Straße - 5:20 Uhr
Rocky konnte vor sich nur den dunkelgrauen Asphalt, den etwas helleren Bordstein und die Abflussrinne sehen. Er spürte die kalte Waffe in seinem Genick, er hörte sein rasselndes und Semirs heiseres Atmen hinter sich. Die Rollen waren vertauscht, nun sollte er, der stolze Neonazi von einem Türken erniedrigt werden. Und Rocky fühlte sich verdammt unwohl in dieser Rolle, denn er konnte den Polizisten hinter sich nicht einschätzen. War der psychische Schaden so groß, dass Semir nun alle Moral, alle Gesetze über Bord warf und ihn töten würde, wenn er nicht gehorchte. Wollte er ihm nur Angst einjagen? Der Druck der Waffe auf das Genick wurde stärker. "Du weißt nicht, was du da tust.", sagte Rocky halb drohend, halb flehend. "Ich weiß verdammt nochmal genau was ich tue!", gab ihm Semir nur mit Hass in der Stimme zur Antwort.
Rock spürte, wie Semir die Waffe fester drückte. Es kam ihm vor, als würde er sich nicht freiwillig langsam nach vorne beugen, das Gesicht näher an den Bordstein ran, bis die Lippen den kalten rauen Asphalt berührten. "Beiß rein!"
hörte er erneut und sein Herz schlug schneller. Verdammt, der Bulle war wahnsinnig. Der würde sich durch nichts mehr stoppen lassen. "Weißt du, wie sich das anfühlt? Wenn man den Schädel zertreten bekommt? Weißt du das??", rief Semir, als er sah dass Rocky tatsächlich die Lippen um den Bordstein legte, und Semir selbst sich aufrichtete, um ihm den Fuß an den Hinterkopf zu setzen. Ein leises Geräusch kam aus Rockys Mund, als der Druck auf die Zähne stärker wurde. Es war kein Flehen, kein Jammern, eher nur ein schwacher Widerstand.
Ein leises Klicken klang unheilvoll, und Semir ließ die letzte Partrone in die Kammer gleiten. Es war kein dominierendes Gefühl, den Kerl am Rand des Bordsteins knien zu sein, es war kein befreiendes Gefühl, ihm den Fuß an den
Hinterkopf zu setzen, und es war kein gutes Gefühl zu hören, wie er sich dagegen sträubte aber Angst hatte, sich zu bewegen. Nein, nichts von dem fühlte sich gut an für Semir. In seinem Inneren brannte es, der Kopf sagte ihm, dass
das, was er gerade tat, nicht gut sei. Aber sein Herz war beschädigt, seine Psyche angeknackst von dem Märtyrium, was er heute Nacht erleiden musste. Die Hilflosigkeit, als Rocky dem gedemütigten Sammy den Kopf zertreten hat, die nackte Angst, als er in dieser Gaskammer saß und einen längst vergessenen Horror am eigenen Leibe miterlebt hatte und als er selbst an der Bordsteinkante kniete und bis auf die Knochen von einem Menschen gedemütigt werden sollte, der seine Herkunft, seine Hautfarbe als etwas Besseres sah, als den Rest der Welt.
In Semir war etwas zerbrochen. So etwas wie Moral, das Glaube an das bisschen Gute. Er hatte so vieles gesehen. Mörder aus Habgier, Mörder aus Eifersucht, Mörder die selbst einer psychischen Krankheit zum Opfer fielen. Aber diese hässliche Fratze der Kriminalität war Semir bisher bei seiner Polizeiarbeit verborgen geblieben. Er wusste von ihrer Existenz, er bekam sie am Rande mit und er las natürlich auch die Zeitung. Doch in einem solch extremen Ausmaße damit konfrontiert zu werden, traf ihn psychisch wie ein Hammerschlag. Langsam ging er in die Hocke, das Knie angewinkelt, den Fuß immer noch auf dem Hinterkopf, und die Waffe nach vorne auf den Hinterkopf gerichtet.
Von links hörte Semir plötzlich Geräusche, schnell laufende Schuhsohlen auf Asphalt. Er blickte nicht zur Seite, sondern war besessen von dem Mann, der vor ihm im Staub kniete. "Semir! Hör auf damit!", hörte er die laut schreiende
Stimme seines Partners Ben, doch er war noch etwas von ihm entfernt. Die beiden Polizisten kamen näher an das Schauspiel und verlangsamten ihren Lauf, den beide waren einigermaßen fassungslos. Es war Semirs Blick, Semirs Ausdruck in den Augen, der sie zum Anhalten gezwungen hatte, denn er hatte etwas befremdliches. Etwas eigenartiges. Das war nicht Semir, und deswegen wollten die beiden nicht einfach auf ihn zustürmen, und ihn von dieser Szenarie wegreißen, weil sie nicht wussten, wie er reagierte.
"Semir... leg die Waffe weg. Wir nehmen den Kerl fest!", sagte Ben und bemühlte sich um eine ruhige Stimme. Er hatte beide Arme ausgestreckt, die Handflächen zum Boden zeigend, eine beschwichtigende Körperhaltung. Beide sahen dass Semirs Hand mit der Waffe zitterte, der erfahrene Polizist wusste selbst, dass er nicht einfach zu treten könnte um den Nazi zu töten... aber einfach den Abzug drücken... das war leicht. Das war nur eine Bewegung, ohne Kraft, ein Knall und es war vorbei.
