1. Forum
  2. 25-jähriges Jubiläum
    1. Einleitung
    2. Entstehungsgeschichte
    3. Interviews 1996
    4. Drehorte
    5. Titelmusik
    6. Faktencheck
  3. Episodenguide
    1. Staffel 01 (Frühjahr 1996)
      1. 001 Bomben bei Kilometer 92
      2. 002 Rote Rosen, schwarzer Tod
      3. 003 Der neue Partner
      4. 004 Mord und Totschlag
      5. 005 Tod bei Tempo 100
      6. 006 Der Alte und der Junge
      7. 007 Falsches Blaulicht
      8. 008 Der Samurai
      9. 009 Endstation für alle
    2. Staffel 02 (Frühjahr 1997)
      1. 010 Ausgesetzt
      2. 011 Kaltblütig
      3. 012 Shotgun
      4. 013 Notlandung
      5. 014 Das Attentat
      6. 015 Die verlorene Tochter
    3. Staffel 03 (Herbst 1997)
      1. 016 Crash
      2. 017 Generalprobe
      3. 018 Kindersorgen
      4. 019 Bremsversagen
      5. 020 Rache ist süß
      6. 021 Raubritter
    4. Staffel 04 (Frühjahr 1998)
      1. 022 Sonnenkinder
      2. 023 Tödlicher Ruhm
      3. 024 Volley Stop
      4. 025 Kurze Rast
      5. 026 Leichenwagen
      6. 027 Gift
      7. 028 Zwischen den Fronten
      8. 029 Schnäppchenjäger
      9. 030 Faule Äpfel
      10. 031 Schlag zu!
    5. Staffel 05 (Herbst 1998)
      1. 032 Ein Leopard läuft Amok
      2. 033 Die letzte Chance
      3. 034 Tödlicher Sand
      4. 035 Im Fadenkreuz
      5. 036 Im Nebel verschwunden
      6. 037 Die Anhalterin
      7. 038 Der tote Zeuge
      8. 039 Der Joker
    6. Staffel 06 (Frühjahr 1999)
      1. 040 Treibstoff
      2. 041 Tödliche Ladung
      3. 042 Brennender Ehrgeiz
      4. 043 Schattenkrieger
      5. 044 Taxi 541
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      7. 046 Der Tod eines Jungen
      8. 047 Ein einsamer Sieg
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Pirun palvelijan - Diener des Teufels

    • Fertig gestellt
    • harukaflower
  • harukaflower
  • 8. August 2015 um 22:23
  • 1
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  • harukaflower
    Gast
    • 20. September 2015 um 08:27
    • #21

    Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen und Ben sah, wie Enni hereinkam. Sie trat neben die geöffnete Tür und drückte sich an die Wand, als hätte sie Angst, ihnen nur ein Stück zu nahe zu kommen. „Wieso?“, fragte sie.
    „Wieso was?“
    „Wieso musstest du dazwischen gehen? Wieso hast du mich, nein uns alle, so verraten!“
    Ben sah auf den Körper von Veikko. Die Atmung war noch immer hektisch und er hatte seit diesem Ritual nicht die Augen geöffnet. „Er ist dein Bruder! Siehst du denn nicht, dass das alles falsch ist?!“
    „Du weißt überhaupt nichts!“, schrie sie hysterisch. „Du hast keine Ahnung Ben! Wir wollen ihm helfen. Wir wollen, dass er den Teufel loswird, aber wie kannst du das verstehen!?“
    Sie sah auf die Erde. „Ich habe dich geliebt“, flüsterte sie leise. „Ich habe dir vertraut.“
    „Ihr solltet Veikko und mich gehen lassen“, versuchte Ben.
    „Euch gehen lassen! Ich werde euch nicht gehen lassen. Du wirst mir meinen Bruder nicht nehmen, du nicht!“
    „Enni … das ist falsch. Bitte, du musst doch verstehen, dass Veikko Schmerzen hat. Er möchte das hier nicht.“
    „Lass … es“ Ben verstummte, als er eine dünne Männerstimme vernahm und sah zur Seite. Veikko hatte die Augen einen Spalt geöffnet. „Du-du wirst auf taube Ohren stoßen … sie sieht nichts mehr.“
    „Was soll das heißen!?“ Enni löste sich von der Wand und sah ihren Bruder an. „Sag!“
    „Dein Gehirn ist vollkommen … vernebelt vor Angst“, presste Veikko heraus.
    „Das stimmt nicht! Wir wollen dir helfen, du gehörst zu uns! Aber du bist derjenige, der das nicht sieht! Du bist Teil dieser Gemeinschaft, du bist Teil dieser Familie!“
    „Das hier ist nicht meine … Familie. Die ist in Helsinki …!“
    Eine Träne kullerte über ihre Wange, kurz darauf folgten weitere. „Wie kannst du so etwas nur sagen! Ich liebe dich, aber du … du scheinst den Teufel nicht loslassen zu wollen! Ich will dich doch nur zurück!“
    „Glaub mir Enni, dein Bruder trägt nicht den Teufel in sich. Er ist ein wundervoller, liebevoller Mensch, der sich für andere aufopfert!“, mischte sich nun wieder Ben ein.
    Sie sah ihn an und all die Liebe, die Ben in den letzten Wochen darin gesehen hatte, war verschwunden. Nun begegneten ihm diese Augen nur noch mit Hass. „Was weißt du denn schon! Du glaubst nicht an unsere Lehre. Du bist nur hier, um uns auszuhorchen!“
    „Lass … Ben gehen … er hat nichts mit dem Teufel … zu tun.“ Veikko versuchte die Augen offen zu halten, doch es fiel ihm immer schwerer. Zu groß war der Schaden, den die letzte Spritze angerichtet hatte.

