Semir war inzwischen nach einem kurzen Abstecher nach Hause, um Ben´s Hausschlüssel zu holen, am Gutshof angekommen. Das Haus sah von außen völlig normal aus und so läutete Semir erst einmal, bevor er die Tür aufschloss. Auch stand Ben´s Dienstmercedes im gekiesten Hof, also war er schon mal nicht mit dem unterwegs. Als er in den Hausflur trat, rief er laut: „Sarah? Ben? Tim? Lucky? Wo steckt ihr?“ Aber keine Antwort ertönte. So durchsuchte Semir systematisch die Räume und sah auch im Schlafzimmer Sarah´s gepackte Kliniktasche noch stehen-sie waren auf jeden Fall nicht zur Entbindung gefahren. Auch das Bett war gemacht-es sah nicht so aus, als wenn heute Nacht jemand darin geschlafen hätte.
Als er in den Räumen nichts Ungewöhnliches entdecken konnte, wollte er gerade in der Remise nachsehen, ob die Familienkutsche da war, da läutete das Telefon und nach einem Blick auf das Display ging Semir ran. Da stand nämlich, dass es Hildegard war, die anrief, vielleicht hatte die eine Ahnung davon, wo Ben und seine Familie abgeblieben waren. Bevor er noch einen Pieps sagen konnte, sprudelte es aus dem Hörer: „Na Gott sei Dank-ich habe mir schon begonnen Sorgen zu machen, weil ihr euch nicht gemeldet habt!“ rief Hildegard am anderen Ende, aber ihre Stimme wurde gleich wieder weniger euphorisch, als Semir sich zu erkennen gab und der Frau mitteilte, dass er gerade nach Sarah und Ben suchte. „Sarah hat mir gestern Nachmittag Tim und Lucky vorbei gebracht, die auch bei mir übernachtet haben, damit Sarah und Ben in die Klinik zur Kreisssaalbesichtigung mit Geburtsfilm gehen konnten-außerdem muss sich Tim ja dran gewöhnen, ein paar Tage bei mir zu bleiben, wenn das neue Baby geboren wird, drum haben wir das so ausgemacht.
Jetzt habe ich begonnen mir Sorgen zu machen, weil Sarah Tim eigentlich gleich am Morgen abholen wollte, da sie heute um zehn mit ihm noch einen Kinderarzttermin zur Vorsorgeuntersuchung hatte, wie sie mir mitgeteilt hat. Lucky wollte sie danach mitnehmen und wir hatten eigentlich vor, dann noch gemütlich etwas essen zu gehen, aber jetzt ist es schon nach elf, ohne dass ich etwas von ihr gehört habe und das ist absolut unüblich-Sarah ist normalerweise sehr zuverlässig!“ berichtete sie und hängte dann noch an: „Ich dachte mir, dass vielleicht die Geburt heute Nacht losgegangen ist und sie einfach noch nicht dazu gekommen sind, mir Bescheid zu geben!“ aber das musste Semir verneinen-da hätten sie die Kliniktasche wohl mitgenommen. „Ich suche gerade nach den beiden und sage ihnen Bescheid, sobald ich etwas weiss!“ versprach er Hildegard und die wünschte ihm sorgenvoll viel Glück bei der Suche.
Nun ging Semir in die Remise und sah auf den ersten Blick, dass das Familienauto, der BMW-Kombi, fehlte. Nun nahm seine Unruhe immer mehr zu. Ben war ein routinierter Fahrer, aber was wäre, wenn die beiden auf dem Weg zur Uniklinik oder zurück verunglückt waren? Wie oft hatte man schon von Fällen gehört, wo ein Wagen unbemerkt tagelang in einem Gebüsch, einem Gewässer oder einem Steinbruch lag? Allerdings wäre es dann schon merkwürdig, dass alle beiden Handys ausgeschaltet worden wären-und das hätten sie ja schon zuhause machen müssen, was überhaupt nicht Ben´s und Sarah´s Art war, die eigentlich beide mit ihren Mobiltelefonen regelrecht verheiratet waren, etwas was Semir fremd war, der das Ding zwar nutzte, aber manchmal froh war, es ausschalten zu können und seine Ruhe zu haben. Er nutzte vielleicht 10% der Möglichkeiten, während Ben ständig mit dem Teil herumspielte und auch immer das neueste Modell haben musste. Fakt war aber, dass sich beide Handys hier auf dem Grundstück am Vorabend das letzte Mal eingewählt hatten und seine Freunde seitdem spurlos verschwunden waren.
Semir rief in der PASt an und schilderte, was er vorgefunden hatte. „Susanne-bitte checke auf allen möglichen Wegen zwischen hier und der Uniklinik, ob da ein Unfall-vielleicht mit bewusstlosen Personen gemeldet wurde!“ bat er, aber eigentlich war ihm klar, dass da keine Meldung vorliegen konnte, denn die beiden hatten ja immer Papiere bei sich, der Wagen war auch regulär zugelassen-sowas hätten sie schon lange erfahren. „Ach ja Susanne-und vielleicht könntest du herausfinden, ob die beiden gestern bei der Kreisssaalbesichtigung waren, dann können wir eingrenzen, ob sie auf dem Hin-oder dem Rückweg verschwunden sind!“ bat er dann, aber noch während er sich auf dem Grundstück umschaute, kam Susanne´s Rückruf, dass sie dort nicht erschienen waren, sie hatte gerade mit der Hebamme gesprochen, die das Event gestern geleitet hatte und der Sarah und ihr Mann durchaus bekannt waren.
