke Überleben. Mit einem kurzen Ruf machte Semir den unheimlichen Mönch auf sich aufmerksam, aber der hatte ihn zwar registriert, machte aber sich aber unbeirrt daran, sein Vorhaben auszuführen. Mit einem irren Lachen, das gedämpft unter der Gasmaske hervor drang, entfernte er den Sicherungsbügel der ersten Patrone und hob gerade den Arm, um sie durch das Gitter auf Semir´s Freunde zu werfen, da gellte ein Schuss aus der Waffe des kleinen Türken und mit einem unendlich erstaunten Gesichtsausdruck brach der schwarz gekleidete Mann zusammen, die Spinnenfinger fest um die Patrone gekrampft, die in diesem Augenblick zu rauchen begann.


    Mit wenigen Schritten hechtete Semir nun zu dem Sterbenden, dessen Brust sich gerade blutrot färbte. Der kleine Polizist hatte auch nicht auf dessen Arm zielen können, sondern hatte direkt auf den Rumpf geschossen, da ein Querschläger hier unten fatale Folgen haben konnte. Er atmete noch ein letztes Mal tief ein,entwand dann dem schwer verletzten Mann die Patrone und hetzte damit die Treppe hinauf. Der Sauerstoff wurde knapp, sein Körper bettelte darum, einen tiefen Atemzug machen zu dürfen, aber Semir wusste, dann wäre es ihrer aller Verderben und Sarah, Ben um den er sich sowieso schreckliche Sorgen machte und vor allem das neugeborene Baby hätten dann keine Chance und würden jämmerlich vergiftet werden. Semir kannte diese Patronen, die in seiner Kindheit noch erlaubt gewesen waren. In den sechziger und siebziger Jahren hatte man gnadenlos mit schwer giftigen Substanzen Maulwürfe und Wühlmäuse getötet, nicht nur wenn sie auf dem Land die Ernte bedrohten, sondern auch in den Städten, damit sie in den gepflegten Parkanlagen keine Erdhügel aufwarfen. Das war ein Teufelszeug gewesen und immer wieder hatte man früher gehört, wie sich irgendwelche Kinder beim Spielen mit diesen Patronen vergiftet hatten und es für sie keine Rettung gab,bis diese dann endlich verboten und Maulwürfe unter Naturschutz gestellt wurden. So hielt Semir nun die rauchende Patrone fest und war kaum oben angekommen,da warf er sie mit letzter Kraft so weit weg, wie er nur konnte. Ein tiefer, keuchender Atemzug sog Luft in seine Lungen und dann rief er hustend Hartmut zu, der gerade Felix gepackt und fest gehalten hatte, damit der nicht fliehen konnte, was aber gar nicht seine Absicht war. „Verständige sofort die Rettung mit einem Notarzt. Sarah ist dort unten gerade dabei Ben zu reanimieren-ich weiss nicht was passiert ist!“ schrie er und machte sich schon wieder auf den Weg in die Tiefe.
    Nach kurzer Überlegung packte er Felix am Arm und zog den jungen Mann mit sich, der zunächst nicht mit wollte, weil er sich vor Lars fürchtete. „Dein Kumpel ist tot-der wird nun niemandem mehr gefährlich!“ sagte er grob und nun beeilte sich Felix, der erleichtert aufatmete, ihm nach unten zu folgen. Ohne Lars noch eines Blickes zu würdigen, der nun in einer Blutlache am Boden lag, rannte Semir zu dem Gitter und versuchte es aufzuziehen, was aber ein sinnloses Unterfangen war. Er sah deutlich, dass Sarah am Ende ihrer Kräfte war. Wie in Trance pumpte sie noch das Blut durch Ben´s Adern, aber ihr Blick wurde langsam starr,ihre völlig übermüdeten Muskeln begannen ihr den Dienst zu verweigern und die Hose färbte sich zwischen ihren Beinen blutrot, obwohl sie sie mit einer Menge Küchenrollenpapier ausgestopft hatte.


    Mit ein paar Schritten war Felix bei dem verborgenen Hebel, der die Mechanik des Gitters in Bewegung setzte. „Gehen sie zur Seite-das Gitter schwingt nach innen auf!“ warnte er Semir und tatsächlich, beinahe lautlos öffnete sich die Absperrung und Semir hatte in diesem Moment auch das am Boden liegende abisolierte Kabel gesehen und konnte sich jetzt vorstellen, was passiert war. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken-auch ihn hätte dasselbe Schicksal ereilen können, denn auch er hatte ohne nachzudenken an das Metall gefasst, durch das jetzt aber Gott sei Dank kein Strom mehr floss. Mit zwei Schritten war er neben Ben, kniete sich Sarah gegenüber hin und sah sie aufmunternd an. „Sarah-ich übernehme jetzt!“ sagte er und schob die Hände der völlig erschöpften jungen Frau, die käsebleich geworden war, nun sanft zur Seite und begann kraftvoll Ben´s Brustkorb zu komprimieren und ihm immer wieder Luft einzublasen. Sarah sank in sich zusammen-sie wollte sich eigentlich aufrappeln, um zu ihrem schreienden Baby zu gelangen, aber sie konnte sich keinen Millimeter mehr von der Stelle rühren.


    Felix war mit ein paar unsicheren Schritten näher gekommen, aber weil er nicht wusste, was er jetzt tun sollte, kümmerte er sich erst einmal um die brüllende Mia-Sophie. Einwenig ungeschickt, aber unendlich vorsichtig hob er sie hoch und bestaunte das kleine Wunder, das beinahe sofort zu weinen aufhörte und ihn-die kleinen Fäustchen erst noch zornig geballt, nun mit großen tiefblauen Augen ansah. Instinktiv drückte er das kleine schutzbedürftige Wesen, das so winzig und doch unheimlich perfekt war, an sich und irgendwie erwischte die Kleine seinen Zeigefinger und mit dem Klammerreflex, den Neugeborene haben hielt sie ihn fest und jetzt strömten Tränen in Felix Augen, während er langsam das kleine Baby aus dem Kellerraum zu seiner Mutter brachte, die nun die Arme nach ihm ausstreckte. „Es tut mir so leid!“ stammelte Felix, aber dann beschloss er, jetzt möglichst gut zu machen, was er an diesen Menschen verbrochen hatte und löste jetzt Semir bei der Herzdruckmassage ab. Er hatte erst kürzlich bei der Freiwilligen Feuerwehr seinen Erste-Hilfe-Kurs wieder aufgefrischt und war nun froh, etwas tun zu können, um seine Schuld ab zu tragen. Semir hustete nämlich ein wenig, er hatte doch ein kleines bisschen vom giftigen Rauch eingeatmet und war froh, als die Ablösung kam. Seine Menschenkenntnis verriet ihm, dass hier vor ihm ein im Augenblick völlig ungefährlicher junger Mann kniete, der sich nach Kräften bemühte, wieder gut zu machen, was er und sein Komplize, der vermutlich der Anführer gewesen war, angerichtet hatten.


    Hartmut war nun ebenfalls nach unten gehetzt, um nachzusehen, ob aktuell seine Hilfe benötigt wurde, war aber dann wieder ins Freie gegangen, um die nahenden Retter einzuweisen. Er hatte auch gleich einen Rettungshubschrauber angefordert, denn es würde vermutlich viel zu lange dauern, bis der RTW über die Feldwege zum nächsten Krankenhaus geholpert war und so kamen fast gleichzeitig mehrere Fahrzeuge an und auf dem freien Feld hinter dem Wäldchen landete der Hubschrauber. Wie auch Sarah und Semir begann er verzweifelt zu hoffen, dass bei Ben die Hilfe noch nicht zu spät kam, aber alles Weitere war jetzt Sache der Profis!

    Einmal editiert, zuletzt von susan () aus folgendem Grund: Übertragungsfehler word-editor

  • Wenig später folgten mehrere Sanitäter und zwei Notärzte Hartmut in den Keller. Sofort sahen sie, dass eine Reanimation im Gang war und Sarah, die verzweifelt die kleine Mia-Sophie an sich drückte, wich zurück, damit die Helfer an ihren Mann ran kamen. „Was ist passiert?“ fragte der Notarzt kurz und sie antwortete: „Er hat einen heftigen Stromschlag abbekommen, ich habe dann aber sofort begonnen zu reanimieren, ich bin Intensivschwester!“ erklärte sie und der Arzt hätte sich am liebsten sofort um die junge Frau gekümmert, die ebenfalls dringend medizinische Hilfe brauchte, aber natürlich ging der vital bedrohte Patient erst einmal vor und außerdem würde innerhalb kurzer Zeit sein Kollege ebenfalls eintreffen. „Wie lange ist das etwa her?“ fragte er, während einer der Rettungsassistenten nun Felix ablöste und mit frischer Kraft zu drücken begann, aber Sarah schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern-sie hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr und hatte nur funktioniert wie eine Marionette.

    „Hol bitte jemand den Lucas aus dem Wagen“ befahl der Notarzt-das war das Reanimationsgerät, das im RTW und im Krankenhaus menschliche Kräfte sparte. Ein Sanitäter lief los, während der Notarzt nun zwei große Paddelelektroden auf Ben´s Brust klebte und seinen Kollegen dann bat, kurz mit dem Drücken aufzuhören. Es war keine Nulllinie, die auf dem Monitor erschien, aber auch kein geregeltes EKG, so dass sich der Notarzt dazu entschied, das elektrisch zu behandeln. „Bitte zurücktreten!“ rief er und drückte auf den Auslöseknopf für die Defibrillation, was einen Stromstoß durch den Körper des jungen Polizisten laufen ließ, so dass der sich aufbäumte. Mit schreckgeweiteten Augen beobachteten Sarah, Semir und Felix das furchtbare Schauspiel, aber immerhin kam es danach doch nach einer kurzen Nulllinie zu wenigen geregelten Kontraktionen des Herzens, bevor das wieder ins Kammerflimmern zurückfiel. „Eine Ampulle Suprarenin bitte!“ bat der Arzt ruhig, während er nun selber weiterdrückte und der Rettungsassistent das lebensrettende Medikament aufzog und einen Zugang legte. Dazwischen hatte man Ben immer noch nach der 30/2 Regel-diesmal allerdings mit dem Ambubeutel und Sauerstoff- beatmet.

    Inzwischen war der Sanitäter mit dem Lucas zurück und nun schnallte man das Gerät auf Ben´s Brustkorb. Kurz hob man ihn dazu hoch, um den Bügel unter seinen Rücken zu legen, verriegelte den und binnen Sekunden war das Gerät gestartet und pumpte nun von außen Ben´s Blut durch seinen Körper. Inzwischen hatte er auch die Ampulle Suprarenin bekommen und wieder versuchte er ins Leben zurück zu kehren, wie das EKG anzeigte, als man die Maschine kurz stoppte. Der Rettungsassistent hatte derweil routiniert zum Intubieren hergerichtet und wieder unterbrach man derweil kurz die Maschine, während der Notarzt den Tubus bei überstrecktem Kopf in Ben´s Luftröhre einführte und dort blockte. Das Herz bemühte sich wieder einen Eigenrhythmus zu finden und man entschloss sich zu einer zweiten Defibrillation, diesmal mit höherer Stromstärke. Ben´s Körper bäumte sich erneut auf, als der Strom durch seinen Körper floss, dann war einen kurzen Augenblick absolute Nulllinie, bis dann auf einmal eine Eigenfrequenz auf dem Monitor zu sehen war-das Herz raste zwar jetzt mit um die 180, aber wenigstens sah das Bild auf dem Monitor entfernt einem normalen EKG ähnlich. Sarah hatte vor Anspannung die Nägel der einen Hand in ihren Handflächen vergraben, Ben bekam noch eine Ampulle Amiodaron gespritzt, die den Herzschlag verlangsamen und gleichmäßiger machen sollte, während die Beatmungsmaschine nun reinen Sauerstoff über den Tubus in ihn blies. Als der Notarzt in seine Augen leuchtete, reagierten sie zwar verlangsamt, aber sie waren seitengleich und verengten sich bei Lichteinfall. „Ich denke, wir haben ihn wieder!“ sagte der Arzt mit einem feinen Lächeln und nun weinte Sarah vor Erleichterung auf und barg ihren Kopf-immer noch ihr Baby fest an sich gedrückt-an Semir´s Brust, der sie nun beruhigend in die Arme schloss.