    „Niemand wird gehen!“, schrie Enni. „NIEMAND!“ Sie griff nach dem Wassereimer, der in der Ecke stand und trat an Veikko heran, um ihn das Blut und den Schweiß vom Körper zu wischen. Er redete weiter auf sie ein – diesmal auf Finnisch – fand aber keinen Adressaten mehr. Enni war weg in ihrer eigenen Welt. Sie lächelte ihn an. „Bald wirst du es geschafft haben. Ich spüre das. Bald bist du wieder bei uns Bruderherz!“ Sie strich eine Strähne aus seinem Gesicht und legte ihre Hand auf seine Wange. „Ich werde niemals zurückkehren!“, flüsterte er leise. Sie zog ihre Hand zurück. „Wie kannst du so etwas nur behaupten“, flüsterte sie und begann erneut an zu weinen. Ihr Körper bebte und zitterte von Tränen geschüttelt. „Wieso? Wieso musstest du nur gehen“, schluchzte sie heraus. „Der Meister hat Recht, die Welt da draußen ist voll von Versuchungen. Von dem Bösen!“
    „Es … ist besser … als dieses Gefängnis!“
    Sie sprang auf. „Ich werde erst wieder mit dir reden, wenn du bei Verstand bist!“, schrie sie und wenig später knallte die dicke Tür ins Schloss. Sie war gegangen.

    „Wie geht es dir?“, fragte Ben und sah in Veikkos erschöpften Augen.
    „Super“, murmelte der Schwarzhaarige leise. „Es ging mir noch nie besser.“
    „Wie lange hältst du noch durch?“, stellte der deutsche Kommissar nun die Fragen aller Fragen. „Ich weiß nicht. Ich fühle mich jetzt schon, als hätte mich ein LKW überfahren“ Ben schluckte. Er hatte so etwas bereits vermutet. Sie brauchten wohl mehr als Glück, um hier herauszukommen. „Und es kann wirklich nur jemand wie Mikael deinen Hinweis knacken?“, hakte er nach.
    „Ich … hoffe nicht“, nuschelte Veikko. „Denn dann hätte … wir keine Chance. Antti würde ihn niemals hier hereinziehen. Er wird ihn beschützen wollen und Außen vorlassen.“ Der Finne sah ihn an. „Du hättest mir nicht … helfen sollen.“
    „Und dann? Was dann?“
    Veikko lachte leise auf. „Ich … ich hatte einen Plan. Ich hätte ihn dir erzählt … nach dem Ritual …“
    Ben stöhnte. „Und das hätte ich woher wissen sollen?! Es ist egal. Ich war sowieso nie wirklich unentdeckt.“
    „Es ist auch nicht reichlich intelligent, dass man sich mit seinem richtigen Namen hier vorstellt“, erwiderte der Schwarzhaarige.
    „Likpi meinte, dass es hier viele Polizisten gäbe, dass es überhaupt kein Problem sei.“
    „Likpi ist ein Idiot. Die haben dich durchleuchtet und sind auf etwas gestoßen, was dich mehr als gefährlich macht.“
    Ben zog die Augenbrauen zusammen. „Und das wäre?“
    „Mikael.“
    „Mikael? Wieso Mikael?“
    Es herrschte einige Minuten Stille, ehe Veikko ihm antwortete. „Sie haben mich beobachtet, ehe sie mich … entführt haben. Sie haben mich bei Mikael gesehen und wenn sein Name dort auftaucht, dann ist es doch klar, dass du auch mich kennen musst.“
    Ben lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Natürlich hatte Veikko mit jedem Wort Recht. Er war diesen Einsatz wohl viel zu leichtsinnig angegangen.