Verdammt-wo konnten die beiden und ihr Wagen nur stecken? Nachdem sie sicher nicht freiwillig verschwunden waren und Tim bei Hildegard zurück gelassen hätten, deutete alles auf einen Unglücksfall, oder eine Entführung hin-aber wer hatte das gemacht und warum-und wo steckten die beiden? Kurz entschlossen rief Semir Konrad an, denn wenn irgendeine Lösegeldforderung einging, dann würde die an Konrad gehen, so viel war klar, aber auch der fiel aus allen Wolken, als er erfuhr, dass sein Sohn und seine hochschwangere Schwiegertochter verschwunden waren.
Semir war regelrecht verzweifelt-vielleicht konnten sie Lucky mal schnüffeln lassen-der würde seine Familie vielleicht aufstöbern und so rief er Hildegard an, die versprach mit dem Familienhund so bald wie möglich hier herzukommen. „Allerdings dauert es jetzt noch ein Weilchen-Tim hat noch nichts gegessen und wenn der hungrig ist, kann ich mit dem nicht losfahren. Ich werde dem jetzt ein Kindermenü warm machen, ihn essen lassen und danach fahren wir -er wird seinen Mittagsschlaf dann vermutlich im Auto machen. Hoffentlich weint er nicht, wenn er nach Hause kommt und die Mama nicht da ist!“ sagte Hildegard, aber das konnte man jetzt nicht ändern.
Semir sah auf seinen Zettel, den er von Susanne bekommen hatte. Vielleicht würde er noch kurz eine Adresse zuvor abklappern können, wo so ein weißer Mercedes gemeldet war-irgendwie hatte er das Gefühl, dass Ben´s Verschwinden mit dem Fall zusammenhängen könnte und nach kurzer Überlegung rief er dann Hartmut an. Er wollte sich im Anschluss nicht alleine in dem Wäldchen umsehen, in dem es angeblich spukte, wofür es aber sicher eine naturwissenschaftliche Erklärung gab. Und wenn es um Naturwissenschaften ging, dann war Hartmut der richtige Ansprechpartner! Der Rotschopf versprach, sich mit einigen Messgeräten auf den Weg zu machen und so brach Semir kurze Zeit später zu der Adresse auf, wo ein weißer Mercedes gemeldet war-das war in dem Ort wo er erst mit Ben gewesen war-dort lag das Anwesen von Peter Fitz, der verschwundenen Leiche!
Ben hatte seiner Sarah im Licht der Kerzen ein Frühstück gemacht. Auf dem Regal standen Kekse und Dosen, ein paar süße Limonaden waren in den Kästen und Wasser in ausreichender Menge-also verhungern und verdursten würden sie nicht so schnell! Sarah trank viel, wegen der Milchproduktion und zwang sich auch, etwas zu essen, obwohl ihr ein wenig schummrig war und sie sich schwach fühlte. Auch Ben war nicht entgangen, dass es seiner Frau nicht so gut ging, wie nach der letzten Entbindung, wo sie wenige Stunden später ein fürstliches Frühstück eingenommen hatte und unter die Dusche gesaust war. Die kleine Mia-Sophie begann zu quäken und während Sarah aß, trug Ben seine kleine Tochter unendlich vorsichtig ein wenig herum, schaukelte sie und drückte sie an sich. Wie klein sie war, aber sie war einfach perfekt. Was für ein Unterschied zu Tim, der immer schon ein kräftiges Baby und jetzt auch ein aktiver, pausbäckiger kleiner Zweijähriger war. „Wie schwer wird sie wohl sein?“ fragte er Sarah und die sagte nach kurzer Überlegung. „Ich denke nicht viel mehr als 2500 g!“ und das konnte hinkommen. „Sind wir froh, dass sie nicht so groß ist, sonst hättest du sie vermutlich nicht herausgebracht und dann wären wir beide jetzt tot!“ sagte Sarah und Ben überlief ein Schauer des Entsetzens. Als Sarah nun aber wieder zum Eimer ging und Ben sich höflich abwandte, sagte sie, nachdem sie sich danach mit Mineralwasser die Hände gereinigt und sich auch sonst ein wenig gewaschen hatte. „Ben-es blutet viel mehr als normal-ich glaube wir müssen schauen, dass wir hier bald rauskommen-ich werde nicht mehr lange Milch haben, wenn das so weiter geht!“ und Ben sah seine Frau nun völlig panisch an, aber dann geleitete er sie wieder zu ihrem Lager, gab ihr seine Tochter, die inzwischen in seinem Arm eingeschlafen war und begann dann systematisch ihr Gefängnis nach etwas zu durchsuchen, womit er das Schloss aufbrechen konnte-jetzt würde er aktiv werden und gnade Gott ihren Entführern-er und Semir, der sicher schon nach ihnen suchte, würden die fertig machen!