Alte Lagerhalle - 10:30 Uhr
Kevin fühlte sich auf seltsame Art und Weise in die Vergangenheit zurück versetzt. Er saß mit Annie auf der Couch, auf der er manch schöne Stunde erlebt hat, oftmals high gewesen war, sich betrunken und geprügelt hatte. Sie redeten und die anfänglich leichte Ablehnung des Polizisten, die er in sich gespürt hatte als er Annie zum ersten Mal seit Jahren wieder sah, wich der schönen Erinnerung. Die junge Frau schien ihm diese Ablehnung gar nicht übel zu nehmen, aber was sollte sie auch erwarten. Sie waren damals mehr oder weniger im Streit auseinander gegangen, es gab eine fürchterliche Auseinandersetzung, als sie den damals 17Jährigen vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, und ihm das Ende der Beziehung mitgeteilt hatte. Es war zwar schön, aber Liebe ist so ein großes Wort, sie war noch so jung, und es gäbe noch eine Menge Jungs zu entdecken. Kevin hatte das damals getroffen, und er konnte es nur schwer akzeptieren. Das war das letzte Mal, dass sie ernsthaft miteinander gesprochen hatten, es war einige Monate vor Kevins 18tem Geburtstag und der verhängnisvollen Nacht, in der Janine getötet wurde. Annie hatte sich danach voll ins Leben gestürzt, war öfters mit anderen Jungs zusammen aufgetaucht. Einen von ihnen hatte der eifersüchtige Kevin furchtbar zusammengeschlagen, als er gerade seinen ersten Trip seit vielen Wochen geschmissen hatte. Annie hatte ihn danach angeschrien, sie würde ihn hassen und könne nicht verstehen, auch nur eine Minute Zuneigung zu ihm empfunden zu haben. Jerry war kurz davor, den Jungen aus der Gruppe zu werfen und trainierte mehrere Wochen nicht mehr mit ihm.
Ja, er hatte oftmals an sie gedacht... nachdem er die erste Trauer verdaut hatte, sich in den Drogen und Alkohol geflüchtet hatte, hatte er oft Sehnsucht nach Annie gehabt, doch er hatte Angst vor neuen Enttäuschungen, Angst vor neuen Schmerzen. Ausserdem war Janine omnipräsent in seinem Kopf, sowie der Rachedurst auf ihren Mörder. Erst mit der Ausbildung zum Polizist konnte er sich ein wenig von der Rache und noch mehr von der Sehnsucht nach Annie ablenken, genauso wie mit zahlreichen Liebschaften, die in ihm aber nie das Gefühl des Verliebtseins erwecken konnten, wie es Annie getan hatte. Erst Jenny hatte das jetzt geschafft, aber auf eine völlig andere Art und Weise, wie er jetzt gerade feststellte.
Sie wartete auf einen Namen, den Kevin nennen sollte... den Namen des Neo-Nazis, über den er Informationen brauchte um damit auch den Anschlag auf sein Leben, auf seine Gesundheit aufzuklären. "Der Typ heißt Ulrich Richter. Erfüllt quasi jedes Klischee, das man als Fascho erfüllen könnte.", sagte Kevin und konnte sofort eine Reaktion im Gesicht von Annie beobachten, als er den Namen erwähnt hatte. Es war ein Einfrieren ihres Lächelns, sie zog den Mund ernst zusammen und Kevin meinte, ein kurzes, gar ängstliches Mundwinkelzucken erkennen zu können. "Ulrich Richter? Bist du dir ganz sicher?" "Todsicher." Mit einer Hand fuhr sich die junge Frau durch die roten Haare und atmete hörbar aus, während sie den Polizisten ernst ansah. Von ihrem Lächeln war nicht mehr viel übrig. "Wie hast du dich denn mit dem angelegt?", fragte sie, ohne auch nur eine Information heraus zu rücken. Dabei zuckte Kevin mit den Schultern: "Das war mehr Zufall. Jedenfalls hat er angedeutet, dass ich mich in nächster Zeit vorsehen solle, und gestern abend hat mir jemand beim Boxtraining einen Baseballschläger übergezogen. Ich würde gern wissen, mit wem ich es zu tun habe." Annies Blick wandte sich ein wenig ins Misstrauische, und so langsam schien sie sich zu fragen, was der wirkliche Hintergrund war, dass Kevin so ins Visier der rechten Szene geraden konnte.
"Du kennst den Typen... das sehe ich doch an deiner Reaktion.", sagte er mit ruhiger Stimme und blickte Annie mit seinen hellblauen Augen fest an. Sie nickte langsam: "Ja, ich kenne ihn. Und deswegen würde ich dir raten, dich von ihm und seinen Freunden fernzuhalten."