    Felix, der zunächst einen Schritt zurück getreten war und voller Bangen die Bemühungen der Rettungskräfte beobachtet hatte, atmete ebenfalls erleichtert auf, aber nun warf Semir ihm einen bösen Blick zu. „Wenn ihr nicht so einen Blödsinn gemacht hättet, würde mein Freund jetzt nicht so daliegen!“ fuhr er ihn regelrecht an, aber Felix kamen nun selber die Tränen. „Ich habe das nicht gewollt!“ sagte er heftig. „Die Produktpiraterie, der Stromdiebstahl und unsere Geisterspielchen-jawohl, dazu bekenne ich mich und da bin ich auch schuldig, aber ich wollte nie, dass Menschen zu Schaden kommen-das hat gestern irgendwie eine Eigendynamik bekommen und dann kam ich aus der Nummer nicht mehr raus!“ versuchte er zu erklären, aber Semir sagte nun heftig: „Ein Anruf bei uns und wir hätten die Sache in die Hand genommen!“ denn so einfach wollte er den jungen Mann nicht davon kommen lassen. „Es tut mir leid!“ war aber die einzige Antwort, die er bekam und nun stand Felix mit Tränen in den Augen und hängenden Schultern vor ihnen, während nun schon einige uniformierte Beamte, die Hartmut ebenfalls alarmiert hatte, den Keller betreten hatten und sich anschickten, die Handschellen zu zücken und Felix, der immer noch die Mönchskutte über seiner Jeans trug, festzunehmen.
    Dann aber rappelte sich Sarah unter Schmerzen auf und bevor sie zu ihrem geliebten Mann eilte, ging sie wankend die paar Schritte zu Felix, streckte ihm die Hand entgegen und sagte einfach: „Danke!“ denn ohne seine Hilfe würden sie alle drei nicht mehr leben-aber das würde sie Semir und dem Richter schon zu gegebener Zeit verklickern. „Ich hoffe sie werden alle wieder gesund und wie heißt die Kleine überhaupt?“ fragte Felix und wies auf das Baby, das jetzt friedlich in Sarah´s Arm schlief, denn er hatte vorhin nicht umhin gekonnt neugierig unter die Tücher zu sehen, welches Geschlecht dieses wundervolle kleine Wesen hatte. „Mia-Sophie!“ antwortete Sarah und ließ sich dann an Ben´s Kopf nieder und bedeckte seine blasse, schweißnasse Stirn mit feinen Küssen. „So sieht also Liebe aus!“ murmelte Felix, während er bereitwillig die Hände ausstreckte und sich die Handschellen anlegen ließ.


    Wenig später hatte man Ben auf die Trage gelegt und weil er sich nun schon zu regen begann und versuchte wach zu werden, verpasste man ihm eine leichte Narkose, damit er den Transport besser überstand und verband auch seine verbrannten Hände. Als der Hubschraubernotarzt nun den jungen Polizisten übernahm, ging der andere Notarzt erst zu Lars, stellte dessen Tod fest, damit man da auch keine Formsache vergaß und kümmerte sich dann um Sarah, die wehmütig der Trage mit Ben darauf nachsah, die sich gerade von vielen helfenden Händen bugsiert, schwankend die Treppe hinauf bewegte. Den Lucas hatte man noch angelegt, aber ausgeschaltet gelassen-das würde so bleiben, bis er im Krankenhaus angekommen war-aber der Notarzt hatte nun wieder Kapazitäten frei und kümmerte sich jetzt um seine zweite Patientin. „Wir fahren natürlich ins selbe Krankenhaus wie der Hubschrauber, nämlich in die Uniklinik!“ gab er Sarah Bescheid, während er ihr ebenfalls eine Infusion legte und von der Steißgeburt im Keller erfuhr. Allerdings ließ sie sich kein Schmerzmittel geben wegen dem Stillen und auf eine eingehende gynäkologische Untersuchung verzichtete der Notarzt ebenfalls-er würde seine Patientin in der geburtshilflichen Abteilung abgeben, da sollten die nachsehen, warum sie so stark blutete-im RTW konnte man sowieso nicht viel machen. Das kleine Mädchen sah er kurz an, aber die wirkte sehr fit, obwohl sie winzig war und ihr Nabel mit einem Schnürsenkel abgebunden war. „Na kleine Maus-dein Leben hat aber schon aufregend begonnen!“ sagte er zu Mia-Sophie und die sah ihn mit großen Augen an und umklammerte seinen Zeigefinger, bis er sie wieder einwickelte und ihrer Mutter in den Arm gab, die sie derweil vorsichtig zum Fahrzeug gebracht hatten.


    So folgte Semir, der immer noch gelegentlich husten musste, wenig später dem RTW in seinem Dienstfahrzeug, Hartmut leitete die Spurensicherung im Kellerverließ und alle hofften, dass Ben, oder vielmehr die ganze Familie Jäger das Ganze ohne Folgen überstehen würde.

  • Der Hubschrauber hob ab, man begann Ben schon möglichst viel Volumen zukommen zu lassen, soweit das durch die peripheren Zugänge ging, denn die Flüssigkeitstherapie war eine der Bausteine der Polytraumabehandlung, unter die ein Starkstromunfall mit anschließendem Herzstillstand fiel. Kaum in der Klinik angekommen, stand ein geschultes Team im Schockraum und man hob ihn zunächst auf den Röntgentisch fürs Notfall-CT. Den Lucas nahm man zuvor ab-es war jetzt eigentlich auch nicht mehr mit größeren kardialen Problemen zu rechnen, denn die Erfahrungswerte zeigten, dass die Herzproblematik meist sofort auftrat, auch wenn theoretisch natürlich schon noch die Gefahr gefährlicher Rhythmusstörungen oder Myokardnekrosen bestand, aber aus der Statistik wusste man einfach, dass da akut die größte Gefahr bestand und das hatte man mit kardiopulmonaler Reanimation, Defibrillation und rhythmisierenden Medikamenten ja nun in den Griff bekommen. Allerdings wusste man nicht welche Folgeverletzungen der vorher kerngesunde junge Mann dabei erlitten hatte. Dass die Schulter ausgekugelt war, hatten die beiden Notärzte schon gesehen, aber um weitere knöcherne Folgeverletzungen zu vermeiden, hatte man zunächst einmal auf eine Reposition verzichtet-auf die paar Minuten kam es nun auch nicht mehr an.


    Ein orientierender Nativscan des ganzen Körpers lief ab, als Ben durch die Röhre geschoben wurde und sofort befundete der Radiologe die Bilder, während man den beatmeten Patienten nun zur weiteren Versorgung in ein Bett mit thermoverformbarer Matratze hob. „Am Herzen und der Lunge kann ich momentan nichts Besorgniserregendes feststellen. Auch das Schädel –CT zeigt noch nichts Auffälliges. Den Bewegungsapparat hat es stärker erwischt-die rechte Schulter ist luxiert und die Fibula-also das Wadenbein gebrochen, durch die Kontraktionen hat die deutlich ausgeprägte Muskulatur doch einigen Schaden angerichtet!“ erklärte er. „Dann renken wir zunächst die Schulter wieder ein-aktuell ist er kreislaufstabil, das nutzen wir aus, bevor sich die Situation verschlechtert!“ beschloss der behandelnde Unfallchirurg.
    „Danach überlasse ich ihn fürs Erste euch!“ fügte er dann mit einem Blick auf den Anästhesisten hinzu, der sozusagen mit den Hufen scharrte und dringend mit der intensivmedizinischen Komplexbehandlung beginnen wollte. „Das Bein fixieren wir aktuell mit einer Vakuumschiene und operieren erst, wenn er sich ein wenig stabilisiert hat!“ stand nun der Therapieplan aus unfallchirurgischer Sicht und während man nochmals neurologische Kontrollen durchführte, richtete man Ben, der inzwischen komplett ausgezogen war ein wenig auf und schlang ein stabiles Tuch um seinen Oberkörper. Ein kräftiger Pfleger, der das schon oft gemacht hatte, hielt an diesem Tuch gegen und der Chirurg bat nun den Narkosearzt um die Gabe eines kurz wirkenden Muskelrelaxans, damit Ben nicht dagegen spannen konnte. Kaum begann das zu wirken und die Muskulatur erschlaffte, begann der Arzt gefühlvoll, aber durchaus mit Kraft an dem Arm zu ziehen, während der Pfleger gegen hielt. Als er das Gefühl hatte, er hätte die Kapsel jetzt weit genug gedehnt, reponierte er mit einer kleinen Bewegung nach innen das Schultergelenk und der Oberarmkopf glitt wieder in die Pfanne. „Wir fixieren den Arm jetzt noch mittels eines Verbandes an den Oberkörper, damit er nicht versehentlich nach außen rotiert und erneut heraus springt!“ beschloss der Unfallchirurg und so brachte man noch einen sogenannten Gilchristverband an Ben an. Die Verbrennungen an beiden Händen verband man nur steril und das gebrochene Bein hatte man inzwischen ebenfalls in einer Schiene stabilisiert und jetzt verschwanden die Unfallchirurgen und überließen den Anästhesisten das Feld.


    Zügig bekam der Patient nun einen mehrlumigen zentralen Venenkatheter mittels eines kleinen Eingriffs in den Hals verpasst, eine Schwester legte einen Blasendauerkatheter mit Temperatursonde und auch ein arterieller Zugang an Ben´s Unterarm maß ab sofort ständig den Blutdruck und diente zur Blutentnahme.
    Wieder versuchte Ben wach zu werden, aber nun sedierte man ihn tiefer, was sofort einen Blutdruckabfall zur Folge hatte und kreislaufstützende Medikamente notwendig machte, aber nun schob man den Patienten, der nur mit einem dünnen Laken zugedeckt war, nach oben auf die Intensivstation. „Wir werden ihn jetzt erst einmal 24 Stunden auf Temperaturen zwischen 32 und 34°C kühlen, das ist gerade der Standard nach Reanimation und dann erst, wenn er wieder wach werden darf, werden wir sehen, ob wir neurologische Ausfälle zu beklagen haben!“ erklärte der Arzt Semir, der schon länger vor dem Schockraum gewartet hatte und nun froh war, während dem Transport einen kurzen Blick auf seinen schlafenden Freund werfen zu können. Sarah, die gerade in der geburtshilflichen Abteilung behandelt wurde, hatte ihre Kollegen wissen lassen, dass für Semir eine Auskunftsberechtigung bestand und das wurde akzeptiert.
    „Wie stehen seine Chancen?“ fragte er nun den Narkosearzt, aber der zuckte nur mit den Schultern.

  • Sarah war inzwischen in der geburtshilflichen Abteilung von einem Gynäkologen und einer Hebamme übernommen worden. Schon vor ihrer Ankunft hatte es sich durch die Voranmeldung herum gesprochen, was ihr und ihrem Mann passiert war. Eine Kollegin und Freundin, die auch auf ihrer Hochzeit gewesen war, stand im Flur der Notaufnahme. Sie hatte sich mit Einverständnis der anderen in der Schicht kurz von ihrer Arbeit auf der Intensivstation abgeseilt, drückte ihr ganz fest die Hand, bewunderte die kleine Mia –Sophie und sagte herzlich: „Sarah, Ben kommt nach der Basisversorgung zu uns, ich werde ihn persönlich übernehmen und auf ihn aufpassen, mach dir also keine Sorgen und ruh dich erst einmal aus-wir halten dich auf dem Laufenden!“ versprach sie und Sarah war nun von einer riesigen Last befreit. Sie wusste ihre Kollegen und die Ärzte auf ihrer Station würden alles Menschenmögliche machen, um ihm zu helfen, alles Weitere musste die Zeit bringen. Sie hatte schon öfters Starkstromverletzungen behandelt-der Ausgang war ungewiss, manche starben, viele überlebten, manche mit gravierenden Spätfolgen, andere wieder fast ohne Beeinträchtigung, aber jetzt musste man abwarten.

    So konnte sie ihre kleine Tochter beruhigt in die Hände der Kinderkrankenschwester und des Kinderarztes geben, die sie vermaßen, wogen, badeten, einen Vorsorgeausweis ausstellten und den Nabel mit einer speziellen Nabelklemme versorgten. Danach bekam sie etwas Glukoselösung aus dem Fläschchen, denn Sarah hatte sofort beteuert, weiter stillen zu wollen und nachdem die Kleine so munter war, sprach da auch nichts dagegen. Man sah sich auch die Hüften mit Ultraschall an, denn nach Steißgeburten hatten da manche Neugeborene Probleme, aber es war alles in Ordnung und breit wickeln würde man sie wie jedes andere Baby ebenfalls. Nun hatte die Kleine die ersten echten Windeln und den ersten Strampler ihres Lebens an, kam in ein Wärmebettchen, weil sie doch ziemlich leicht und winzig war und schlief wenig später zufrieden ein.