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  • harukaflower
    Gast
    • 22. September 2015 um 08:13
    • #22

    Es hatte Antti und Semir etwa eine Stunde gebraucht, bis sie die Adresse erreicht hatten, die ihnen der Computer ausgespuckt hatte. Nun standen sie mit Anttis blauem Audi einige hundert Meter entfernt von einem großen Bauernhof, der aus einem großen Haupthaus sowie einigen kleinen Nebenhäusern bestand. Antti zog sein Handschuhfach auf und griff nach einer Waffe. Er reichte sie Semir. „Man weiß ja nie“, sagte er und zwinkerte. Die beiden Kommissare sahen auf den Bauernhof vor ihnen. „Die Höhle des Löwen also“, sagte der Finne leise.
    „Wie willst du vorgehen?“, fragte Semir, während er die Pistole in seinen Händen mustert.
    „Wir wissen nicht, wie viele Menschen da drin sind und wir sind nur zu zweit. Allerdings geht es hier auch um unsere Kollegen und ich will ungerne weitere Minuten verstreichen lassen“, wägte Antti ab.
    Der blonde Finne entsicherte seine Waffe. „Lass uns einfach hoffen, dass die unbewaffnet sind, ja? Immerhin sind das ja Gottesfanatiker, die Mord nicht verzeihen.“
    Semirs Blick blieb auf der Waffe. Natürlich hatte Antti mit seiner Aussage Recht, aber ihm war auch klar, dass sein Freund diesen Satz gesagt hatte, damit sich ihre Nerven beruhigten, denn ganz so leicht war es dann eben auch nicht. Diese Menschen konnten dennoch gefährlich sein und sie wussten einfach nicht, was sie erwarten würde, wenn sie überhaupt etwas erwartete. Es konnte immerhin auch sein, dass diese Koordinaten ins Nichts führten. Aber es sprach einiges dafür, dass dieser Hof bewohnt war – von wem auch immer.
    „Das klingt nach einem guten Plan“, stimmte Semir schließlich zu und sie traten gemeinsam aus dem Auto. Der finnische Beamte zog den Kofferraum auf und reichte ihm eine der drei kugelsicheren Westen, während er sich selbst ebenfalls eine herausnahm. „Das ist Mikaels, die müsste dir eigentlich passen.“ Semir griff danach. „Du bewahrst sie immer noch auf?“, fragte er erstaunt und zog sie über.
    „Irgendwann wird er zurückkommen und sie brauchen“, erwiderte Antti und lächelte.