Kevin konnte die Sorge in Annies Stimme deutlich heraushören. Die beiden saßen zwar nebeneinander auf der Couch, hatten die Oberkörper aber so zueinander gedreht, dass sie sich direkt in die Augen sahen. Annie hatte dabei ein Bein angewinkelt auf der Couch liegen, so dass sie mit dem anderen Oberschenkel auf ihrem Fuß saß, und hatte beide Hände um das Fußgelenk geklammert, als könne sie sich daran festhalten um nicht nach hinten zu kippen. "Jetzt wirds ja langsam interessant.", sagte Kevin und lächelte ein wenig. Annie presste kurz die Lippen zusammen, bevor sie begann zu reden: "Ulrich gehört zu einer nationalistischen Aktivistengruppe, der Sturmfront. Bei jedem Gedenktag zu irgendeinem, im Krieg gefallenen Nazi marschieren sie ganz vorne mit. Bei NPD-Demonstrationen sind sie oft dabei, als gewaltbereiter nationalistischer Flügel. Eigentlich ist ihnen die NPD viel zu bieder und zu wenig extrem. Das ist wirklich der äusserste rechte Rand."
Der Polizist hörte mit ernster Miene zu, und nickte nur kurz. "Ich kenne nicht alle Mitglieder dieser Gruppe. Ulrich ist einer davon, dann gibts da noch einen... ähm, warte... Heinrich... hmm... einer nennt sich Lunikoff, was aber wohl kaum sein echter Name ist... und eine der Frauen heißt Tina." Annie hatte, als sie über die Namen nachdachte, kurz den Blick zum Dach der Lagerhalle gewandt, weil sie angestrengt nachdachte. "Ja, mehr kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass sie äusserst brutal sind... und das meine ich nicht nur mit Baseballschlägern. Wir haben schon beobachtet, dass sie bei einer Demonstration bewaffnet waren, und ich bin mir sicher, dass sie verantwortlich sind für zwei Morde im letzten Jahr, bei denen zwei Afrikaner getötet worden sind." Kevin konnte sich an den Fall erinnern, der damals im Sande verlief, weil es keine Zeugen, keine Hinweise und keine brauchbaren Spuren gab.
"Naja, das ist doch schon mal was.", meinte er nachdenklich und strich sich mit dem Finger kurz über die Lippen. Er konnte ein leises Rauschen hören, es kam von oben. Scheinbar hatte es draußen angefangen, nun doch richtig zu regnen, und für einen Moment lauschten die beiden dem Geprassel des Regens. "Hattet ihr schon Probleme mit dieser Sturmfront?" Die rothaarige Frau senkte den Blick kurz, es kam Kevin wie Scham vor. "Du weißt ja, dass wir uns zur Wehr setzen können...", begann sie leise und erntete sofort ein Nicken. Ohja, das wusste Kevin... auch die Mitglieder der Punkszene konnten äusserst unangenehm und skrupellos werden, wenn es um das Thema Gewalt ging. Sie sahen sich allerdings im Recht, wenn sie diese Gewalt nur gegen Nazis einsetzten, und nicht gegen die unschuldige Bevölkerung. Jedoch blieb Gewalt immer noch Gewalt... Kevin war das heute bewusst, früher sah er sich im Recht.
"... aber ja, mit dieser Truppe hatten wir auch schon Bekanntschaft... und ich bin froh, wenn sie uns in Ruhe lassen.", sagte Annie und ihr Blick fuhr wieder hinauf zu Kevin. "Wir sind bei Demos zusammengestoßen... Vor 3 Jahren haben sie dann eines unserer Konzerte quasi "überfallen", hatten mehrere Jungs und ein Mädchen ins Krankenhaus geprügelt. Es war ein regelrechter Krieg, eine zeitlang. Seit einigen Monaten lassen sie uns in Ruhe, und wir lassen sie in Ruhe." "Und was, wenn sie nochmal bei einer Demo sind, bei der ihr auch seid?", fragte Kevin ein wenig provokativ und sein Gegenüber legte den Kopf ein wenig schief, und zuckte mit den Schultern. War es Resignation, oder Unwissen, weil es seitdem nicht mehr vorgekommen ist? Plötzlich fühlte sich Kevin mehr als ehemaliger Mitstreiter, als als Polizist. "Ihr habt euch den Rechten also ergeben?" Annies Augen verengten sich zu Schlitzen, und ihre Stimme wurde auf einmal giftiger... wie früher, wenn sie sich gestritten hatten. "NEIN!", sagte sie ganz entscheidend und mit erregter Stimme: "Aber wenn wir eine normale Gruppe hirnloser Neo-Nazis mit "Alerta Alerta" beschimpfen, dann strecken die uns den Mittelfinger entgegen und rufen "Antifa Hurensöhne." Wenn sie uns schlagen, dann schlagen wir zurück und umgekehrt. Aber sie kommen nicht mit Pistolen, Ketten und Messern hierher, um uns zu überfallen und um uns zu bedrohen... zu drohen, uns einzeln auf der Straße abzuschlachten, wie sie es mit den Afrikanern getan haben."