    Sarah wurde derweil von der Hebamme und dem Gynäkologen versorgt und nach der ersten Untersuchung, der Blutabnahme und dem Aufnahmegespräch, erklärte ihr der Arzt den Grund für ihre verstärkten Blutungen. „Frau Jäger, bei der Geburt sind der Muttermund und der Damm eingerissen und bluten, das müssen wir operativ versorgen, außerdem wissen wir nicht, ob die Placenta vollständig war und würden zur Sicherheit noch eine Ausschabung machen, nicht dass sie später eine Blasenmole bekommen!“ sagte er und einer Krankenschwester musste man nicht erklären, dass das eine bösartige Neubildung in der Gebärmutter war, wenn da vielleicht Placentagewebe zurück geblieben war. Wenig später kam auch der Hb-Wert aus dem Labor und Sarah hatte bis auf einen Wert von sieben herunter geblutet. „Wie hast du es nur geschafft in deinem Zustand deinen Mann zu reanimieren?“ fragte die Hebamme und Sarah zuckte mit den Schultern. „Es musste sein, sonst hätte ich ihn verloren!“ antwortete sie leise.

    Nachdem sie keine Vollnarkose wollte, gab man ihr zunächst ziemlich viel Infusion, um den Kreislauf zu stabilisieren und dann kam ein Narkosearzt und stach ihr problemlos eine Spinalanästhesie. Nach einer Vollnarkose würde sie eine Weile schlafen, sie konnte dann einige Stunden nicht stillen und so verlockend es gewesen wäre, sich schlafen legen zu lassen und eine Weile mal nichts mehr zu wissen, so wenig wollte Sarah erstens die Kontrolle verlieren und zweitens riskieren, dass ihre Tochter dann Ersatzmilch brauchte. Sie war blond und wenn sie das erste halbe Jahr nur Muttermilch und keine Kuhmilchprodukte bekam, wäre das eine gute Vorbeugung gegen Allergien, zu denen hellhäutige Kinder vermehrt neigten. Außerdem hatte sie bei Tim da die besten Erfahrungen gemacht-der war kerngesund und hatte noch nie irgendeine Allergie gehabt, der schlug allerdings auch ganz nach seinem Vater und hatte einen dunklen Lockenkopf und braune Augen, während das kleine Mädchen jetzt schon vom Typ her ihrer Mama ähnlich sah.
    Semir hatte man kurz zu ihr gelassen, während man darauf wartete, dass die Spinale ihren Unterkörper betäubte und sie hatte ihn gebeten, doch Hildegard zu informieren und dann noch angeleiert, dass Semir Auskunft über Ben bekam. Ihr fiel aber auch auf, dass er immer wieder hüsteln musste und auch blass war. „Semir-du sagst jetzt denen in der Notaufnahme, dass du von dem Giftgas ein wenig eingeatmet hast-die sollen dich durchchecken!“ befahl sie regelrecht und ihr Freund nickte folgsam-klar fehlte ihm nichts, aber er wusste auch, dass Sarah jetzt nicht locker lassen und sich im Zweifelsfall sogar noch mit Andrea verbünden würde. So rief er erst Hildegard an, die aus allen Wolken fiel, als sie die besorgniserregenden und auch teilweise erfreulichen Nachrichten hörte, begleitete dann erst Ben´s Transport zur Intensivstation und während der dort verkabelt und gekühlt wurde, suchte er selber die Notaufnahme auf.


    Dort lief ihm auch sogleich die Chefin über den Weg, die sich besorgt aufgemacht hatte, nach Sarah und Ben zu sehen-Hartmut hatte sie sofort verständigt. „Gerkhan-erzählen sie genau, was ist passiert und wissen sie schon, wie es den beiden geht?“ fragte sie und Semir berichtete nun, was er in Erfahrung hatte bringen können. Auch der Chefin fiel das Hüsteln auf und so lag Semir wenig später in der Notaufnahme, man kontrollierte seine Laborwerte, legte ihm einen Zugang, schrieb ein EKG und spritzte für alle Fälle Atropin, bis man genau wusste, um was für ein Gift es sich handelte, das er da eingeatmet hatte. Er bekam eine Verneblermaske mit Cortison, damit die gereizten Schleimhäute in seiner Luftröhre abschwollen und der Arzt legte ihm nahe, doch für alle Fälle eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu bleiben. „Wir kontrollieren dann morgen nochmals die Leberwerte und wenn alles passt, können sie danach nach Hause gehen!“ schlug er ihm vor. „Ich darf mich aber innerhalb des Krankenhauses frei bewegen?“ versicherte sich Semir und der Arzt nickte. „Ich denke ja nicht, dass da noch was nachkommt, aber sicher ist sicher!“ bestätigte er und nachdem Semir jetzt sowieso nicht vorgehabt hatte, nach Hause zu gehen, solange seine Freunde in kritischem Zustand waren, nahm er das Angebot an, informierte auch noch Andrea, die versprach, ihm eine kleine Krankenhaustasche vorbeizubringen und außerdem mit den Mädchen gleich das neue Baby anschauen kommen wollte.


    Die Chefin hatte gewartet und als er wenig später mit den Aufnahmeunterlagen und dem verbundenen Zugang im Arm aus der Notaufnahme kam, um auf die Station zu gehen, die der Aufnahmearzt ihm avisiert hatte, war sie recht froh, dass er nun auch beobachtet wurde.
    „Hartmut hat mich gerade angerufen: Sie haben in dem Gang, der tatsächlich zu Jäger´s Haus führt und dessen Geheimtür dort unser Herr Freund inzwischen entdeckt hat, die Leiche von Peter Fitz gefunden, jetzt wissen wir also, wohin die verschwunden war. Der Pathologe wird gleich heute noch die Obduktion durchführen, wie auch an Lars Degowski, dann werden wir sehen, ob sich dieser Felix auch noch wegen Mordes verantworten muss!“ erzählte sie ihm.
    „Sie müssen auch noch die Eltern und die Großeltern der beiden „Mönche“ verständigen, ich hätte das gerne übernommen, bin jetzt aber dazu nicht in der Lage!“ heuchelte Semir, denn niemand überbrachte gerne schlechte Nachrichten, aber so war er fein raus. „Ich werde das gleich noch erledigen-ihnen wünsche ich eine gute Besserung und richten sie das bitte allen anderen auch aus-soweit sie das verstehen können!“ bat die Chefin ihn ernst, denn ihr war bewusst, wie lebensgefährlich verletzt Semir´s Partner war.
    Dann machte sie sich auf den Weg zu den Angehörigen, deren Adressen Susanne inzwischen herausgesucht hatte. Wie gerne hätte sie diese Arbeit delegiert, aber es war gerade kein anderer da, den sie jetzt schicken konnte. Allerdings machte sie zuvor noch einen kleinen Umweg über die Neugeborenenstation und bewunderte durch die Glasscheibe den kleinen Jäger´schen Nachwuchs, die wie ein kleines Püppchen in dem Wärmebettchen lag und friedlich schlief. „Alles Gute, kleine Maus!“ sagte sie leise. „Ich hoffe, dass du mit Mama, deinem großen Bruder und einem gesunden Papa in einer intakten Familie aufwachsen darfst!“ schickte sie ihr die besten Wünsche, bevor sie in ihren Wagen stieg und davon fuhr.

    Einmal editiert, zuletzt von susan () aus folgendem Grund: Übertragungsfehler Word-Editor, geht tatsächlich nur mit BB-Code!

  • Ben war inzwischen auf der Intensivstation von Sarah´s Freundin und dem Stationsarzt in Empfang genommen worden. Der freie Anästhesist, der ihn verkabelt hatte, begleitete den Transport und machte seinem Kollegen Übergabe, um dann in den OP zu gehen. Routiniert schloss man die verschiedenen Kabel an, wechselte von der Transportbeatmung an die große Beatmungsmaschine, die einfach mehr Funktionen hatte, befeuerte alle Schenkel des zentralen Venenkatheters mit Flüssigkeit und Trägerlösung, hängte Perfusoren zur Sedierung und zur Kreislaufunterstützung an und legte ihm dann noch eine Magensonde. Auch das war ein Standard bei beatmeten Patienten. Nachdem man die Lage der Sonde kontrolliert hatte, hängte man sie momentan auf Ablauf, aber außer ein wenig blutigem Magensaft-was durchaus normal war, da es beim Vorschieben zu kleinen Schleimhautläsionen kommen konnte-lief nichts heraus.

    Ruhig saß jeder Handgriff und binnen Kurzem hatte der Stationsarzt auch noch die körperliche Aufnahmeuntersuchung durchgeführt, aber nach außen waren keine weiteren Verletzungen mehr zu erkennen und weil die Sedierung mit Propofol und Sufentanil jetzt ziemlich hoch lief, war Ben auch völlig abgeschossen und zeigte keinerlei Reaktion, auch nicht auf Schmerzreize. Nur die Pupillen, die zwar vom Opiat eng gestellt waren, regierten prompt und seitengleich, was ein gutes Zeichen war. „Jetzt können wir nur hoffen, dass er durch den Strom und die nachfolgende, doch anscheinend länger andauernde Reanimation, keine bleibenden Schäden davongetragen hat. Wir werden jetzt versuchen durch die Kühlung den Sauerstoffbedarf der Organe, vor allem des Gehirns herabzusetzen, was aktuell der Goldstandard in so einem Fall ist!“ erklärte der Stationsarzt der Krankenpflegeschülerin, die gespannt zusah, was man denn mit dem Patienten anstellte. So ein gut aussehender Mann-und man wusste noch nicht, ob er jemals wieder werden würde wie zuvor!

    Sie half seiner betreuenden Schwester ihn ordentlich hin zu legen. Man gab ein Kissen unter seine Beine, damit die Fersen nicht auflagen und gerade das frakturierte Bein in der Schiene musste höher als der restliche Körper gelagert werden, damit es zu keiner massiven Schwellung kam. Der eine Arm war ja durch den Spezialverband an den Körper gebunden, aber den anderen Arm legte man auf ein Lagerungskissen. Fixiert werden musste der junge Polizist im Augenblick nicht, weil man ihn jetzt tief sedieren würde-ansonsten würde man so eine Kühlung nicht aushalten können.


    „Das Ausmaß der Schädigungen nach so einem Stromunfall hängt wesentlich von der Dauer der Exposition und auch der Stromstärke ab. Wie mir übergeben wurde, hing er doch einige Zeit an einem Metallgitter, da durch die unwillkürlichen Muskelkontraktionen, die auch das Wadenbein gebrochen und die Schulter aus ihrer natürlichen Führung haben springen lassen, es dem Unfallopfer in so einem Fall nicht mehr möglich ist, den stromführenden Gegenstand los zu lassen. Eigentlich ist das auch das Prinzip des elektrischen Stuhls, der gerade in Amerika ja durchaus noch für menschenverachtende Hinrichtungen eingesetzt wird. Wenn der Strom lange genug einwirkt, verkochen die inneren Organe und auch das Gehirn, aber bis der Mensch bewusstlos wird, ist es eine schreckliche Qual!“ erzählte der Arzt der geschockten Schülerin. „Was als positiv zu bewerten ist, ist dass unser Patient anscheinend ziemlich schnell nach zwei Defibrillationen in einen Eigenrhythmus des Herzens gefunden hat und jetzt unter Amiodaron, das inzwischen als Perfusor läuft und die Frequenz senkt, relativ stabil ist und eine gute Pumpfunktion und Auswurfleistung hat!“ zeigte er auf dem Ultraschallgerät, das er nun angesetzt hatte und so seinen Patienten noch eingehender untersuchte. „Wir werden ihn jetzt kühlen und dann abwarten, was passiert, wenn wir nach 24 Stunden die Sedierung reduzieren-mein Kollege hat allerdings berichtet, dass er schon mehrfach versucht hat, wach zu werden, was ein gutes Zeichen ist!“ fügte er hinzu und nun hatte die Intensivschwester mehrere Coolpacks gebracht, die in Handtücher gehüllt, damit sie keine lokalen Hautschädigungen machten, nun auf die Leisten und den Bauch gelegt wurden. Eine spezielle Kältehaube reduzierte die Temperatur nochmals extra und als man das Temperaturkabel des Blasenkatheters an den Monitor angeschlossen hatte, konnte man beobachten, wie die Körpertemperatur, die initial noch 36°C betragen hatte, langsam zu sinken begann. Zusätzlich breitete man noch eine spezielle Decke über ihn, die mit dem sogenannten Thermacair verbunden war-einem Gebläse das beides konnte-kühlen oder wärmen, je nachdem, wie man die Temperatur einstellte. Ben wurde jetzt mit der etwa 25°C betragenden Raumluft angeblasen und so sank seine Körpertemperatur relativ rasch auf die angestrebten 32°C. „Weiter herunter wollen wir ihn nicht kühlen, denn das kann sonst wieder Herzrhythmusstörungen hervorrufen!“ zeigte die Schwester der Schülerin und stellte das Gebläse nun für eine Weile aus. „Das ist ein wenig Spielerei, aber wenn wir am Monitor unsere Alarmgrenzen nach oben und unten eng stellen, können wir immer reagieren, wie es gerade notwendig ist.“ leitete sie die Auszubildende an und nachdem Ben jetzt recht stabil wirkte, reduzierte man das Licht auf eine angenehme Helligkeit und ließ den Patienten momentan in Ruhe.

