Diese Geschichte ist der dritte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:
1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
3.Fall: -
4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
5.Fall: Blackout
6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
7.Fall: Vertrauen
8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
9. Fall: Kalter Abschied
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Der starke Regen durchnässte sie innerhalb von Sekunden. Das miserable Wetter machte es gleichzeitig unwahrscheinlich, dass sie noch irgendwelche Spuren finden würden. Seine Schuhe sanken einige Millimeter in den dicken Schlamm und schmatzen bei jedem Schritt, als sie sich von der Schlammschicht lösten. Seine Kleidung war bereits durchnässt und er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht, um das Gesicht vom Wasser zu befreien. Dennoch konnte er dem Regen heute auch etwas Gutes abgewinnen. So sah man zumindest nicht seine Tränen. So sah man nicht, welchen Unmut die Szene vor ihnen in ihm auslöste. Er atmete tief durch und trat unter den weißen Pavillon, der am Rand der Autobahn aufgespannt war. Seine braunen Augen glitten über den gläsernen Sarg vor ihm. Angst kroch ihn ihm hoch und er fühlte sich unmittelbar in der Zeit zurückversetzt. Beklemmung, das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Lebendig begraben zu sein und nicht zu wissen, ob du gefunden wirst. Die Panik, wenn der Sauerstoff immer weniger wird und du spürst, wie dein Körper sich der Müdigkeit hingeben will. Er schloss für einen Augenblick die Augen, um die Bilder vor seinem inneren Auge zu vertreiben. Er spürte, wie jemand die Hand auf seine Schulter legte. Semir musste seine Angst gespürt haben und gab ihm zu verstehen, dass er für ihn da war.
„Ist sie da drin … erstickt?“, presste Ben leise heraus, während er die Augen wieder öffnete und sich zwang die Leiche zu betrachten. Sie war in einem weißen Kleid in den Sarg gebettet worden. Ihre langen schwarzen Haare waren liebevoll über ihre Schultern drapiert. Die Arme hatte sie vor dem Bauch verschränkt. Man brauchte kein Märchenkenner zu sein, um zu wissen, welche Szene hier nachgespielt wurde. Das wunderschöne Schneewittchen. Allerdings mit dem Unterschied, dass dieses Schneewittchen nicht mehr aufwachen würde. Sie war tot und das ließ sich auch durch den Kuss eines Prinzen nicht mehr ändern. Dies war die Realität und kein Märchen.
Die Gerichtsmedizinerin erhob sich. „Es gibt keinerlei Anzeichen für einen Erstickungstod“, berichtete sie. Gottseidank, du Glückliche, dachte er. Der junge Kommissar versuchte den weiteren Ausführungen der Frau zu lauschen, schafft es aber nicht. Auch wenn sie nicht in dem Sarg verendet war, so ließ ihn die Grausamkeit, die ihn selbst vor wenigen Jahren ereilt hatte nicht los. Er machte ohne ein weiteres Wort kehrt und verließ das schützende Dach des Pavillons und begab sich in den Regen. Mit schweren Schritten entfernte er sich von dem Tatort … nein, Fundort. Das war unmöglich der Tatort, korrigierte er sich selbst und ließ sich einige Meter weiter entfernt in das nasse Gras sinken.