    Die beiden Kommissare nickten, um sich gegenseitig das Zeichen zu geben, dass sie bereit waren. Danach machten sie sich auf in Richtung Hof. Die Straße zum Bauernhof war schmal. Etliche Schlaglöcher zierten das Bild, die notdürftig mit kleinen Steinen und Sand gestopft worden waren. Als sie an dem Hof angekommen waren, öffnete Antti mit einem leichten quietschen das Tor. Der Hof war mit etwa faustgroßen Findlingen gepflastert worden und wirkte sauber und aufgeräumt. Dennoch mussten sie feststellen, dass sie auf beängstigende Ruhe trafen.
    „Irgendwas stimmt nicht“, murmelte Antti. Semir stimmte zu. „Hier ist überhaupt niemand zu sehen.“ Das Herz des deutschen Kommissars begann schneller zu schlagen und Adrenalin pumpte durch seine Adern. Er hatte schon etliche ähnliche Situationen durchlebt, aber dennoch war es immer wieder etwas Neues. Es gab immer dieses kleine Restrisiko. Sie schienen in eine offensichtliche Falle zu laufen, aber woher konnten diese Menschen wissen, dass sie gekommen waren? Er packte seine Waffe fester. „Das erhöht die Fehlerquote im 30 Prozent, ist dir das eigentlich bewusst?“, hörte er Antti neben sich sagen. „Wie? Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich noch nicht sterben will.“
    „Ich weiß nicht, das kam mir gerade in den Sinn. Mikael hat es mal gesagt und er muss es wissen.“ Semir lächelte. „Ja, das stimmt wohl. Oder er wollte dich nur beeindrucken.“
    Antti zog den rechten Mundwinkel nach oben. „Ich habe jetzt keine wissenschaftlichen Studien gelesen, um es nachzuprüfen. Es könnte also durchaus sein!“
    Der deutsche Kommissar sah aufmerksam über den leeren Hof. „Wir sind mitten auf dem Präsentierteller, ob da 30 Prozent noch einen Unterschied machen?“
    „Wohl kaum. Wenn die deinen Schädel treffen ist es so oder so aus.“
    „Das beruhigt mich jetzt ungemein Antti!“ Semir scannte die Gebäude, um herauszufinden, welches sie sich als erstes vornehmen sollten. „Was denkst du?“, fragte er seinen finnischen Kollegen.
    „Den Schuppen oder das Haupthaus?“

    Von irgendwoher fiel ein Schuss und nahm den beiden Hauptkommissaren die Entscheidung ab. Semir reagierte am schnellsten und zog Antti mit sich in Richtung eines kleinen hölzernen Schuppens, der nur wenige Meter von ihnen entfernt lag. Er lehnte die Tür an und sah hinaus, um den Schützen ausfindig zu machen. „Danke. Ich war wohl unaufmerksam“, hörte er Antti hinter sich sagen. „Kein Ding. Die Frage ist nur, was wir nun für Optionen haben.“
    Antti stöhnte. „So viel zu Mord wird nicht verziehen! Unsere Optionen? Den Schützen erschießen oder hier ausharren. So viele Möglichkeiten gibt es ja da nicht“, merkte der Finne an und lachte sarkastisch auf. „Das wird Lipki gefallen, wenn er das mitbekommt!“
    „Denkst du, dass die mehr als eine Waffe haben?“, fragte Semir.
    „Frag mich etwas Leichteres. Ben ist hier, weil die einen Anschlag planen. Ich traue denen alles zu.“
    Antti stellte sich neben ihn. „Wir sitzen in der Falle. Wir kommen hier nicht weg, ohne das die es sehen und auf uns schießen.“
    Der deutsche Kommissar nickte und sah sich im Schuppen um. „Wir müssen uns wohl einen Hinterausgang basteln. Bleib du hier und behalte alles im Auge. Ich versuche die Bretter da hinten zu lösen.“
    Antti drehte sich um und nahm nun ebenfalls die hintere Wand in Augenschein. „Und dann?“
    „Haben wir zumindest einen Notausgang. Was auch immer der uns am Ende bringt, das Gelände ist riesig.“
    Der Blonde nickte. „Du hast Recht. Besser als Garnichts ist es allemal!“
    Semir zog an einigen Brettern, musste allerdings schnell feststellen, dass er sich das Ganze einfacher vorgestellt hatte. Die Bretter gaben nicht nach und er bekam sie überhaupt nicht richtig zu fassen, auch wenn die Fugen mit einigen Millimetern doch schon ordentlich waren. Er ließ von seinen Versuchen ab und sah sich im Schuppen um. Irgendwo musste doch etwas sein, das er als Hebel benutzen konnte.
    „Was glaubst du, wie lange warten die ab?“, rief ihm Antti zu.
    „Die haben im Augenblick den Vorteil in dieser Situation. Wo sollen wir ihnen weglaufen?“
    „Ja, das stimmt wohl. Hast du schon was erreicht?“
    „Nein, ich komme einfach nicht zwischen die Bretter. Es ist nicht so leicht, die loszubekommen.“
    „Irgendwo habe ich einen Hammer gesehen. Diese mit der Spitze dran für Nägel.“ Antti drehte den Kopf und suchte den Schuppen ab. Er lächelte. „Dahinten auf dem alten Reifen.“
    Semir drehte sich in die Richtung, wo Antti hinsah. „Ah! Der hat sich aber auch gut versteckt. Damit sollte es gehen!“
    Er holte sich den Hammer und klemmte den Nagelheber zwischen die Bretter. Dann drückte er den Griff kräftig nach unten und tatsächlich hörte er schon ein leises Quietschen. Mit etwas mehr Druck, gaben die Nägel an den Seiten des Brettes nach und ließen verbiegen. Wenig später viel die rechte Seite des Brettes auf die Erde. Semir sah prüfend auf Antti. „Haben die was gemerkt?“ Der Finne schüttelte den Kopf. „Nein, es ist weiterhin alles ruhig!“