    Als Semir, der inzwischen sein Zimmer auf der Station bezogen hatte, nun draußen läutete, wurde er sofort zu seinem Freund gelassen und setzte sich still neben sein Bett. Er griff nach dessen Hand, die sich kalt anfühlte „fast wie eine Totenhand!“ dachte Semir mit Schaudern und sprach leise mit ihm, obwohl ihm schon bewusst war, dass Ben ihn im Augenblick nicht verstehen konnte. Aber vielleicht drang der beruhigende Klang der vertrauten Stimme doch in sein Unterbewusstsein vor und außerdem tat es Semir selber gut, mit seinem Partner zu reden. „Ich schaue nachher noch nach Sarah, die ist gerade im OP und wird versorgt, aber du reißt dich jetzt zusammen und wirst schnell wieder gesund, deine Familie und ich, wir brauchen dich!“ befahl er Ben regelrecht und langsam flaute auch bei ihm das Adrenalin ab und eine bleierne Müdigkeit überkam ihn.

  • Sarah hatte die ganzen Eingriffe jetzt hinter sich und lag blass in ihrem Bett, im Moment noch im Aufwachraum, denn nach einer Spinalanästhesie musste man trotzdem überwacht werden, weil durchaus Narkosemittel nach oben im Spinalkanal aufsteigen konnte und auch nach der eigentlichen OP zur Atemlähmung führen konnte. Erst wenn das Gefühl langsam zurück kam und bei den Oberschenkeln angekommen war, durfte man die Patienten verlegen und so hieß es warten. Sie kam aber nicht zur Ruhe, erstens aus Sorge um Ben und dann auch, weil sie so eine wahnsinnige Sehnsucht nach ihrer kleinen Tochter hatte. Neun Monate hatte sie sie in ihrem Bauch getragen und jetzt war es einfach unnatürlich Mutter und Kind zu trennen, obwohl der Verstand natürlich sagte, dass es keine andere Möglichkeit gab.

    Inzwischen war es früher Abend geworden und Sarah hatte die Augen geschlossen, als plötzlich ihre Kollegin und Freundin um die Ecke bog. „Sarah-ich habe im PC gesehen, dass du jetzt im Aufwachraum bist und mache gerade meine Pause-du weisst ja-meinem Laster muss gefrönt werden!“ sagte sie grinsend und wies auf die Zigarettenschachtel, die ihre Tasche ein wenig ausbeulte. „Aber was ich dir eigentlich sagen wollte: Ben ist jetzt bei uns angekommen, er wurde ordentlich versorgt, hat alle notwendigen Zugänge, ist tief sediert und wir haben ihn herunter gekühlt. Er braucht nur wenig Noradrenalin, die Pupillen reagieren gut und sein Freund sitzt an seinem Bett und passt auf, dass wir alles richtig machen!“ berichtete sie salopp und jetzt war Sarah irgendwie wohler. Wenn Semir bei Ben war, dann tat dem das gut, egal wie tief er sediert war, denn diese beiden verband eine innige Freundschaft und so konnte sie sich, als ihre Freundin sich wieder verabschiedet hatte, um im Rahmen ihrer Pause noch schnell zum Rauchen zu gehen, doch ein wenig entspannen und als wenig später das Gefühl begann zurück zu kehren, wurde sie auch sofort von den Schwestern der Entbindungsstation abgeholt.

    Kaum im Zimmer stand auch schon die Kinderschwester mit einer hungrig brüllenden Mia-Sophie vor ihr, reichte sie Sarah und die legte sie auch sofort an. „Da war jetzt nichts mehr zu machen-sie hat sich von meiner Glucoselösung nicht beeindrucken lassen-sie möchte etwas Richtiges!“ sagte sie lächelnd und beobachtete, wie das Baby so energisch saugte, dass Sarah gleich das Gesicht verzog. „Ich sag nur: Klein, aber oho, die weiss schon sehr genau, was sie will!“ bemerkte die erfahrene Kinderkrankenschwester grinsend und bettete die Kleine nun noch bequem auf ein Stillkissen, damit Sarah es leichter hatte. „Aber du bist ja eine erfahrene Mama-du hast das schon im Griff!“ erklärte sie dann und nun fühlte sich Sarah gleich ein wenig besser. Das Wärmebettchen wurde gegen ein normales Babybett mit einer Wärmflasche darin ausgetauscht, aber Sarah behielt ihre Kleine auch nach dem Stillen bei sich im Bett, bewunderte die kleinen Fingerchen und strich liebevoll über das winzige Köpfchen, das jetzt mit einer weichen Mütze bedeckt war. Was Tim wohl sagen würde, wenn er sein Schwesterchen zum ersten Mal sah?


    Plötzlich klopfte es an der Tür und als Sarah „Herein!“ rief, standen gleich darauf Andrea und die beiden Mädchen vor ihr. Lilly war noch ein wenig schüchtern und drückte sich eng an ihre Mutter, aber Ayda war mit wenigen Schritten am Bett und streckte Sarah zwei schön eingepackte Geschenke entgegen, die die lächelnd entgegen nahm, nicht ohne zuvor Mia-Sophie unter ihrer Decke hervorgeholt zu haben, die sich aber nicht stören ließ, sondern einfach friedlich weiter schlief. Ayda musterte das Baby und sagte dann unsicher: „Die ist aber winzig!“ und nun musste Sarah lachen. „Da hast du Recht, Ayda. Mia-Sophie ist auch wirklich klein, aber die wächst schon noch, keine Sorge!“ erklärte sie. Andrea war an ihr Bett getreten, hatte sie stumm umarmt und an sich gedrückt und sagte weich: „Trotz aller Sorgen: Herzlichen Glückwunsch und die Kleine ist ja wirklich wunderhübsch!“ und das musste Sarah nun stolz bestätigen. Wenig später taute auch Lilly auf, vor allem als die beiden Mädchen jetzt nacheinander das Baby kurz halten durften, natürlich assistiert von Andrea, die aufpasste, dass sie alles richtig machten. Sarah packte derweil die Geschenke aus-das eine war eine kleine Robbe, ein Babyspielzeug, das die Mädchen hatten aussuchen dürfen, dazu eine winzige Jeans mit einem passenden Oberteil und im anderen Paket war eine Schachtel bester Lindt-Pralinen „Damit du wieder zu Kräften kommst!“ meinte Andrea und gerührt bedankte sich Sarah.


    „Wir haben eigentlich Semir´s Tasche gebracht, aber der ist nicht in seinem Zimmer, sondern bei Ben auf der Intensivstation. Die Schwester hat gemeint, sie ruft dort an, damit die ihm ausrichten, dass er Besuch hat, aber bis er kommt, sind wir gleich mal zu dir gekommen, die Mädchen wollten doch unbedingt das neue Baby sehen!“ erklärte sie und versprach Sarah dann, am nächsten Tag ihre Krankenhaustasche aus dem Haus zu holen und ihr zu bringen. „Ich habe gerade eine Woche Überstundenfrei, kann das also gut gleich in der Früh erledigen, während Ayda und Lilly morgen in der Schule und im Kindergarten sind. Ich gieße dir auch die Blumen durch und wenn du mir sagst, was ich für Ben mitbringen soll, dann packe ich auch für den was zusammen!“ versprach sie und nun klopfte es erneut und Semir stand plötzlich im Zimmer. Die Mädchen begrüßten den Papa aufgeregt und erzählten, dass sie schon das Baby hatten halten dürfen. Aber Semir musste jetzt, bevor er sich mit seinen Kindern beschäftigte erst noch etwas los werden: „Sarah, ich komme ja gerade von Ben-der Arzt sagt, er ist momentan stabil, wird jetzt bis zum morgigen Nachmittag gekühlt und dann sehen wir weiter!“ richtete er ihr aus. „Ich werde nachher in mein Zimmer gehen und auch zu schlafen versuchen, aber die Schwestern haben mir versprochen, mir sofort Bescheid zu geben, wenn sich etwas an seinem Zustand verändert!“ teilte er ihr mit und musste dann doch wieder husten. „Ich glaube, ich sollte dann wieder mit diesem komischen Zeugs inhalieren-das tut echt gut!“ sagte er und so verließen wenig später alle vier Besucher das Zimmer wieder.


    Sarah ließ sich nun noch von den Schwestern das Telefon bringen und rief Hildegard an, die sehr erleichtert war, als sie mit Sarah persönlich sprechen konnte und die ihr einen kurzen Lagebericht gab. „Tim hat gerade gebadet-das war aber auch dringend notwendig, er hat nämlich Hund gespielt und ist auf allen Vieren durch den Garten gekrabbelt, hat sich gewälzt und die beiden Hunde haben es ihm gleich getan. Er kriegt jetzt dann noch was zu essen und dann ist Zapfenstreich!“ erklärte Hildegard, gab dann aber zuerst noch den Hörer an den kleinen Mann weiter. „Tim-die Mama ist dran!“ sagte sie und schon ertönte ein „Hallo, hallo!“ aus dem Telefon. Sarah kamen fast die Tränen-es war nur gut, dass sie Hildegard hatten, die machte das schon, aber so sagte sie zu ihrem Sohn: „Tim-du hast jetzt eine kleine Schwester, wie dir Hildegard schon gesagt hat, das Baby ist jetzt nicht mehr in Mama´s Bauch, sondern auf der Welt. Morgen kommst du uns im Krankenhaus besuchen und darfst es dann halten!“ versprach sie. „Und ein Geschenk kriegst du dann auch!“ fügte sie hinzu und nun ertönte ein vergnügtes Lachen aus dem Hörer-für Geschenke war Tim immer zu haben und da hatte Sarah schon was für ihn in ihrer Kliniktasche. Sie machten aus, dass Hildegard mit Tim am nächsten Vormittag zu Besuch kommen würde und mit ihrer mütterlichen Art konnte sie Sarah die nötige Kraft übermitteln, die sie gerade so notwendig brauchte. „Ich rufe auch noch Konrad an, wenn es dir Recht ist!“ sagte Hildegard und nun wurde Sarah erst bewusst, dass ja außer dem engsten Kreis bisher noch niemand Bescheid wusste, was überhaupt geschehen war, denn die sogenannte Alarmliste, wie Ben scherzhaft die von der Geburt zu verständigenden Personen in seinem Handy genannt hatte, war natürlich nicht abgearbeitet-beim letzten Mal hatte er das selber erledigen können. „Tu das und Danke!“ sagte sie gerührt und als sie aufgelegt hatte, wählte sie noch die Nummer ihrer Eltern und sagte denen Bescheid, was die allerdings aus allen Wolken fallen ließ. „Kind-wir kommen dich morgen gleich besuchen, informieren deine Geschwister und für dich und Ben alles Gute!“ wünschte ihr ihre Mutter und so konnte Sarah, nachdem ihre Kollegen mit ihr noch aufgestanden waren und alles wieder funktionierte, doch die Augen schließen und ein wenig schlafen. Sie konnte jetzt sowieso nichts machen, außer abwarten und für ihre Kinder da sein, die hoffentlich auch morgen noch beide Eltern hatten.