Für einen Moment war es wieder ganz still zwischen den beiden, nur der Regen gab lautstark Antwort. Annies Atem ging schnell, sie lehnte sich wieder ein wenig zurück nach ihrem Wortausbruch. "Wir lieben das Risiko, und uns ist egal, was andere von uns denken, das weißt du... und so warst du früher auch. Aber wir lieben auch unser Leben.", sagte sie etwas leiser. Kevin nickte verständlich, auch ein wenig einlenkend und beruhigend. "Okay. Wenn du mir jetzt noch sagst, wo sie sich treffen... dann hast du mir sehr geholfen." Der Blick aus Annies dunkelblauen Augen blieb direkt in Kevins Blick haften... eine Sekunde, mehrere Sekunden... waren es schon Minuten? Kevin hatte diese Augen geliebt, ihr war darin versunken, er hätte Annie ewig ansehen können. "Das sage ich dir nicht.", sagte die junge Frau mit ernster Stimme und erntete einen unverständlichen Blick. "Weil ich nicht will, dass du dich in Gefahr begibst. Und du brauchst nicht nochmal zu fragen.", gab sie ihm die Antwort, auf das "Warum", was sicher gefolgt wäre. Wenn Kevin etwas kannte, dann Annies Sturheit. Die hatte sie von ihrem Vater, wie sie sagte, einem Engländer, der eine deutsche Frau heiratete. Über ihn kam Annie als Mädchen mit der damaligen englischen Punk-Bewegung in Kontakt, war quasi mit dem The Clash und den Sex Pistols aufgewachsen.
Er sah keinen Sinn, zu betteln oder zu drohen. Viel eher resignierte er mit einem leisen "Naja...", und brach den mittlerweile intensiven Blickkontakt mit Annie ab. Die hielt das Thema für beendet, und lächelte wieder, wobei sie aber mit etwas nachdenklicher Stimme sagte: "Du hast dich verändert, Kevin." Dies ließ seine Augenpaare wieder auf die rothaarige junge Frau wandern. "Wie meinst du das?" Sie zuckte kurz mit den Schultern, obwohl sie sofort eine Erklärung hatte: "Ich weiß nicht... du wirkst so kalt. Du sprichst nicht viel, du wirkst so emotionslos. Früher warst du ein Energiebündel, du konntest nicht stillsitzen, du hast rumgealbert, mit jedem geredet, viel geredet." Sie blieb kurz still. "Eben hab ich gedacht, dass du dich äusserlich kaum geändert hast. Das stimmt auch. Aber dein Wesen... ich weiß nicht. Es wirkt befremdlich auf mich." Kevin wusste, dass er sich verändert hatte. Vertrauensbrüche, Enttäuschungen hatten bei ihm Spuren hinterlassen, die seinen damals offenen Charakter mehr und mehr verschliessen ließen. "Es ist eben viel passiert in den letzten Jahren.", sagte er in seiner typisch eigenartig monotonen Tonlage. Annies Blick war wie eine Aufforderung, die er sofort abwürgte: "Und ich möchte absolut nicht darüber sprechen... okay?"
Er stand langsam vom Sofa auf, und spürte, dass die Schmerztabletten offenbar langsam nachließen. "Danke, dass du mir geholfen hast.", sagte er, als sich auch Annie vom Sofa erhob. "Kommst du wieder? Jetzt wo du weißt, dass wir noch hier sind... dass ich noch hier bin?" Der junge Mann nickte... er nickte zwar langsam, aber er nickte, ohne vorher groß nachdenken zu müssen. Ein kurzer Schauer überfiel ihn, als Annie seine Hand ergriff, und nochmal ihre Sorge ausdrückte: "Bitte, leg dich nicht mit diesen Typen an. Egal was passiert ist... wenn sie dich in Ruhe lassen, dann lass es darauf beruhen." Mit einer schnellen Bewegung kam sie näher und drückte ihrem ehemaligen Freund, den sie jahrelang nicht gesehen hatte, aber gerade nach Janines Tod oft an ihn dachte, einen schnellen, kurzen Kuss auf die Wange.