KTU - 09:15 Uhr
Kevin hatte einen Umweg genommen. Statt direkt zur Dienststelle zu fahren, fuhr er einen Umweg über die KTU, um Hartmut einen Besuch abzustatten. Ohne anzuklopfen trat der junge Polizist in die große Garage, Hartmuts Arbeitsplatz, der Computerplatz, kleines Labor und Autowerkstatt miteinander verband. Das rothaarige Genie saß, wie eigentlich immer, an seinem Rechner und betrachtete endlos lange Zahlenkolonnen, die wohl niemand wirklich, ausser er, verstand. Er schien völlig versunken zu sein und beachtete gar nicht, dass Kevin von hinten mit der Sprühdose in einer Tüte und dem Molotov-Cocktail in der anderen Tüte heran kam. Auch der Polizist bemerkte, dass Hartmut völlig abwesend war, und nicht mal reagierte, als er ganz dicht hinter ihm stand und sich leicht neben Hartmuts Ohr nach vorne beugte.
"Man könnte den Laden ausrauben, und niemand würde es bemerken.", sagte er ohne Begrüßung und Hartmut fuhr gewaltig zusammen, so dass er seine beiden Hände mit einem Mal auf die Tastatur schlug. Sofort erschienen neue Zahlen und Buchstaben, die für Kevin genauso wenig Sinn machten, wie der Rest. "Sag mal, bist du völlig wahnsinnig?", hechelte Hartmut und blickte seinen Freund mit weit aufgerissenen Augen und einer Hand auf der Brust an. "Du kannst mich doch nicht so erschrecken." Dann blickte er auf den Monitor und die Buchstaben und Zahlen, die da scheinbar nicht hingehörten. "Och nein... wie kommt das denn da rein.", jammerte er und legte den Kopf schief. "Vergiss es, die Rechnung stimmt eh nicht.", winkte Kevin ungeduldig ab, obwohl er keinen Plan hatte, was er da sah.
"Rechnung?", quietschte Hartmut, als hätte man ihn gerade persönlich beleidigt. "Das ist ein Programmcode! PROGRAMMCODE! Mit diesem Programm werde ich die Ortung von Mobilfunktelefonen revolutionieren." "Ja, super. Hier.", zeigte sich Kevin besonders interessiert... nicht. Und Hartmut hatte mal wieder nur ein "Banause" für ihn und seine ebenfalls technisch wenig begabten Kollegen übrig. Der Polizist legte beide Tüten auf den Tisch. "Ich brauche die Fingerabdrücke hier von, und am besten auch gleich mal durch den Computer jagen." Hartmut sah ein wenig wehleidig nach oben. "Muss das jetzt sofort sein." Er konnte einen Seufzer seines Gegenübers vernehmen, ein leichtes Rascheln als Kevin hinter sich Griff und aus seiner Gesäßtasche eine, zugegebenermaßen, etwas eingedrückte Tüte mit einem Schoko-Crossaint und ein Tetrapak Kakaomilch hervor zauberte.
Hartmuts Augen begannen zu leuchten, und sein Mund wurde breiter. "Wenn das so ist...", sagte er und wollte bereits zugreifen, doch Kevin hielt beides so hoch, dass der Rothaarige vom Stuhl aus nicht heran kam. "Erst die Arbeit, dann das Fresschen. Komm schon, ich habs eilig." "Na schön." Hartmut zog sich Einweghandschuhe an, nahm die beiden Tüten und ging herüber zu seinem Labortisch. Mit einigen Lösungen bespritzte er die beiden Beweisstücke, und konnte dann den Rest mit einem Pinsel entfernen. Dort wo Fingerabdrücke waren, blieb von der Substanz noch etwas übrig. "Ist das Suchen im Computer nicht mehr Aufgabe eurer Sekretärin?", fragte er ein wenig provokativ. "Andrea ist noch nicht wieder im Dienst. Aber kein Problem, ich geb das Ding Hotte... der freut sich dann aber auch über dein Frühstück.", meinte Kevin, der sich, mit dem Gesäß an Hartmuts Tisch gelegt, eine Zigarette drehte. "Schon gut, schon gut.", beschwichtigte Hartmut sofort.