  • Die Nacht verlief ruhig. Sarah schlief trotz aller Sorgen zumindest einige Stunden-zu groß war einfach die Erschöpfung nach den Ereignissen der letzten Tage. Sie willigte sogar ein, dass man ihre kleine Tochter im Kinderzimmer betreute und nur frisch gewickelt zum Stillen brachte-sie wäre einfach noch nicht fähig gewesen, das selber zu machen und genoss so die Vorteile im Krankenhaus-daheim hatte sie dann noch lange genug beide Kinder und hatte sich mental schon auf unruhige Nächte eingestellt, wie das eben mit Neugeborenen oft war-und Ben würde sie zumindest in der ersten Zeit nicht unterstützen können, soviel war klar.
    Auch Semir schlief in seinem Zimmer auf der Station-er vertraute einfach dem Pflegepersonal der Intensivstation, dass die ihn verständigen würden, wenn bei Ben etwas Unerwartetes geschah und auch wenn er häufig hüsteln musste, er zwang sich, sich auszuruhen-man wusste schließlich nicht, was der nächste Tag bringen würde und wie viel Kraft sie da alle miteinander noch für Ben brauchten, wenn der wieder wach war.


    Ben wurde auf der Intensivstation weiter versorgt. Er war tief sediert, man lagerte ihn alle zwei Stunden, damit er sich nicht wund lag, saugte den Schleim aus seinen Bronchien und dem Mund, was ihn aber nicht einmal zum Husten brachte-so hoch liefen die Narkosemittel- und achtete darauf, dass er mit der Temperatur im Zielbereich lag.
    Am Morgen lief die Morgenroutine an, er wurde gewaschen, die Visite kam, auch Semir stand schon früh auf der Matte, ohne dass Ben davon irgendetwas mit bekam und der Chefarzt hatte in die Akte gesehen. „Wir haben um 16.00 Uhr mit der Kühlung begonnen, also wird die heute ebenfalls um sechzehn Uhr beendet und die Sedierung reduziert-dann werden wir mal sehen, was passiert!“ und die anderen Ärzte und Schwestern nickten-soweit war das Routine.

    Bei Semir standen, nachdem er zum Frühstück wieder zurück im Zimmer war, kurz darauf die Internisten auf der Matte. Man nahm ihm nochmals Blut ab und der Stationsarzt hörte ihn ab. „Herr Gerkhan, das klingt noch nicht gut in ihrem Brustkorb. Ich würde sie nachher gerne zum Lungenfunktionstest und Thoraxröntgen schicken, mir persönlich wäre es aber ganz Recht, wenn sie noch ein paar Tage bei uns blieben!“ sagte er und zu seinem Erstaunen willigte Semir sofort ein. Es hatte wegen Ben für ihn Vorteile ein Bett und das Essen im Krankenhaus zu haben und so ganz fit war er wirklich noch nicht-gerade wenn er versuchte Treppen zu steigen, blieb ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Luft weg.


    So verging der Tag und als Semir am Vormittag nach Sarah sah, hatte die eine große Bitte an ihn: „Semir-ich weiss, dir geht es selber noch nicht so gut, aber bevor nachher Hildegard mit Tim kommt und meine Familie anrollt, um Mia-Sophie anzuschauen, würde ich gerne nach Ben sehen, aber ich schaffe es einfach noch nicht, so weit zu laufen!“ erzählte sie ihm. Was sie verschwieg war, dass sie das durchaus schon alleine probiert hatte, aber nicht sonderlich weit gekommen war, weil ihr auf dem Flur die Beine eingeknickt waren. Ihre Kolleginnen hatten sie wieder ins Bett geschleift und sie ein wenig geschimpft, aber von denen konnte gerade keiner weg, um sie mit dem Rollstuhl irgendwo hin zu bringen, auch wenn sie natürlich verstanden, dass sie gerne nach ihrem Mann sehen würde, aber die Stationsabläufe ließen diesen Freiraum heute einfach nicht zu. So waren wenig später Sarah im Rollstuhl und Semir, der den langsam schob, unterwegs zu Ben. Sarah hatte von der Hebamme ein Polaroidbild von Mia-Sophie bekommen, das sie nun fest an sich drückte und gleich nach der Ankunft bei ihrem schlafenden Mann auf sein Nachtkästchen stellte. Sie hatte sich über ihn gebeugt und ihn auf die Stirn geküsst. Auch wenn sie den Anblick von Intensivpatienten, die gerade gekühlt wurden, zur Genüge kannte, war das doch etwas ganz anderes, wenn da der Mann lag, den man liebte. Auch sie erschauerte von der Kälte die er verströmte und wie am Vortag Semir, hatte auch sie böse Visionen als sie seine kalte Hand ergriff. „Bitte Schatz-kämpfe! Tu es für mich und unsere Kinder!“ sagte sie tief bewegt, aber dann wurde ihr ein wenig übel und schwindlig und so war Semir wenig später eilig wieder mit ihr auf dem Rückweg ins Zimmer. „Verdammt-ich würde so gerne länger bei Ben bleiben, aber mein Kreislauf macht einfach noch nicht mit!“ sagte sie, als sie wenig später schweißgebadet wieder in ihrem Bett lag. Semir sagte ernst und freundlich: „Sarah-dafür bin ja ich da. Mir geht’s eigentlich gar nicht so schlecht, ich inhaliere brav und lasse mich auch behandeln, aber der Hauptgrund dafür, dass ich noch nicht auf meine Entlassung gedrängt habe ist, dass ich für Ben da sein will, wenn er mich braucht!“ und Sarah griff nach seiner Hand und sagte einfach: „Danke!“
    Semir brachte die Untersuchungen hinter sich, es wurde festgestellt, dass er durch das giftige Gas, das er eingeatmet hatte, ein wenig Flüssigkeit in der Lunge hatte, die mit ausschwemmenden Medikamenten und weiteren Inhalationen behandelt wurde. Auch die Leberwerte waren angestiegen-nicht richtig besorgniserregend, aber eine weitere Krankenhausbehandlung war auf jeden Fall gerechtfertigt.


    Andrea hatte inzwischen die benötigten Sachen für Sarah geholt, verbrachte dann noch Zeit mit ihrem Mann und bei Sarah kamen erst Tim und Hildegard und später auch noch ihre Eltern, Konrad und Julia zu Besuch. Tim sah das neue Baby neugierig, aber eher gelassen an und war viel mehr an dem Geschenk interessiert, das die Mama ihm versprochen hatte. Es war eine kleine Babypuppe, die man ebenfalls wickeln und füttern konnte, mit Zubehör wie Windeln und Fläschchen und die drückte er eng an sich. Sarah und Ben hatten sich amüsiert, als Sarah die gekauft hatte. „Lass das ja nicht meinen Vater sehen, dass du seinem Enkel eine Puppe schenkst!“ hatte Ben geflachst und auf Sarah´s Frage warum, hatte er grinsend geantwortet: „Weil er dann vermutlich schwul wird, wenn ich die Gedankengänge meines Vaters richtig nachvollziehe. Er wäre vermutlich vom Glauben abgefallen, wenn ich mit Julia´s Puppen gespielt hätte, während es völlig normal war, dass Julia sich an meinen Matchboxautos bedient hat. Sein Rollenverständnis lässt nicht zu, dass Jungs mit „Mädchensachen“ spielen, aber ich finde das gut, dass Tim da alle Angebote hat!“ immerhin war das auch nicht Tim´s erste Puppe, wobei er sich eindeutig mehr für Dinge interessierte, die Räder hatten. Sarah versuchte ihm dann noch den Namen seiner kleinen Schwester beizubringen, aber er beharrte darauf, den zweiten Teil wegzulassen, sondern sagte nur „Mia!“ und damit waren dann auch alle einverstanden. Das Baby wurde gebührend bewundert und herum gereicht, aber Sarah war nach einer Weile froh, als die Besucher sich verabschiedeten, sie war doch noch sehr müde und erschöpft und nach dem Mittagessen schlief sie noch ein wenig, um zu Kräften zu kommen, vielleicht schaffte sie es dann heute am Abend länger bei ihrem Mann zu bleiben, wenn der dann vielleicht schon wach war.


    Um sechzehn Uhr beendete man die Kühlung und reduzierte zunächst einmal die Sedierung. Ganz ausschalten würde man sie erst, wenn Ben wieder Normaltemperatur, also mindestens 36.5°C erreicht hatte. Semir hatte wieder am Bett seines Freundes Platz genommen, dessen freie Hand man nun fest gebunden hatte. Zwei Stunden später war es so weit, die Normaltemperatur war erreicht und die betreuende Schwester-wieder Sarah´s Freundin, die ihn am Vortag schon aufgenommen hatte, schaltete die Perfusoren aus. „Jetzt warten wir mal ab, was passiert!“ sagte sie aufmunternd zu Semir, der gespannt daneben saß und die Regungen seines Freundes beobachtete und immer wieder beruhigende Worte sagte. Er hatte Sarah versprochen, sie später nochmals mit dem Rollstuhl abzuholen, aber jetzt wollte er, dass Ben nicht alleine war, wenn er zurück in die Realität kam. Ben hatte schon planmäßig begonnen dazu zu atmen, als man die Sedierung herunter gefahren hatte, was ein gutes Zeichen war, aber jetzt war es an der Zeit, dass er die Augen aufschlug und seine Umgebung wahr nahm und darauf wartete Semir und auch das Intensivpersonal.

  • Irgendwann begann Ben sich zu regen und gegen die Handfessel zu zerren. Er atmete hektisch und viel zu schnell, so dass die Beatmungsmaschine Alarm gab. Die Schwester kam sofort herein, quittierte den Alarm und sagte: „Herr Jäger machen sie bitte die Augen auf!“ aber er kniff sie nur noch fester zu. Die Pflegekraft erklärte Semir: „Er muss erst wieder so weit bei sich sein, dass er einfachen Aufforderungen nachkommen kann und vor allem muss der Hustenreflex funktionieren, aber ich denke das dauert noch!“ Ben wurde immer unruhiger und nun versuchte auch Semir ihn dazu zu bringen, ihn anzusehen: „Ben-schau mich an! Du bist nicht mehr in dem Keller, du bist im Krankenhaus in Sicherheit, Sarah und dem Baby geht es gut, mach dir also keine Sorgen!“ rief er eindringlich, aber Ben kämpfte nur noch hektischer gegen die Fesseln, warf sich herum und war völlig panisch, so dass es fast nicht mit anzusehen war.
    Semir blickte unglücklich auf seinen Freund, der schon völlig nass geschwitzt war. Ständig gab entweder der Monitor, oder die Beatmungsmaschine Alarm, weil Ben gegen die Maschine presste, seine Atemfrequenz viel zu hoch war und auch sei Herz wie rasend in seinem Brustkorb pochte und der Blutdruck anstieg. Der Arzt kam auch mehrmals, aber so war an eine geregelte Extubation nicht zu denken. „Vielleicht hat er doch noch starke Schmerzen?“ überlegte der Doktor, denn man hatte seinem Patienten zwar periphere Schmerzmittel Paracetamol und Metamizol als Kurzinfusion zukommen lassen, aber tatsächlich, als er den Opiatperfusor in niedriger Dosierung wieder einschaltete, wurde Ben ein wenig ruhiger.


    Allerdings war auch seine Temperatur jetzt besorgniserregend angestiegen. Er glühte regelrecht vor sich hin und das Fieber war binnen Kurzem schon bei über 39°C und die Temperaturanzeige auf dem Monitor kletterte unaufhaltsam nach oben, obwohl das Novalgin und Paracetamol ja beides eigentlich fiebersenkend wirkten, aber davon bemerkte man bei Ben im Augenblick nichts. „Woher kommt nur das Fieber?“ fragte sich der Stationsarzt und befahl kurzerhand der betreuenden Schwester: „Machen wir eine Thoraxaufnahme, nicht dass er jetzt noch eine Pneumonie dazu hat-es war ja sicher feucht und kalt in diesem Keller und die Hypothermiebehandlung war da vielleicht noch das Tüpfelchen auf dem I!“ überlegte der Arzt laut und wenig später stand die Röntgenassistentin mit dem fahrbaren Röntgengerät vor ihnen. Allerdings musste man Ben nun, damit man eine nicht verwackelte Aufnahme bekam, erneut sedieren, er bekam einen Propofolbolus, dass er erschlaffte und die Beatmungsmaschine selbstständig in einen kontrollierten Beatmungsmodus sprang. Semir wurde hinaus gebeten, weil er erstens nicht unnötig mit Röntgenstrahlen in Berührung kommen sollte und zweitens weil jetzt der Arzt, die Schwester und die Radiologieassistentin den dunkelhaarigen Polizisten losbanden, anhoben und die Röntgenkassette unter seinen nackten Oberkörper legten. Dann gingen alle hinaus und wenig später war die Aufnahme mittels Fernbedienung geschossen und man konnte die Kassette wieder entnehmen und zum Entwickeln geben. Allerdings konnte der Arzt, als er Minuten später die digitalisierte Aufnahme am PC ansah, keinen Anhalt für eine Pneumonie finden-das war also nicht die Fieberursache.