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  • harukaflower
    Gast
    • 24. September 2015 um 08:19
    • #23

    Der silberne Audi blieb dicht neben seinem blau lackierten Pendant stehen und Jaakko Likpi stieg im Schlepptau von Kasper Kramsu aus. Der junge finnische Kommissar ging auf Anttis Wagen zu und warf einen Blick hinein. „Sie sind wohl schon rein. Erreichen kann ich ihn über Handy auch nicht.“
    Likpi schien seinem Kommentar keine große Aufmerksamkeit zu schenken. Er lehnte sich auf seine Motorhaube und betrachtete das Gebäude vor ihnen. Ein unscheinbarer Hof, von denen es viele in dieser Gegend außerhalb von Helsinki gab.
    „Sie bleiben in Deckung Kramsu, das SEK ist gleich hier, wird stürmen und dann das Haus freigeben“, sagte Likpi. „Wir sind hier schließlich nicht in einem TV-Krimi!“
    „Aber mein Kollege ist da drin und mein Freund!“, widersprach der Angesprochene sofort. Likpi stöhnte auf. „Kramsu. Ich habe hier die Verantwortung! Sie können mir meinetwegen ins Wort fallen, wenn sie auch ein Haupt vor ihrem Kommissarstitel tragen. Bis dahin sollten Sie zusehen und lernen und wohl am besten nicht von Heikkinen.“ Der Einsatzleiter schüttelte den Kopf. „Reingehen ohne irgendwelche Informationen. Was für Anfänger.“
    Kasper Kramsu umgriff wütend seine Waffe fester. Er war noch unerfahren, das stimmte natürlich, aber deshalb musste er sich doch so etwas nicht gefallen lassen! „Ich habe eine kugelsichere Weste an, diese Menschen sich womöglich überhaupt nicht bewaff …“
    „Ich sagte, dass Sie hier abwarten. Was ist los mit euch bei der Mordkommission? Ihr holt euch jemand wie Hansen ins Team, dann kommt mir Heikkinen quer und nun wollen Sie mir sagen, wie ich meinen Job zu machen habe. Werdet ihr danach ausgewählt? Wer am meisten Ärger macht, bekommt den Job?“
    „Es heißt Häkkinen, Likpi, und dieser Mann würde einen besseren Job machen, als du!“
    „Dieser Mann liegt im Krankenhaus, habe ich gehört. Und warum? Weil er einen dummen Anfängerfehler gemacht hat!“

    Kasper zog seine Waffe aus dem Holster und entsicherte sie. Dann löste er sich von dem Wagen und lief in Richtung Hof. „Leck mich Likpi!“, ließ er verlauten und störte sich nicht großartig an den Flüchen, die nun von hinten auf ihn hereinprasselten. Auch wenn er sich sicherlich nie zu Mikaels Freunden zählen würde, so wusste er dennoch, dass er eine solche Behandlung nicht verdient hatte. Das er Hansen Sohn war, das zählte sicherlich nicht zu Mikaels Fehlern. Da hatte sein ehemaliger Mitschüler von der Polizeiakademie ganz andere Macken, die im Polizeiberuf viel hinderlicher waren.

