Diese Geschichte ist der vierte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:
1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
3.Fall: Auf dünnem Eis
4.Fall: -
5.Fall: Blackout
6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
7.Fall: Vertrauen
8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
9. Fall: Kalter Abschied
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Veikko Lindström schob den Rollstuhl neben eine Bank und hob die dünne Wolldecke etwas höher, nachdem sie auf den Weg hierhin weggerutscht war. „Und? Willst du immer noch lieber in deiner muffigen Klinik bleiben?“, fragte er. Mikael lächelte. „Es hat geschneit“, sagte er mit einer noch etwas schwammig und undeutlich wirkenden Aussprache.
Veikko setzte sich neben seinen Freund auf die Bank. „Ja, ich dachte den ersten Schnee im Jahr willst du vielleicht nicht verpassen. Unsere obligatorische Schneeballschlacht müssen wir allerdings verschieben.“ „Warum denn.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mikael eine Bewegung machte, die einem Bücken glich. Er streckte den rechten Arm aus und brachte ihn wieder in die aufrechte Position. „Mach keinen Mist. Ich sagte, dass wir keine Schneeballschlacht machen. Du musst dich noch etwas gedulden.“ Er vernahm ein leises Schnaufen und löste seine Hand nun wieder. Mikael war zwar ohnehin in dem Rollstuhl festgeschnallt, weil er noch viel zu schwach und unkoordiniert war um selbst zu laufen, aber riskieren wollte er dennoch nicht, dass sein Freund irgendeinen Blödsinn anstellte. Veikko sah sich die Umgebung an. Der Park war groß und in der Mitte befand sich ein kleiner Teich, dessen Ränder durch den ersten Frost, bereits angefroren waren. Drei Monate war Mikael nun schon hier, nachdem Eva ihn von Köln nach Helsinki geholt hatte. Nach einem Sturz hatte er sich eine schwere Schädelverletzung zugezogen, hatte mehrere Wochen im Koma gelegen und kämpfte sich nun täglich zurück ins Leben. Das es ein schwerer Weg werden würde, darüber waren sie sich alle bewusst, als sie die Diagnose gehört hatten. Wie schwer es tatsächlich war, merkten sie erst nachdem Mikael aus dem Koma aufgewacht war. Die ersten Tage konnte er überhaupt nicht sprechen, dann waren die Worte kaum zu verstehen. Durch das Sprachtraining wurde es inzwischen immer besser. Auch kehrten seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten zurück. Ob es am Ende allerdings alle sein würden, dass konnte man weiterhin nicht sagen, vor allem weil er seit knapp einer Woche fast stagnierte. Er hatte eine linksseitige Lähmung, die noch nicht ganz zurückgegangen war, war verwirrt und wirkte manchmal weit weg in seiner eigenen Welt. Aus seinem Blickwinkel tat sich überhaupt nichts mehr. Es schien nicht vorwärts zu gehen, aber der Arzt hatte ihnen versichert, dass es kleine Fortschritte gab. Es hieß weiter Geduld haben.
Sein Handy klingelte und er entfernte sich ein Stück, ohne dabei seinen Freund aus den Augen zu lassen. „Lindström.“
„Veikko, ich wollte dich nur an unsere Feier erinnern. In zwei Tagen.“ Es war sein Vater. „Ich kann nicht, Papa. Das habe ich dir doch erzählt.“
„Du weißt, dass es für unser Ansehen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist? Du bist doch Teil dieser Familie, oder nicht?“
Er seufzte und versuchte seine Stimme in Zaum zu halten. „Papa, du weißt, dass ich nichts mehr damit zu tun haben will.“
„Der Meister hat also Recht. Es könnte sein, dass der Teufel in dir wohnt, sagt er.“
Veikkos Hand begann mit den scharfen und gleichzeitig ängstlichen Worten seines Vaters zu zittern. „Du weißt, dass das Quatsch ist, Papa. Ich bin reinen Glaubens“, antwortete er mit starker Stimme.
„Er hat mir erzählt, wie du wirklich lebst. Wer deine Freunde sind!“, kam es vom anderen Ende der Leitung.
„Wovon redest du?“
„Du bist bei der Polizei! Du bist vom Bösen umgeben, den ganzen Tag. Es ist nur natürlich, dass der Teufel in dir steckt, aber wir werden ihn vertreiben. Kommst du freiwillig oder muss ich dich holen lassen?“
„Wirklich! Scheiße Papa, ich bin dein Sohn. Steckst du wirklich schon so tief in diesem Schwachsinn, dass du es nicht checkst!“
„Du hast jemanden umgebracht, sagt er!“
„Sagt er!“ Er legte auf und steckte das Handy wütend in seine Hosentasche. „Zum Teufel mit diesem Scheiß!“, fluchte er laut. Er atmete tief durch und setzte sich dann wieder neben Mikael. „Bist du sauer?“ „Es war mein Vater. Labert mich wieder mit seinem Gotteskram voll“, antwortete er wahrheitsgemäß. Allerdings wusste er, dass es sein Freund wohl ohnehin nicht behalten würde. Er hatte heute einen der schlechteren Tage und nahm nicht wirklich viel von dem auf, was er ihm erzählte. Er hatte schon drei Mal gefragt, ob Eva heute auch kommen würde und er hatte drei Mal geantwortet, dass sie es erst am Abend schaffte.