    Derweil stieg Ben´s Fieber weiter an und die Schwester beschloss gleich die Gunst der Stunde zu nutzen, solange die Sedierung noch anhielt, ihren Patienten kühl abzuwaschen und die verschwitzte und zerwühlte Bettwäsche zu erneuern. Semir half ihr dabei und so kalt Ben´s Körper gestern gewesen war, so glühte er jetzt und auch die kühle Waschung, die ihm sicher wohl tat, senkte seine Temperatur nur um zwei Zehntel.
    Als wenig später die Körpertemperatur über 40°C gestiegen war, brach der Oberarzt, den man dazu geholt hatte, den Extubationsversuch ab. „Fieber in dieser Höhe ist im Weaningprotokoll ein Punkt, der den Patienten als noch nicht extubationsfähig erklärt. Außerdem besteht auch die Gefahr eines Herzinfarkts, wenn er sich so aufregt und anstrengt. Wir müssen jetzt erst auf Infektsuche gehen, die Blutwerte auf Entzündungsmarker kontrollieren und die Ursache des Fiebers angehen.“ kommentierte er seine Anordnung. Man verband auch gleich noch die freiliegende Hand neu, was ja die einzige offene Verletzung war und Semir erschauerte, als er die Handfläche und Fingerinnenseiten sah, die von Blasen übersät und teilweise schwarz waren. Nun entfernte man-Gott sei Dank unter Sedierung- auch vorrübergehend vorsichtig den Gilchristverband, um die andere Hand zu versorgen und nicht nur die Handinnenseite sah genauso übel aus wie die andere, sondern auch die ganze Schulter war ein einziger Bluterguss. „Wir werden morgen die Handchirurgen bitten, sich die Verbrennungen gründlich anzuschauen und die Nekrosen zu entfernen, aber ich denke nicht, dass das die Ursache für das hohe Fieber ist!“ überlegte der Oberarzt laut, während man nun einen feuchten Spezialverband auf die Hände gab und dann den Gilchristverband wieder anlegte.
    Ben bekam nun Wadenwickel und während er ganz schlaff wieder in den Kissen lag, fiel Semir siedend heiß ein, dass Sarah vermutlich voller Bangen und Sorge darauf wartete, dass er sie abholte. Er sah auf die Uhr. Es war inzwischen 21.00 Uhr geworden und sogleich ging er los, um die Frau seines Freundes zu holen.


    Hoffnungsvoll sah die ihm entgegen und fragte: „Ist er wach?“ aber Semir schüttelte nur stumm den Kopf. Sarah setzte sich trotzdem gefasst in den Rollstuhl und ließ sich von ihm auf die Intensivstation bringen. „Manchmal geht es eben nicht so schnell!“ sprach sie sich selber Mut zu und küsste Ben dann liebevoll auf die Wange, als sie bei ihm angekommen war. „Ach Schatz-was machst du denn für Sachen?“ fragte sie ihn, aber Ben konnte nicht antworten, weil die Narkosemittel wieder Macht über ihn hatten. Nun blies auch das Thermacair erneut kühle Luft auf den fieberheißen Körper, Kühlkompressen lagen in seinen Leisten und man schaffte es gerade so das Fieber um die 40°C zu halten. „Ich würde vorschlagen, ihr geht jetzt trotzdem wieder auf eure Zimmer und ruht euch selber aus. Wir passen gut auf Ben auf und wenn es Komplikationen gibt, werdet ihr natürlich verständigt!“ sagte Sarah´s Freundin freundlich und Semir und Sarah nickten beide zu ihren Worten. Sie konnten ja eh gerade nichts machen und morgen würde man vielleicht einen neuen Versuch starten, diesmal hoffentlich mit mehr Erfolg.


    Ben bekam viele kühle Infusionen um die Diurese in Gang zu halten und die Flüssigkeitsbilanz auszugleichen, seine Blutgase und Elektrolyte wurden häufig kontrolliert aber deshalb lag er ja auf einer Intensivstation, damit man ihn genauestens überwachen und versorgen konnte und Sarah und auch Semir vertrauten den behandelnden Ärzten und den Pflegekräften. Die würden alles tun, was in ihrer Macht stand, damit Ben das überlebte, aber es würde anscheinend schwieriger werden, als sie gedacht hatten. So ging der Tag doch anders zu Ende als sie gehofft hatten, aber dennoch schliefen Sarah und Semir ein-morgen war ein neuer Tag und vielleicht sah da alles schon wieder besser aus!

  • Im Verlauf der Nacht war Ben´s Flüssigkeitsbedarf beinahe ins Unermessliche gestiegen. So schnell man die Infusionen anhängte, so schnell füllte sich auch das Stundenglas des Urimeters. Er verlor teilweise fast zwei Liter pro Stunde und die Nachtschwester hatte heftig zu tun, ihn erstens nach zu bilanzieren, wie man das nannte, wenn man jeden verlorenen Liter ersetzte, zweitens ständig Blutgase zu machen und die verlorenen Elektrolyte auszugleichen und in ihre Rechenmodelle der benötigten Flüssigkeit auch die hohen Temperaturen nach einer Tabelle einzurechnen, die die Körperoberfläche und die Verdunstung, die sogenannte Perspiratio, berücksichtigte.
    Zudem war das Fieber nur schwer in den Griff zu kriegen. Sobald die Kühlkompressen warm wurden, oder man das Thermacair nur eine kurze Zeit beiseite nahm, um Ben zu betten und die verschwitzen Unterlagen zu erneuern, stieg seine Temperatur weit über vierzig, so dass sich in den frühen Morgenstunden der diensthabende Intensivarzt dazu entschloss, ihm doch auch ohne Nachweis einer Infektionsquelle ein Breitbandantibiotikum zu geben. Zuvor entnahm man noch Blutkulturen, in der Hoffnung dort vielleicht einen Erregernachweis führen zu können und die Antibiose später zu überprüfen und eventuell anzugleichen. Eigentlich widersprach dieses Vorgehen den aktuell geltenden Leitlinien für die Verabreichung von Antibiotika, aber dem Arzt war ohne einfach unwohl und so würde er den mit Sicherheit kommenden Anpfiff des Chefarztes eben aushalten und seine Einzelfallentscheidung begründen. Aber auch mit Antibiose änderte sich an Ben´s Zustand momentan überhaupt nichts, allerdings musste man vermutlich auch noch zuwarten, bis das Medikament seine Wirkung entfalten konnte.


    So brach der Morgen herein und Semir war kaum aufgestanden, da zog es ihn mit Macht zu seinem Freund. Noch vor dem Frühstück läutete er draußen an der Intensiv und normalerweise würde man Besucher jetzt abweisen, weil die die Morgenroutine störten, aber bei Semir machte man eine Ausnahme, weil Ben eben der Mann einer Kollegin war und so stand Semir wenig später vor seinem Freund und betrachtete ihn voller Sorge. „Er hat eine harte Nacht hinter sich, gut dass er sediert ist, so bekommt er es wenigstens nicht in vollem Umfang mit, wie schlecht es ihm noch geht!“ sagte die Schwester, die seine Versorgung in der Frühschicht übernommen hatte. Ben wirkte eingefallen, erschöpft und ausgemergelt, obwohl er ihn ja nur wenige Stunden nicht gesehen hatte, fiel Semir die Veränderung sofort auf. Auch lief wieder Noradrenalin, um seinen Kreislauf zu stützen, während er gestern beim Aufwachversuch ja eher einen hohen Blutdruck gehabt hatte. „Was ist mit ihm und warum hat man Sarah und mich nicht verständigt?“ wollte der Deutschtürke nun wissen, aber die Schwester sagte nur: „Es war ja kein direktes Ereignis heute Nacht-nur ist sein Fieber einfach immer noch hoch und er schwemmt Flüssigkeit eben schneller aus, als man sie anhängen kann!“ erklärte sie und Semir beschloss, nun doch Sarah zu holen.


    Die hatte schon gefrühstückt und das Baby gestillt und war wenig später mit Semir auf dem Weg zu Ben. „Sarah-ich habe keine Ahnung was ihm fehlt, aber Ben sieht schlechter aus als gestern-ich mache mir Sorgen!“ hatte er ihr erklärt und voller Bangen erwartete Sarah seinen Anblick. Auch ihr fiel die negative Entwicklung auf, sie konnte nun schon länger auf sein und deshalb halfen sie und Semir so gut es ging beim Waschen und blieben dann zur Visite. Der Chefarzt und sein Tross ließen sich über die Vorkommnisse der Nacht, die Polyurie, das anhaltende Fieber und die blinde Antibiotikagabe informieren und mit ernstem Gesichtsausdruck legte der Chefarzt den weiteren Behandlungsplan fest.
    „Das mit der Antibiose war in Ordnung-ich hätte das auch so gemacht!“ beschied er dem überraschten Nachtdienstarzt, der nach der Visite in den verdienten Feierabend- oder eher Feiermorgen- gehen würde. „Wir geben jetzt probeweise Minirin Nasenspray und sehen dann, ob die Ausscheidung weniger wird!“ ordnete er an und kaum war die Visite weiter gezogen, kam Ben´s betreuende Schwester schon mit einem kleinen Fläschchen, das im Kühlschrank gelagert wurde und nun mit einem Patientenetikett versehen war. Sie sprühte eine geringe Menge in Ben´s Nasenloch, durch das keine Ernährungssonde lief und nur Minuten später begann die Urinausscheidung weniger zu werden.
    Sarah hatte das mit Bangen verfolgt und sagte jetzt mit schwacher Stimme: „Semir-bring mich bitte wieder zurück auf mein Zimmer-ich muss mich jetzt hinlegen, mein Kreislauf schwächelt gerade!“ und dabei hatte sie einen kummervollen Blick mit ihrer Kollegin gewechselt.


    Semir beeilte sich den Rollstuhl zu packen und mit Sarah zurück zu fahren, die sich in ihrem Zimmer aufatmend wieder flach legte. Erst jetzt getraute er sich zu fragen: „Was war das, was Ben da bekommen hat und warum bist du so entsetzt gewesen, als der Urin weniger geworden ist-das ist doch gut so, wenn ich das richtig verstanden habe?“ und nun erklärte ihm Sarah mit schwacher Stimme: „Minirin ist künstlich hergestelltes antidiuretisches Hormon, das in den Regulationskreislauf zwischen der Hypophyse und den Nieren eingreift!“ und nun sah Semir sie völlig verständnislos an-das war ihm ein wenig zu hoch und schon gar nicht konnte er jetzt verstehen, warum Sarah so niedergeschlagen war, das Ziel hatte man ja anscheinend erreicht-Ben pinkelte weniger und das war doch gut, aber als Sarah nun weiter erklärte, wurde auch er blass. „Die Hypophyse, oder auch Hirnanhangsdrüse sitzt im Zwischenhirn und wenn die Polyurie auf diese Behandlung anspricht, zeigt das, dass die Ursache für die massive Urinausscheidung nicht in den Nieren liegt, sondern im Gehirn, weil sozusagen die Zentralsteuerung gestört ist. Zusammen mit dem Fieber, das man dann als zentrales Fieber bezeichnet, ist das ein Hinweis darauf, dass Ben´s Gehirn durch den Stromschlag, oder durch mangelnde Durchblutung bei der Reanimation Schaden genommen hat. Semir-wir wissen nicht, ob Ben das Ganze ohne Schäden überleben wird!“ sagte sie nun und begann zu weinen und Semir nahm sie einfach wortlos in die Arme-es war das einzige, was er gerade tun konnte, geschockt wie er war.

  • Semir ging wie in Trance in sein Zimmer zurück, er fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weg gezogen. Teilnahmslos würgte er ein halbes Brötchen hinunter und trank den inzwischen lauwarmen Kaffee, ohne irgendwas zu schmecken, aber er musste seinen Körper am Funktionieren halten-vor allem Sarah würde seine Kraft noch brauchen-und Ben, ach Ben…ihm kamen beinahe die Tränen, als er in Gedanken seinen vitalen, fröhlichen, intelligenten, jungen Kollegen vor sich sah. War das vorbei und würde da ein sabbernder Pflegefall im Rollstuhl daraus werden, der seine Kinder nicht einmal erkannte? Später ging er wieder zu Ben und dort bestätigte der Stationsarzt Sarah´s Vermutung.

