Der Arzt sah seinen Patienten an und fragte, fast ein wenig fassungslos, denn der hatte doch einen Spiegel an Schmerzmitteln, eigentlich dürften die Verletzungen nicht mehr so schmerzhaft sein: „Wo tut es denn weh, Herr Jäger?“ und Ben überlegte kurz: „Eigentlich überall-mein Arm, mein Bein, mein Bauch-ach ich weiss nicht!“ presste er hervor und rang dann mühsam unter der Maske nach Luft. Der Arzt überlegte. Hätte jetzt sein Patient einen einzelnen Körperteil benannt, dann hätte er sich den genauer ansehen können, aber so generalisierte Ganzkörperschmerzen waren natürlich blöd, aber die musste man symptomatisch behandeln. Nun fiel ihm auch eine Erklärung dafür ein. Wahrscheinlich hatte der junge Mann einen starken Muskelkater durch die Verkrampfung der Muskulatur um das Metallgitter. Das war ja eigentlich logisch, wenn da sogar Knochen gebrochen waren, hatte er vermutlich am ganzen Körper, auch an der Bauchmuskulatur, die ja bei ihm sehr ausgeprägt war, wie man sehen konnte, winzig kleine Muskelfaserrisse, die einfach noch weh taten. Machen konnte man da aber überhaupt nichts, das musste der Körper selber reparieren, nur eine stärkere Schmerzmedikation, also wieder Opiate konnte man ihm anbieten, vor allem auch, damit er gut durchatmete und nicht noch jetzt, wo das Schlimmste eigentlich vorbei war, eine Lungenentzündung bekam. Außerdem konnte die Physio da vielleicht mit leichten Massagen und Wärme etwas ausrichten, er würde das nachher gleich mal im PC anordnen, dann konnte man da ab morgen beginnen-heute am Extubationstag war das noch zu früh, da mussten die Patienten sich erst einmal erholen und wieder an eine normale Eigenatmung gewöhnen.
Der Arzt musste auch sagen, dass er mit so schweren Stromunfällen bisher wenig Erfahrung hatte. Klar befanden sich relativ häufig Patienten, die einen kleinen Stromschlag bekommen hatten, weil z. b. die Kaffeemaschine defekt gewesen war, 24 Stunden zur Überwachung auf der Intensivstation, weil das rein theoretisch Herzrhythmusstörungen auslösen konnte, aber da war eigentlich nie etwas und wenn alle Leute einen Arzt aufsuchen würden, wenn sie Bekanntschaft mit Strom gemacht hatten, dann würde man vermutlich tausende mehr Überwachungsbetten in Deutschland brauchen. Aber die augenblickliche Empfehlung für Mediziner lautete da eben: Nach jedem Stromschlag 24 Stunden EKG-Monitoring und deshalb wurde das auch gemacht. Aber diese Patienten hatten in den seltensten Fällen Strommarken und reanimationspflichtig waren die auch nie-da war das bei Herrn Jäger schon ein wesentlich schwererer Verlauf. Meistens kamen Starkstromopfer nämlich in Verbrennungskliniken, weil da oft die schweren Haut- und Gewebeschäden dominierten, aber die waren bei seinem Patienten zwar schlimm, aber nicht lebensbedrohlich und er würde auch seine Hände nicht verlieren, denn häufig mussten stark verbrannte Extremitäten amputiert werden. So gesehen hatte er also eigentlich noch Glück im Unglück gehabt und das Wichtigste, was zu tun gewesen war, hatte seine Frau getan-sie hatte ihn sofort reanimiert und so sein Leben gerettet. Nachdem er jetzt sprechen konnte, klar und orientiert wirkte und auch die Vitalfunktionen, also Herzschlag, Atmung und Kreislauf problemlos funktionierten, hatte er in seinen Augen das Schlimmste überstanden und würde jetzt einfach noch Piritramid dazu bekommen, dann würden sie die Schmerzen schon in den Griff kriegen.
Nachdem er innerhalb von Sekunden diese Gedankengänge verfolgt hatte, ordnete der Arzt mit einem freundlichen Lächeln an: „Herr Jäger bekommt jetzt noch Piritramid nach Bedarf dazu-das wird sicher bald besser werden-ich gehe von einem Ganzkörpermuskelkater aus, ach ja und die Magensonde darf auch raus und ab abends dürfen sie in kleinen Schlucken trinken!“ versuchte er seinem Patienten etwas Gutes zu tun und die Schwester, die ein wenig zweifelnd gekuckt hatte, ging dann nach draußen und holte das gewünschte Medikament in einem Perfusor. Bis das aufgezogen und aus dem Betäubungsmittelbuch ausgetragen war, dauerte es eine Weile und inzwischen lag Ben völlig verkrampft in seinen Kissen und versuchte, durch leichte Lageänderungen seine Schmerzsituation zu verändern, was aber nicht funktionierte. Semir stand hilflos neben ihm und beobachtete voller Mitleid, wie Ben gegen den Schmerz kämpfte. „Kann ich irgendwas für dich tun?“ fragte er, aber Ben schüttelte ganz leicht den Kopf, zu mehr war er gerade nicht fähig.
Wenig später war der Piritramidperfusor eingespannt und bolusweise versuchte die Schwester sich an die Dosierung heran zu tasten, die ihren Patienten vielleicht nicht völlig schmerzfrei, aber immerhin die Situation aushaltbar für ihn machte. Das Problem bei allen Opiaten war, dass die eben zentral auch auf die Atmung wirkten und ebenfalls eine Weile brauchten, um anzufluten und die Schmerzrezeptoren im Gehirn zu besetzen. Wenn man da zu viel auf einmal gab, hörte der Patient einfach auf zu atmen und musste notfallmäßig reintubiert werden und das wollte man unbedingt vermeiden. So bekam Ben alle fünf bis zehn Minuten drei Milligramm als Bolus, bis er sich irgendwann-er war inzwischen schon völlig belämmert und hielt sich nur irgendwie an Semir´s Hand fest und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen-dann doch ein wenig entspannen konnte und einschlief. Die Magensonde hatte die Schwester-wie vom Arzt angeordnet-auch einfach heraus gezogen, was ihn zwar kurz zum Würgen brachte, aber hinterher ein Gefühl der Erleichterung hinterließ, das Ding hatte in seinem Rachen doch sehr gestört.
Semir holte nach einer Weile dann Sarah im Rollstuhl und erzählte ihr von den Qualen, die er ausgehalten hatte. „Armer Schatz!“ sagte Sarah mitleidig und strich ihm eine verschwitzte Strähne aus der Stirn, allerdings ohne ihn zu wecken. So gerne sie sich jetzt mit ihm unterhalten und ihm von seiner kleinen Tochter erzählt hätte, die sich prima entwickelte, aber lieber hatte er jetzt keine Schmerzen und schlief unter der Sauerstoffmaske ein wenig vor sich hin, als dass er wach mit ihr kommunizierte und dabei leiden musste. „Und du sagst er hat gesprochen und dich auch erkannt?“ fragte sie Semir leise und als der nickte, bemerkte sie glücklich: „Dann wird jetzt alles gut werden-ich fühle es!“ und Semir pflichtete ihr bei, obwohl ihm sein Bauchgefühl, das er aber schnell beiseite schob, etwas anderes sagte.