„Sollen wir wieder rein gehen? Du bist sicherlich müde.“
„Etwas.“
Er lächelte. „Etwas? Du hast schon ganz kleine Augen.“ Veikko stand auf und umgriff die Schiebgriffe des Rollstuhls. „Ich soll dich übrigens von der Mordkommission grüßen und von den Jungs der KTU. Wir vermissen dich im Präsidium. Alle fragen immer zu, wie es dir geht.“ „Kasper Kramsu ist mein Ersatz“, hörte er von vorne. „Ja. Das musst du nicht gerne gehört haben, nicht? Aber er ist okay, er hat sich seit damals geändert.“
„Er hat dich ver …“ Mikael blieb stumm. Ihm schien das passende Wort nicht mehr einzufallen. „Verprügelt?“, fragte er nach als einige Sekunden verstrichen waren.
„Ja.“
Er lachte. „Er hatte seine Gründe. Es ist okay. Wir treffen uns sogar manchmal, aber Psst nicht weitersagen.“
„Er war mal mit Eva zusammen.“
„Darüber machst du dir Sorgen? Sie liebt nur dich!“
„Ich liebe sie auch“, sagte Mikael.
„Das sieht man. Du lächelst immer zu, wenn sie da ist.“
Sie hatten inzwischen das Klinikgebäude wieder erreicht und Veikko drückte den Türöffner, woraufhin die Tür mit einem leisen Summen aufging und er den Rollstuhl in das helle und freundlich gestaltete Foyer schob.
„Was ist mit Eva? Weißt du, ob sie heute noch kommt?“, hörte er Mikaels Stimme.
Veikko atmete tief durch und gab sich Mühe, nicht genervt zu wirken. Mikael konnte ja nichts dafür, dass er es vergessen hatte. „Ja, heute Abend. Es ist erst Nachmittag. Du musst noch ein paar Stunden Geduld haben.“
„Heute Abend“, wiederholte der Schwarzhaarige leise und Veikko nickte. „Ja, heute Abend. Vielleicht bringt sie ja Oskari mit. Vermisst du ihn?“
„Ja.“ Er lächelte. Na immerhin hatte sich bei Mikael nicht der Teil des Gehirns in Brei verwandelt, der für seinen Charakter verantwortlich war. Er mochte immer noch die gleichen Sachen und er hasste immer noch die gleichen Sachen.
Veikko brachte Mikael noch in sein Zimmer und half ihm gemeinsam mit einer Schwester wieder in das Bett. Er würde es sicherlich inzwischen auch schon alleine schaffen, da sein Freund seinen Körper schon deutlich besser im Griff hatte, als noch vor ein paar Wochen, wo er nicht einmal selbstständig aufrecht sitzen konnte, aber er fühlte sich sicherer, wenn jemand dabei war, der wusste, wie es ging. „Soll ich dir beim nächsten Mal etwas bestimmtes mitbringen?“, fragte er nach, als die Schwester das Zimmer verlassen hatte.
„Ich weiß nicht“, murmelte Mikael müde, während ihm die Augen zufielen.
„Schokolade, wie klingt das?“
„Hmm.“
Kurz darauf ertönten nur noch leise Schlafgeräusche. Er drückte Mikaels Arm. „Ciao Kumpel. Ich bring dir dann Schokolade mit. Nuss, wie du sie magst.“
Vorsichtig schob er seinen Stuhl zurück und stand dann auf, um seine Jacke vom Haken zu nehmen. Danach verließ er so leise, wie möglich das Zimmer und begab sich auf den Heimweg.
Er war mit dem Mountainbike gekommen, wie immer. Er fuhr viel mit dem Fahrrad und hatte bereits die Räder mit Spikes aufgezogen, damit er im Winter nicht zum rutschen kam. Es war zwar erst Oktober, aber in diesem Jahr ein besonders kalter. Die Temperaturen erreichten in einigen Nächten bereits die Nullgradgrenze. Er dachte an das Gespräch mit seinem Vater und überlegte inzwischen ernsthaft, ob er nicht wirklich zu dieser Familienfeier gehen sollte. Er musste sehen, wie es seinem Vater ging. Das am Telefon hatte sich nicht gut angehört und er machte sich Sorgen, dass seine Familie noch tiefer in die Fänge dieser Sekte geraten könnte.
Zu Beginn ließ er es langsam angehen, erst dann beschleunigte er seine Geschwindigkeit. In seinem iPod hatte er sein Lieblingslied ausgewählt, dass er nun laut mitsang. Das ließ ihn zumindest den Ärger vergessen. Es war kurz vor 17:00 Uhr und es wurde langsam dunkel. Neben ihm tauchte auf der Straße immer wieder ein Lichtkegel auf, wenn ein Auto vorbeifuhr.
Ein Wagen hielt neben ihm an und das Fenster öffnete sich ein paar Zentimeter und er hörte eine Frau schreien. Er blieb nun ebenfalls stehen. „Können Sie mir vielleicht helfen, wissen Sie wie ich zum Helsinkier Dom komme?“ Veikko stieg von seinem Mountainbike und lehnte es an einen Leitpfosten. Er ging ein paar Schritte auf den Wagen zu und stützte sich mit den Händen an dem geöffneten Fenster ab. „Von hier ist es nicht besonders schwer, wenn sie auch noch sehr weit außerhalb der Innenstadt sind. Sie müssen einfach weiter geradeaus fahren und danach …“ Er erstarrte als sich urplötzlich von seinem Arm Schmerzen ausbreiteten. Er sah hinab und verfolgte, wie die Frau den Kolben einer Spritze runter drückte und eine durchsichtige Flüssigkeit in seiner Blutbahn verschwand. Er merkte, wie er langsam müde wurde. Seine Beine schienen plötzlich aus Wackelpudding zu sein, gaben unter ihm nach. Er hielt sich krampfhaft an der Tür fest. "Was?", nuschelte er verwirrt, doch bekam keine Antwort, bevor er das Bewusstsein verlor.