    Als er allerdings sah, wie niedergeschlagen der Freund seines Patienten war, musste er ihm schon etwas Positives mit auf den Weg geben: „Herr Gerkhan-natürlich ist das gerade eine schlimme Situation, wenn ein junger Familienvater so daliegt, aber wir haben durchaus Hoffnung, dass er das überleben kann-vielleicht sogar mit wenigen oder gar keinen bleibenden Schäden-auch wenn das noch ein harter Weg wird, aber bei Stromunfällen ist die Prognose trotzdem besser als bei anderen Verletzungen, Schlaganfällen oder chronischen Hirnerkrankungen, denn Nervengewebe, wie wir ja im Gehirn vorliegen haben, leitet eben den Strom besser als andere Körpergewebe-dafür sind Nerven ja auch konstruiert. Das bedeutet aber auch, dass die Schädigung gar nicht so groß sein muss. Wir machen später noch eine spezielle Untersuchung des Gehirns, eine MRT-Untersuchung mit Kontrastmittel und einer Angiographie, also eine Darstellung der Hirngefäße, dann können wir das Ausmaß der Schäden besser beurteilen und die Neurologen erstellen uns dann eine Prognose. Wenn wir das alles haben, sehen wir weiter-geben sie den Mut noch nicht auf und trösten sie vor allem auch Sarah, die ja am Schlimmsten betroffen ist!“ gab er ihm mit auf den Weg und Semir ging nun zu seiner Freundin, die im Bett lag, verheulte Augen hatte und ihr Baby an sich drückte und erzählte ihr, was der Arzt gesagt hatte.

    Sarah hörte aufmerksam zu, gab Semir dann das Neugeborene, der die Kleine ganz vorsichtig nahm-mein Gott-waren seine Töchter auch einmal so winzig gewesen?- schneuzte sich, atmete tief durch und sagte dann: „Ich weiss er wird es schaffen-und wenn etwas zurück bleibt, dann werden wir es annehmen. Gott sei Dank liegen ja die finanziellen Voraussetzungen vor, dass wir unser Haus behindertengerecht umbauen können, ich kann mir eine Haushaltshilfe und eine Pflegerin anstellen und dann werden wir das wuppen-er muss es nur überleben!“ und Semir sagte mit fester Stimme: „Und ich bin auch da-aber das weisst du ja, das hätte ich gar nicht erwähnen müssen!“ und nun schenkte ihm Sarah ein Lächeln und erwiderte: „Ja das weiss ich-und Ben und ich, wir wissen das zu schätzen!“


    Als Semir das nächste Mal nach oben ging, um seinen Freund zu besuchen, wurde der gerade in die Radiologie gefahren. Routiniert schoben der Arzt und die Schwester den Intensivtransport durch die Gänge und Semir ging einfach mit, öffnete Türen, holte Aufzüge und durfte dann hinter der Glasscheibe zusehen, was mit seinem Freund angestellt wurde. Man hatte alle metallischen Dinge von seinem Körper entfernt, ein spezielles Beatmungsgerät mit extra langen Schläuchen genommen, das außerhalb des Untersuchungsraums bleiben konnte, die Überwachungselektroden waren aus Kunststoff und auch der Monitor, der draußen positioniert wurde, wie auch die Perfusoren die ihn sedierten und seinen Kreislauf stützten, hatten lange Kabel und Schlauchleitungen, damit das MRT, das ja mit Magnetfeldern arbeitete, nicht gestört wurde. An einen freien Schenkel des ZVK wurde das Kontrastmittel angeschlossen, dessen Pumpe von außen gesteuert werden konnte und dann ging die Untersuchung, die etwa 20 Minuten dauerte, auch schon los. Durch die schallisolierten Wände hörte man das rhythmische Klopfen der Schallwellen und Semir erinnerte sich daran, dass er sowas bei einer Knieverletzung auch schon mal gehabt hatte und da sehr froh um die Kopfhörer gewesen war, so laut war das gewesen-und außerdem eng in der Röhre-nur gut, dass er nicht an Platzangst litt. Aber für Ben war er froh, dass der tief sediert war, denn das wäre jetzt für ihn vermutlich ein Gefühl wie in dem Sarg, in dem ihn Wolf Mahler damals eingegraben und fast ertränkt hätte.

    Auf dem Bildschirm erschienen Einblicke in Ben´s Gehirn, die der Computer errechnete und schon während der Untersuchung betrachtete die der Radiologe aufmerksam. Gegen Ende kam dann noch ein Neurologe dazu, das Kontrastmittel hatte man ebenfalls schon gegeben und dann die Hirngefäße dargestellt und während der Intensivarzt und die Schwester Ben nun wieder übernahmen und vorsichtig, damit man keinen Schlauch und kein Kabel heraus zog, mit dem Rollbrett vom Untersuchungstisch in sein Bett beförderten, die Kühlkompressen erneut um ihn drapierten und dann wieder zurück auf die Intensiv fuhren, besahen sich die beiden Fachleute die Bilder und diskutierten über manche Befunde und besprachen die. Nachdem nach einer ganzen Weile Ben wieder an seinem Bettplatz verkabelt, die Verlängerungen abgebaut, das normale Beatmungsgerät in Betrieb war und Semir nun erneut Sarah in ihrem Rollstuhl geholt hatte, kam der Neurologe ins Zimmer, um die Angehörigen zu informieren, was sie gefunden hatten.


    Er stellte sich vor, gab Sarah und Semir die Hand und erklärte dann: „Obwohl natürlich durchaus eine Schädigung des Zwischenhirns mit der Neurohypophyse zu erkennen ist, was man an einer diskreten Ödemzone erkennen kann“ -Semir nahm sich vor, sich später von Sarah dieses Fachchinesisch übersetzen zu lassen- „geben die Bilder trotzdem Anlass zu Hoffnung. Es ist, so wie es aussieht, wirklich nur dieser Bereich betroffen und wenn wir mit Cortison das Gewebe zum Abschwellen bringen, könnte die Temperaturregulation und die Hormonproduktion sich wieder einstellen. Ansonsten haben wir regelrechte Gefäßverhältnisse, weder Stammhirn noch Frontalhirn sind betroffen, ich würde fast davon ausgehen, natürlich ohne eine Garantie geben zu können, dass Herr Jäger das folgenlos überstehen wird-meine Befunde beziehen sich jetzt natürlich nur auf die Gehirnverletzung!“ und nun brach Sarah zum zweiten Mal an diesem Morgen in Tränen aus, aber diesmal vor Erleichterung. Als der Arzt das Zimmer wieder verlassen hatte, bedeckte sie Ben´s immer noch glühend heißes Gesicht mit kleinen Küssen und ihre Tränen tropften auf ihn, als sie sagte: „Du wirst wieder ganz gesund, mein Schatz-hast du gehört?“ und Semir hätte schwören können, dass Ben sich ein klein wenig bewegt und mit den Augen gezwinkert hatte, als wenn er sagen wollte: „Na klar-was habt ihr denn anderes erwartet?

  • Wenig später stand eine Schwester im Raum und spritzte Ben das Dexamethason, ein Cortison, das man gerne bei Schädel-Hirn-Traumen verabreichte. „Er kriegt jetzt initial 8mg und später nochmals vier und das Ganze so lange, bis die zentrale Symptomatik weg ist!“ sagte sie und Sarah, die gerade wieder begann blass zu werden, nickte. „Ich weiss ihn bei euch in guten Händen, aber jetzt muss ich mich glaube ich wieder hinlegen!“ flüsterte sie und Semir beeilte sich den Rollstuhl zu packen und seine Freundin auf die Entbindungsstation zu bringen. Innerhalb weniger Stunden waren sie beide von völliger Verzweiflung wieder zu voller Hoffnung gewandert, auch dieses emotionale Wechselbad war zusätzlich noch anstrengend und so legte sich Sarah erleichtert flach, ließ sich ihre Kleine bringen, die derweil im Kinderzimmer geparkt worden war und jetzt mit einem Wärmfläschchen in ihrem Babybettchen friedlich schlief und versuchte sich bis zum Mittagessen ein wenig auszuruhen.
    Semir überlegte kurz, aber ihn zog es einfach zu seinem Freund und nachdem er in seinem Zimmer noch kurz inhaliert hatte, was seiner Lunge sehr gut tat, machte er sich wieder auf den Weg zur Intensivstation.


    Ben wurde immer noch mechanisch gekühlt, aber man hatte ihm durch die Magensonde begonnen ein wenig Sondenkost zu verabreichen, damit die Dünndarmzotten nicht abstarben. Solange das hohe Fieber anhielt, würde man ihn nicht extubieren, weil ohne Sedierung eine effiziente Kühlung nicht möglich war. Das antidiuretische Hormon konnte man weiter als Nasenspray oder auch intravenös geben, das stellte nicht das Problem dar, aber wenn die zentrale Temperatursteuerung versagte, wirkten keine fiebersenkenden Medikamente und wenn man nicht aufpasste, stieg die Temperatur bei diesen Patienten rasant an und bei 42°C gerann das Eiweiß im Blut und dann trat unwiderruflich der Tod ein. Also wurde Ben weiter in Coolpacks gehüllt-wobei man aber aufpassen musste, dass keine lokalen Erfrierungen auftraten-und das Thermacair pustete kalte Luft und damit gelang es die Temperatur so um die 40°C zu halten.


    Wenig später stand ein Handchirurg vor ihnen und besah sich die freie Hand, die nicht unter dem Gilchrist verborgen war. „Oh ja-da muss ich Nekrosen abtragen, sonst entzündet sich das!“ stellte er fest und holte noch das benötigte Instrumentarium. „Das muss jetzt nicht im OP erfolgen, da eine solche Wunde sowieso als kontaminiert gilt und die Kühlung kann hier effizienter fortgeführt werden!“ erklärte er Semir und fragte ihn, ob er zusehen wolle. Semir nickte interessiert-ihm wurde so leicht nicht schlecht und so betrachtete er staunend, wie der Arzt erst Ben´s Hand auf eine echte Bleihand legte und jeden einzelnen Finger durch einen kleinen Gummiring schob, damit er keine Faust machen konnte. Durch die Weichheit des Metalls konnte man das Hilfsmittel genau an Ben anmodellieren und seine Hand lag nun ausgestreckt da, wurde desinfiziert und dann begann der Chirurg, der sich dazu bequem hingesetzt hatte, damit mit einer Pinzette, feinen Scherchen und einem spitzen Skalpell die Wunde zu reinigen. In der Handfläche konnte Semir nach der Präparation die Sehnen erkennen und das sah ganz schön schaurig aus. „Die Sehnenplatte ist Gott sei Dank nicht beschädigt-ich denke, er wird also keine Funktionsstörungen zurück behalten!“ vermutete der Arzt, tupfte noch ein letztes Mal und legte dann erneut, angereicht von der Schwester, einen sterilen Feuchtverband an. Dann zog man Ben wie am Vortag wieder vorsichtig den Gilchristverband aus und Semir half, da mit anzufassen und seinen Freund anzuheben. „Wenn er wieder wach ist, wird er die Schulter wegen der Schmerzen sowieso schonen, so wie das aussieht, aber unter der Sedierung würde die vermutlich bei jedem Lagern herausspringen und die Schäden an der Gelenkkapsel würden so groß, dass man diesen sogenannten Labrumdefekt irgendwann nur noch operativ behandeln könnte, aber so ersparen wir ihm vielleicht eine weitere Operation-das Bein steht ja eh noch an!“ erklärte die Schwester und nun verfuhr man auf der zweiten Seite genauso wie bei der anderen Hand.
    Der einzige Unterschied war, dass die frische eingepackte Bleihand nun den Aufdruck: „Links“ auf der Verpackung hatte. Auch die zweite Handfläche und Daumeninnenseite wurde versorgt, der Handchirurg vergewisserte sich, dass sein Patient auch antibiotisch abgedeckt war und nachdem der Feuchtverband saß, packte man Ben wieder in seinen Stützverband und drehte ihn nun zur Seite und stabilisierte ihn so, damit er sich nicht wund lag. Sein Po war nämlich schon leicht gerötet, er war heute schon viel zu viel auf dem Rücken gelegen, was aber durch die Untersuchungen und Behandlungen nicht zu vermeiden gewesen war.