Nach wenigen Minuten kam der KTU-Techniker wieder zurück an seinen Computer, an dem ein Scanner angeschlossen war, mit dem er die Sprühdose abscannte. "An der Flasche mit dem Brennstoff war auch einer. Scheinen identisch zu sein. Da kann ich gleich mal durchs Glas schauen, ob ich Faserstoffe finde." "Wirst du wohl, ich hab das Ding mit nem Taschentuch angefasst.", sagte Kevin und steckte sich die Zigarette in den Mund. Hartmut stoppte sofort die Arbeit und sah Kevin an. "Mit Frühstück bringst du mich zum Arbeiten, aber wenn du hier drin rauchen willst, ist Feierabend.", meinte er streng und zeigte mit einer Kopfbewegung auf das "Rauchen verboten" - Schild an der Wand. "Mit den Chemikalien hier drin können wir einen Krater groß wie Bremen in den Boden hier sprengen." "Ich rauche ja nicht bei den Chemikalien.", raunte Kevin, zeigte aber Einsicht und steckte sich die Zigarette hinters Ohr.
Er sah zu, wie Hartmut mit schnellen Fingern die Maus und Tastatur bediente, den abgescannten Fingerabruck in eine Programm importierte, und die Suche durch die komplette Datenbank der Polizei jagte. Der Balken bewegte sich nur mühsam von links nach rechts. "Lass mich wenigstens mal beißen...", nörgelte Hartmut, während er sich in seinem Chefsessel zurücklehnte, und wie ein Dackel Kevin von unten herauf ansah. Beinahe bekam der Polizist, der lächelte, ein wenig Mitleid, jedoch merkte er auch, dass ihm Hartmuts gute Laune richtig gut tat. Vielleicht sollte er öfters hierher kommen, wenn es ihm beschissen ging, statt nach Hause zu Jenny zu fahren. Nach Hause... war das sein zu Hause, fühlte er sich zu Hause? Die Gedanken der letzten beiden Tage stiegen auf einmal wieder in ihm auf, doch er wollte nicht zulassen, dass sie wieder Besitz von ihm ergriffen. Er schüttelte sie mit einer Kopfbewegung ab, was Hartmut als "Nein" verstand.
Stattdessen nahm er die Molotov-Cocktail-Flasche in die Hand und bemühte sein Auge durch eine Vergrößerungslupe. Mit einer Pinzette entfernte er eine Faser, legte sie vorsichtig in eine Art kleines Plastikschälchen, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen. "Hmm...", sagte er nachdenklich. "Könnte wirklich von deinem Papiertaschentuch sein. Wenn da jemand versucht hat, was abzureiben, ist es ihm misslungen. Willst du mir nicht mal erzählen, was überhaupt passiert ist?" In kurzen knappen Sätzen erzählte der Polizist von dem kleinen Vorfall gestern Nacht. Und dass er die Sprühdose und Flasche heute morgen an der verzierten Wand gefunden hatte. "Warum hat er versucht, das eine abzuwischen, das andere nicht?"
"Vielleicht hat er es erst später gemerkt... also, zu spät daran gedacht.", überlegte Hartmut. In Kevins Kopf arbeitete es... war der Attentäter wirklich so blöd... so hektisch? Jemand von den Rechten? Nachdem was Annie erzählt hatte, sollten das doch Profis sein, wenn sie wirklich so gefährlich waren. Oder doch aus der linken Szene? Der kleine Punk, der Kevin so misstrauisch angesehen hatte, als er mit Annie gestern verschwand... als würde der Polizist gerade seine Freundin abschleppen. Die Statur würde ja passen... ein wenig Nervosität ebenfalls. "Oder?", fragte Hartmut nochmals, und Kevin regestrierte, dass er gerade eine Frage des KTU-Technikers verpasst hatte. "Was?" "Na, es könnten ja auch zwei Täter gewesen sein.", wiederholte er, doch der Polizist schüttelte den Kopf. "Ich hab definitiv nur einen weglaufen gehört."