Kevin stand regungslos neben Ben und überließ ihm das Wort weil er wusste, dass Ben zu Semir einen engeren Draht hatte. Der Polizist war übel zugerichtet, das Blut, teilweise schon vertrocknet, war ihm aus beiden Nasenlöchern und einem Cut an der Augenbraue gelaufen. Jetzt stand er nur da und keuchte von dem erneuten Lauf durch die Straße. "Semir, bitte! Hör auf. Denk an deine Familie." Semir biss die Zähne zusammen und sah nun erst herüber zu Ben. Der Ausdruck in seinen Augen und die Klangfarbe seiner Stimme ängstigte Ben. "Ja genau! Ich denke an meine Familie! Wenn es stimmt, was dieser Eggestein gesagt hat, dann geht dieses Drechschwein doch im Leben nicht in den Knast." Das Zittern seiner Hand wurde stärker, und seine Stimme heiserer. "Nur so kann ich meine Familie schützen!"
Ben sah verzweifelt aus, er schluckte, er sah kurz zu Kevin. Wie konnte man seinen Partner nur stoppen, vor sich selbst schützen. "Semir, tu es nicht. Du machst alles kaputt!", sagte er mit emotionaler Stimme. Sie mussten das hier
beenden, bevor das SEK mitbekam, was hier lief. Sie würden sonst Semir niemals rausboxen können, wenn hier etwas schief lief. "Du bist nicht wie die, Semir.", sagte Kevin dann mit seiner monoton klingenden Stimme, so dass es Semir und Ben eine Gänsehaut bescherte. Was tat Semir da, schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Er war kurz davor, einen Menschen hinzurichten... so wie sie ihn hinrichten wollten... so wie sie Sammy hingerichtet haben. Doch der Finger hatte sich um den Abzug gelegt, und der Mechanismus im Kopf, hatte sich ausgelöst, den Finger zu krümmen. Der Schuss war laut und hallte durch die ganze Straße, so dass viele Lichter in den Fenstern angingen.
Kevin und Ben hatten sich beide erschrocken. Rocky rollte zur Seite, schrie laut vor Schmerzen und hielt sich das rechte Ohr mit beiden Händen. Semir hatte die Waffe zur Seite gezogen, die Mündung von Rocky weg, dass die Kugel, die vom Asphalt abprallte weder ihn, noch Ben oder Kevin treffen konnte. Doch weil er die Waffe direkt neben Rockys Ohr gehalten hatte, drang der Klang tief ins Trommelfell des Nazis ein und verursachte einen stechenden Schmerz, verursachte ein lautes Piepen und ließ alle Umwelttöne um ihn herum verschwimmen.
Mit einem Mal änderte sich Semirs Gesichtsausdruck. Alle Emotion, aller Hass fiel von ihm ab, als er sich aufrichtete, und auf den, sich windenden Mann blickte. Er ließ die Waffe klackernd auf den Boden fallen, und drehte sich weg.
Beinahe hätten sie gewonnen... beinahe hätten sie Semir zum Monster gemacht. Kevin machte zwei schnelle Schritte um die Waffe zu nehmen, doch die Sorge war unbegründet. Rocky war ausser Gefecht und bekam nicht mit, dass die Waffe zu Boden gefallen war, und ausserdem war es Semirs letzter Schuss. Der Punk drehte den wimmernden Nazi auf den Bauch und fesselte ihn mit Handschellen, wobei er ihm leise sagte: "Von einem anständigen Führer hätte ich wenigstens nen ordentlichen Selbstmord erwartet." Er war sich nicht sicher, ob der Ohrengepeinigte Nazi den zynischen Spruch überhaupt gehört hatte.
Semir ging an Ben vorbei, ohne ein Wort zu sagen. "Hey... Semir..." Der Polizist griff zu, und hielt Semir fest. "Was ist da drin passiert?" Sein bester Freund hatte sich zu ihm umgedreht, blickte müde drein auf einmal, die Schultern hängend und sah auf Rocky, der von Kevin auf die Beine gehoben wurde. Es schien, als würden ihm die Worte nicht einfallen wollen. "Ich geh schon mal vor.", sagte Kevin und trieb den gefesselten, wimmernden Anführer der Sturmfront vor sich her, um ihn von Semir wegzubekommen, und Ben alleine mit ihm zu lassen.
So hatte Ben seinen Partner noch nie erlebtn... so voller Hass, so voller Wut wie gerade eben. Damals, als seine Tochter entführt wurde, und einer der Entführer nicht auspacken wollte, war es ähnlich, aber nicht genauso. Es musste
irgendetwas schreckliches in der Kneipe passiert sein. "Es kann jetzt nichts mehr passieren... was war da drin los?", fragte er nochmal mit Nachdruck, aber sensibel genug um keinen Druck zu machen. Semir zuckte kurz die Schulter, Semir schüttelte kurz den Kopf... er sagte mit tonloser Stimme: "Ich bin da drin gestorben.", und Ben überfiel ein Schaudern. Dann brach Semir in Tränen aus, er verzog den Mund, das Gesicht und begann zu weinen wie ein kleines Kind. Dabei ließ er sich von einem überforderten Ben sofort in die Arme nehmen, der sofort das Zittern in Semirs Körper spürte, ihn festhielt, ihm Halt gab, aber nicht wusste, was er tun sollte...