    Als endlich das Thermacair ihn wieder komplett bepustete und Ben nun friedlich schlafend da lag, sah Semir auf die Uhr-oh es war gerade Mittagessenszeit und jetzt hatte er auch wirklich Hunger-während ihm heute früh das Frühstück vor lauter Kummer nicht geschmeckt hatte. „Machs gut Großer!“ sagte er weich, als er sich verabschiedete. Wie lange würde es wohl dauern, bis er die passende Antwort von ihm bekam, die vermutlich lauten würde: „Du auch, Kleiner!“ aber bis dahin hatte Ben noch einen weiten, steinigen Weg vor sich.

  • Der nächste Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse. Ben blieb weiter beatmet und gekühlt, bekam sein Cortison, wurde gelagert und abgesaugt, aber sein Zustand veränderte sich nicht. Am übernächsten Tag allerdings begann die Temperatur zu fallen und das war ein sicheres Zeichen dafür, dass die Hirnschwellung zurück ging und die Neurohypophyse wieder begann, normal zu funktionieren. Man ließ probehalber das Minirin weg und die Urinausscheidung wurde dennoch nicht mehr.


    Nachdem Semir immer noch Atembeschwerden hatte und auch keine Anstalten machte, um seine Entlassung zu bitten, verlängerte man die stationäre Behandlung und das war irgendwie sehr praktisch für alle Beteiligten.
    Sarah erholte sich auch zusehends, aber sie war immer noch sehr schwach-kein Wunder nach dem Blutverlust, der sich ja von alleine egalisieren sollte. Man gab da keine Blutkonserven bei so jungen Frauen, um die Immunabwehr nicht zu stören, sondern verordnete Ruhe und Eisenpräparate und dann würde das schon von alleine werden-es dauerte eben seine Zeit! Tim freute sich inzwischen, wenn er zu Besuch kam, war auch sehr lieb zu dem Baby und spielte dann danach meistens intensiv mit seiner neuen Babypuppe, nur wenn er nach dem Papa fragte, wurde er vertröstet-die Mama sagte dann immer: „Der Papa schläft!“ aber da musste Tim, der ja die Sorge in der Stimme der Mutter auch mitbekam, dann weinen-allerdings war das schnell vergessen, wenn er dann mit Hildegard, die ihn vorbildlich versorgte, am Spielplatz war, oder mit den Hunden tollte.
    Sarah hatte inzwischen ihre Handtasche mit den Papieren und dem Handy zurück-die Chefin hatte sie persönlich gebracht, die Familienkutsche, die von Hartmut untersucht worden war, stand zur Abholung bereit auf dem Hof der KTU, Andrea goss die Blumen auf dem Gutshof und Historiker hatten damit begonnen die unterirdischen Gewölbe und den Gang zu untersuchen.


    Felix saß in Ossendorf im Untersuchungsgefängnis. Seine Eltern und Großeltern waren aus allen Wolken gefallen, als sie von den Anschuldigungen gegen ihren Sohn und Enkel erfuhren, allerdings war er vorbildlich und sagte bereitwillig aus, was die Chefin beim Verhör von ihm wissen wollte. Er hatte vor einen klaren Schnitt zu machen, für seine Schuld zu büßen und dann ein neues Leben anzufangen. Seine Familie stand zu ihm und hatte ihm auch einen guten Anwalt besorgt. Die Prognose war also gar nicht so schlecht.
    Die Obduktion an Peter Fitz hatte ergeben, dass er eines natürlichen Todes gestorben war-er war einem Herzinfarkt erlegen- und die Leiche war jetzt freigegeben, ruhte allerdings noch in der Pathologie in einem Kühlfach-bisher hatte man noch keine Angehörigen aufgetrieben, die das mit der Bestattung regeln würden.


    Als das Fieber ohne mechanische Kühlung nun nicht mehr über 38°C stieg, begann man bei Ben die Sedierung herunter zu fahren. Wieder, wie drei schicksalhafte Tage vorher, saß Semir nun am Bett seines Freundes und beobachtete, wie sich der langsam zurück ins Leben kämpfte. Inzwischen war die eine Hand wieder festgebunden, damit er nicht nach dem Tubus greifen konnte und Ben begann sich zu regen. Diesmal schien die beruhigende Stimme Semir´s anzukommen und obwohl man die Narkosemittel noch nicht völlig ausgeschaltet hatte, um nichts zu überstürzen, wurde er zunehmend wacher und atmete dazu. Irgendwann nach Stunden begannen seine Augenlider zu flackern und er musterte mit dem Hauch eines Erkennens seinen Freund, bevor sie ihm wieder zufielen. „Ben drück meine Hand, wenn du mich hören kannst!“ sagte Semir glücklich und jetzt war es eindeutig-der Griff verstärkte sich. Allerdings verzog Ben dann das Gesicht und Semir hatte ein schlechtes Gewissen-das tat unter dem Feuchtverband anscheinend noch ziemlich weh, obwohl die Verbrennungen laut Aussagen der Handchirurgen gut heilten.
    Semir beeilte sich nun Sarah dazu zu holen. Sie konnte zwar inzwischen schon länger auf sein, aber der Weg zur Intensiv war einfach noch zu weit und so hatte Semir inzwischen schon richtig Routine im Rollstuhl chauffieren. „Sarah-er hat auf mich reagiert!“ hatte Semir heraus gesprudelt, als er das Zimmer betreten hatte und Sarah hatte sofort ihre Freundinnen, die sie gerade besuchten, gebeten zu gehen-sie musste jetzt zu ihrem Mann, was jeder verstehen konnte. Als sich Sarah wenig später über ihn beugte und ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn gab, machte Ben die Augen auf und lächelte sie an, bevor er erschöpft wieder einschlief. „Gott sei Dank-er hat mich erkannt!“ flüsterte Sarah und dann liefen Freudentränen ihre Wange hinunter.
    Der Stationsarzt war ebenfalls sehr zufrieden und sagte, nachdem er Ben wie jeden Tag untersucht hatte und der auch mit ihm gezielt kommuniziert hatte, indem er die Augen auf Kommando öffnete und schloss und auch zu husten versuchte: „Wenn alles planmäßig so weiter läuft, ist für morgen die Extubation geplant!“ und in dieser Nacht konnten Sarah und Semir vor Vorfreude fast nicht schlafen-morgen konnten sie mit ihrem Mann und Freund vermutlich wieder ganz normal kommunizieren!

  • Am nächsten Morgen ließ man während des Waschens bei Ben die Perfusoren mit dem Schlafmittel und dem Opiat noch in niedriger Dosierung laufen, damit es alle Beteiligten leichter hatten, aber dann schaltete man sie aus. Weiterhin bekam er gegen die Schmerzen, die die Knochenbrüche und anderen Verletzungen verursachten, periphere Schmerzmittel, das sollte genügen.
    Wenig später läutete Semir, der schon geduscht und gefrühstückt hatte, an der Intensivtür und wurde auch sofort herein gelassen. „Heute ist der große Tag-ich glaube aber nicht, dass die Extubation Probleme machen wird!“ vermutete Ben´s betreuende Schwester. „Herr Jäger atmet schon seit gestern wunderbar alleine an der Maschine, sobald er richtig wach ist, ziehen wir den Schlauch heraus und dann können sie wieder miteinander kommunizieren!“ prophezeite sie und Semir bedankte sich mit einem Lächeln für die Auskunft und zog sich einen Stuhl an das Bett seines Freundes.


    „Hey-guten Morgen! Hast du gut geschlafen?“ wollte er wissen und Ben wandte zwar den Kopf zu ihm und erkannte ihn eindeutig, aber irgendwie war er total angespannt und seine Augen waren voller Tränen. „Kein Grund zum Weinen Ben, alles ist gut, Sarah und deine Tochter sind wohlauf!“ versuchte Semir ihn zu trösten. Vermutlich wusste sein Freund überhaupt nicht, was vorgefallen war. Sarah hatte ihm von den schicksalsträchtigen Momenten im Keller erzählt, als Ben an dem Gitter gehangen hatte und der Strom durch seinen Körper geflossen war und es durch die Muskelverkrampfung sogar zu Frakturen gekommen war. Das mussten höllische Schmerzen gewesen sein und als er nach dem Abschalten des Stroms durch Felix dann zu Boden gefallen war, war er laut Sarah´s Aussage schon bewusstlos und pulslos gewesen, daran dürfte er also keine Erinnerung haben. Der Aufwachversuch vor drei Tagen war sicher schlimm für ihn gewesen, weil er da ja eigentlich noch viel zu krank dafür und durch die Hirnschwellung vielleicht auch nicht so ganz orientiert gewesen war, aber das war jetzt nachweislich vorbei-jetzt konnte man positiv in die Zukunft sehen und das versuchte Semir seinem Freund jetzt auch mitzuteilen. Obwohl der durchaus zu verstehen schien, was Semir ihm sagte, war er sehr unruhig, warf sich in seinem Bett herum und schwitzte. Der türkische Polizist versuchte ihn abzulenken, aber er hielt die verbundene Hand ganz vorsichtig, nicht dass er seinem Freund da weh tat.


    Man hatte die Antibiose fortgeführt, aber dennoch war Ben´s Temperatur nie unter 38°C gegangen, was die Ärzte allerdings auch nicht beunruhigte. „Das zentrale Fieber ist auf jeden Fall jetzt weg, so subfebrile Temperaturen sind keine Kontraindikation für eine Extubation!“ hatte man Semir auf Nachfrage erklärt, denn inzwischen konnte er den Monitor schon lesen wie ein Buch. „Das kann Resorptionsfieber sein und immerhin sind ja auch noch unversorgte Frakturen und andere kleine Baustellen in seinem Körper, das kann die Temperatur schon einmal leicht ansteigen lassen!“ hatte ihm der Arzt erklärt und Sarah hatte das bestätigt. Als Ben immer unruhiger wurde fragte Semir: „Soll ich Sarah holen?“ aber Ben schüttelte leicht den Kopf und warf ihm einen Blick zu, als wollte er sagen: „Nein geh bitte nicht weg!“ und Semir vertraute darauf, dass er den jungen Kollegen jetzt richtig verstanden hatte.


    Endlich-Ben´s Herzfrequenz und sein Blutdruck waren inzwischen ganz schön angestiegen- kam der Stationsarzt zu ihnen und forderte Ben auf zu nicken, den Kopf zu schütteln und zu husten. Nachdem der die Aufforderungen sofort problemlos umsetzen konnte, ließ sich der Arzt den Notfallwagen in Stand-By vor die Tür stellen, saugte seinen Patienten noch endotracheal und im Mund ab, was dem überhaupt nicht gefiel und wollte Semir dann vor die Tür schicken, was Ben aber mit einem energischen Kopfschütteln quittierte. „Also gut Herr Gerkhan-wenn ihr Freund das so will, dann bleiben sie eben dabei, wenn ich ihn jetzt extubiere-und bitte Herr Jäger-die erste Zeit nicht so viel sprechen, sondern sich darauf konzentrieren, ruhig durch zu atmen!“ befahl er, während er die Tubusfixierung in Ben´s Gesicht auch schon ablöste.
    Die Schwester hatte bereits eine Sauerstoffmaske vorbereitet und den Sauerstoff aufgedreht. Auch eine Blockspritze lag bereit, mit der sie nun den Tubus entblockte und bis sich Semir versah, der das Ganze vom Fußende des Bettes aus beobachtete, war der Schlauch unter Ben´s Husten draußen und man hatte die Maske auf sein Gesicht gedrückt und das Bett in halbsitzende Stellung hoch gefahren. Ben atmete tief durch und der Arzt lächelte zufrieden-so wie es aussah war die Extubation erfolgreich, aber als Semir jetzt an die Seite seines Freundes trat, versuchte der etwas zu sagen und griff hilflos nach Semir´s Hand, denn die Handfixierung hatte man natürlich ebenfalls gelöst. „Pssst-ruhig Herr Jäger-nur aufs Atmen konzentrieren!“ versuchte der Arzt ihn zum Schweigen zu bringen-Mann dass die Patienten einfach nicht zuhören konnten, in ein paar Stunden würde es kein Problem mehr darstellen, wenn er auch länger sprach, aber jetzt musste sich die Atemmuskulatur erst wieder an den Normalbetrieb gewöhnen. Allerdings war es anscheinend sehr wichtig, was sein Patient mitzuteilen hatte und darum lauschte er, genauso wie Semir, den Worten, die heiser und gedämpft unter der Maske hervor drangen: „Es tut so weh!“ flüsterte Ben jetzt mühevoll und seine Augen waren dunkel vor Schmerz.

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!