Ein kurzes Signalgeräusch von Hartmuts Arbeitsplatz zeigte an, dass der Suchvorgang beendet war. Hartmut rollte sich mit seinem Stuhl zurück an seine Station, und meinte, beinahe schon liebevoll in Richtung seines Computers. "Ah, sie hat was gefunden..." "Sie?", wiederholte Kevin mit schelmischen Grinsen... doch das Grinsen blieb ihm im Halse stecken, der Herzschlag setzte einen Moment aus und er spürte, wie der Boden unter ihm zu wanken begann. "Die Fingerabdrücke gehören zu einer Annie Johnson. Kein fester Wohnsitz, der Vater englischer Staatsbürger, Mutter Deutsche. Oooh, die ein oder andere Vorstrafe. Landfriedensbruch, Körperverletzung gegen Polizeibeamte und Beamtenbeleidigung. Nettes Mädchen. Der Name ist auch schon öfters beim Staatsschutz aufgetaucht. Soll ich dir das ausdrucken?" Hartmut blickte hinter sich, als er keine Antwort erhielt. "Kevin? Ist alles klar?" Der Polizist sah desillusioniert auf das Bild vor sich, ein Foto aufgenommen scheinbar nach einer Verhaftung, Annie mit gelb-grün gefärbten Haaren, die Zunge rausstreckend und einer Schürfwunde an der Wange. Polizisten gingen mit Punks im Allgemeinen im zweiten und dritten Versuch nicht mehr zimperlich um, der Hass auf die "Staatsgewalt" der linken Szene kam nicht von ungefähr. "Kevin?" "Hmm? Ja... druck mir das bitte aus." Der Polizist fuhr sich durch die Haare, legte Hartmuts Belohnung auf den Tisch, und bedankte sich. Der KTU-Techniker konnte sich den raschen Stimmungswandel des Polizisten, von "etwas gestresst" zu "völlige Apartheit" nicht erklären.
Auf dem Weg nach draussen zog Kevin sofort sein Handy. Annie anrufen? Nein... das musste er persönlich klären... Auge in Auge. Er wählte Semirs Nummer, und der kleine Polizist nahm auch sofort ab. "Was ist denn los? Bist du liegen geblieben?" "Ich war noch bei Hartmut. Auf der Spraydose sind Annies Fingerabdrücke.", kam er ohne Umschweife sofort zum wichtigen Punkt, und Semir war natürlich sofort im Bilde, sie hatten die Bilder ja bekommen. "Ach du Scheisse... auf dem Cocktail auch?" "Ja... da auch", sagte Kevin zögerlich. Der Cocktail war natürlich eine ganze Spur härter als harmlose Farbe, und ein Brand wurde nur verhindert, weil Kevin das Zischen der Dose hörte. Ich fahr zu ihr." "Sollen wir auch...", begann Semir und wurde, wie er schon vermutet hatte, sofort von Kevin unterbrochen. "Nein. Das mache ich lieber alleine." Trotz des mulmigen Gefühls bei dem erfahrenen Polizisten, nickte er, für Kevin nicht sehbar, am Telefon. "Na schön. Ich vertrau dir. Aber wenn du dich bis 11 Uhr nicht gemeldet hast, kommen wir hin." "Gib mir Zeit bis um 12.", verlangte Kevin und stieg in seinen Wagen. Bevor er auflegte sagte er noch: "Das muss ein Missverständnis sein. Ich weiß nicht genau was, aber irgendwas stimmt da nicht. Warum sollte Annie das tun?" "Vielleicht hat sie rausbekommen, dass du ein Bulle bist?", sagte Semir nachdenklich und Kevin verharrte für einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf: "Selbst dann würde sie mich nicht versuchen, umzubringen." Und als bräuchte er selbst eine Bestätigung setzte er hinzu: "Nein... das würde sie nicht. Garantiert nicht."