Sein Körper begann leicht zu zittern und auch wenn es für Außenstehende so aussah, als würde er nur von der Kälte frieren, so wusste Ben doch, dass der Grund dafür Angst war. Angst, die in unfähig machte auch nur den kleinsten Gedanken zu fassen, der nicht mit Wolf Mahler zu tun hatte. Ich kann nicht atmen. Er wurde von einer Flutwelle von Ängsten und Panik erfasst. Es war, als wäre er wieder in einem Sarg. Seine Atmung wurde hektischer, wie von einem Fisch der an Land gespült worden war. Ich kann nicht atmen. Warum schaffte er es nicht Luft in seine Lunge zu befördern? Er spürte, wie sein Puls raste. Das zittern seines Körpers wurde stärker. Luft, verflucht, er brauchte Sauerstoff! Seine Gedanken wurden langsamer. Er erstickte. Er wollte noch nicht sterben, er wollte noch leben. Er nahm erneut einen tiefen Atemzug, doch nichts kam an. Seine Lunge war leer. Ben spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Ihm wurde schwindelig. „Ben!“, ertönte eine Stimme, die sich anhörte, als käme sie aus einer anderen Welt. „Ben, hörst du mich? Ben, sieh mich an!“
Semir legte behutsam die Hand unter Bens Kinn, zwang ihn den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Bens Wangen waren feucht und Semir wusste, dass der Regen hierfür nicht der alleinige Verantwortliche war. Sein Partner war ein Meister darin, wenn es darum ging schockierende Ereignisse zu verdrängen. Der Tod von Saskia. Nur wenige Wochen nach diesen Ereignissen, war sein Partner wieder der Alte gewesen. So auch nach der Sache mit Mahler. Aber tief in seinem Inneren, wusste Semir, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem sein Partner - nein sein Freund, sein Familienmitglied - unter diesem Druck zusammenbrechen würde. Und heute war dieser Tag gekommen.
Er hatte es schon gemerkt, als sie sich auf die Fundstelle des Opfers zubewegt hatten. Sobald der Sarg in ihr Blickfeld geriet, war Ben urplötzlich still und blass geworden. Und dennoch hatte der junge Hauptkommissar versucht seine Schutzhülle aufrecht zu erhalten. Er hatte versucht, es wie eine normale Arbeitssituation aussehen zu lassen, doch dann war sein Panzer zerbrochen. Ben war in den Regen gestürzt und hatte seine Rufe nach ihm überhaupt nicht mehr vernommen. Nun saß er vor ihm und schnappte hektisch nach Luft, drohte zu hyperventilieren. „Ben, hör mir zu“, sagte Semir mir ruhiger Stimme, „du musst ruhig atmen!“ Neue Tränen verließen die Augen des jungen Mannes. „Ich…ich kann … nicht atmen“, presste er ohne Stimme hervor, „ich bekomme keine Luft…“ Semir legte seine Hände auf Bens Schultern. „Sie mir in die Augen und dann, dann atmest du einfach ganz ruhig … ein und aus … ein und wieder aus. Mach einfach das, was ich dir sage, okay?“ Ein stummes Nicken entfuhr dem Jüngeren und er folgte den Anweisungen die Semir ihm gab. „Ein…und…Aus…Ein und wieder Aus…Ganz ruhig und gleichmäßig atmen.“ Er sah, wie sich Bens Brustkorb wieder langsamer und rhythmischer hob. „Gut machst du das, Ben, tief einatmen.“
Ben spürte, wie sein Körper langsam wieder ruhiger wurde. Die wirren Gedanken und grausamen Bilder verließen nach und nach seinen Kopf. Er konnte endlich wieder atmen. Der Schwindel ließ nach und das Gesicht von Semir wurde immer deutlicher. Der Deutschtürke betrachte ihn mit Sorge. „Geht es wieder?“, fragte er ihn und er nickte langsam. „Es tut mir leid, Semir, ich … ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte…“, stammelte er. Semir lächelte und drückte seine Schulter. „Ben, du musst dich für nichts schämen. Du bist kein Roboter … das hier, deine Reaktion, ist menschlich.“
Ben drückte sich mit den Händen vom Boden hoch und wischte Tränen und Regen aus seinem Gesicht. „Wir sollten etwas über die Tote herausfinden“, sagte er nur und setzte sich langsam, wie in Trance, in Bewegung in Richtung seines Autos. „Ben!“ Semir hechtete hinter ihm her. „Ben! Du solltest für heute nach Hause fahren, ich kann das hier übernehmen“, gab er ihm zu verstehen. „Warum?“, entfuhr es dem Braunhaarigen nun wütend, „denkst du ich schaffe das nicht? Ich hatte einen schwachen Moment, okay! Er ist jetzt vorbei, ich bin wieder vollkommen klar im Kopf.“ Semir zog skeptisch seine rechte Augenbraue hoch. „Nein Ben, bist du nicht. Du rennst vor deiner Angst davon!“ Ohne auf ihn zu achten, ging Ben weiter auf das Auto zu und setzte sich auf den Beifahrersitz. Semir stöhnte laut auf. Wie konnte jemand nur so stur sein!