    Er öffnete das Eisentor und trat auf den Hof. Die Gebäude um ihn herum machten einen gepflegten Eindruck. Er sah sich vorsichtig um, ohne dabei seine Deckung zu vernachlässigen. Es gab keinerlei maschinellen Geräten für die Landwirtschaft. Er konnte nur Hilfsmittel ausmachen, die aus einer längst vergessen Zeit kamen und bereits verrostet waren. Hatte Veikko nicht erzählt, dass man sich hier selbst ernährte? Das konnte man doch nicht auf die alte Weise bewerkstelligen. So altertümlich schienen doch nicht einmal diese Sektenmitglieder zu sein, oder doch? Ihm wurde bewusst, dass er sich niemals wirklich mit dieser Gruppierung beschäftigt hatte. Er war wütend gewesen, dass seine Schwester wegen ihnen gestorben war, aber dennoch hatte er sich nicht näher damit befasst. Ihm hatte es gereicht, dass es eine verrückte Sekte war. Veikko hatte ihm einige Dinge erzählt, aber nur über dieses Ritual, bei dem seine Schwester gestorben war. Nichts über das Leben hier. Das konnte doch nicht sein. Veikko war ein Genie, was die Technik anging. Er musste doch schon vor seinem 16. Lebensjahr damit in Kontakt gekommen sein? Andererseits war er intelligent, da könnte er sich auch alles erarbeitet haben, als er hier heraus kam.
    Er konnte überhaupt keine Geräusche ausmachen. Keine Stimmen, nichts. Für einen Augenblick hatte er überlegt, ob er nach Antti rufen sollte, aber er wollte seinen Partner auch nicht in Gefahr bringen. Vielleicht hatte er sich mit dem deutschen Kollegen ja überhaupt noch nicht zu erkennen gegeben. Immerhin war das durchaus denkbar. Etwas zog ihn mit einer heftigen Bewegung zur Seite, wenige Sekunden später knallten Kugeln neben ihn in die Außenwand einer alten Scheune. Adrenalin pumpte durch seinen Kreislauf und er geriet in Panik. Erst als er erkannte, wer ihm gerade aus der Schussbahn gezerrt hatte, atmete er erleichtert auf. „Was zur Hölle Kasper!“, schimpfte Antti leise. „Was machst du da? Spaziert Mitten über den Hof und merkst nicht einmal, dass etwas faul ist. Wo dachtest du, sind alle Leute? Zu ihrer Andacht.“
    „Es tut mir ja leid“, nuschelte er. „Ich habe nicht nachgedacht.“
    „Da hast du Recht. Du hast wirklich nicht nachgedacht! Wo ist die Verstärkung?“ Antti sah seinen Partner ernst an. „Es kommt doch Verstärkung oder? Zumindest hoffe ich das. Wir haben diese Leute unterschätzt. Die haben Waffen.“
    „Das SEK ist noch nicht da. Likpi steht vor dem Hof. Er hat mich aufgeregt, deshalb bin ich schon einmal rein.“
    „Tolle Scheiße“, fluchte Antti und sah Semir an. „Wie sieht es bei dir aus?“
    „Die Bretter lassen sich ganz schlecht lösen“, antwortete Semir.
    „Ich hasse es in der Falle zu sitzen!“, schimpfte Antti und sah dann wieder zu Kramsu. „Hast du wenigstens was entdecken könne?“
    „Ja, was denn? Ich bin ja nicht sehr weit gekommen.“

    Der Hauptkommissar stöhnte. „Behalte den Hof im Auge“, sagte er und machte sich nun auf den Weg Semir bei den Holzbrettern zu helfen. „Dieses Schuppen ist doch uralt, wie kann er da nur so störrisch sein!“
    Kasper behielt, wie von Antti angeordnet, das Geschehen auf dem Hof im Blick. Er schluckte, als er eine Bewegung wahrnahm. „Wir haben ein Problem“, ließ er verlauten.
    „Ja, haben wir. Diese blöden Bretter lassen sich nicht lösen!“, schimpfte Antti von hinten.
    „Ich meine ein wirkliches Problem. Die haben Veikko – und ich glaube den deutschen Kollegen – als Geisel. Die stehen dort mitten auf dem Hof!“

    Semir und Antti hechteten zur Tür und lugten nun ebenfalls durch die kleine Öffnung. „Ben!“, schrie Semir auf, doch ehe er sich ohne Nachzudenken hinausstürzen konnte, hatte Antti bereits zugepackt. „Bist du bescheuert! Die knallen dich ab, sobald du vor die Tür trittst! Die legen ihre dämliche ‚Mord wird nie verziehen-Regel‘ aus, wie sie wollen.“
    Semir löste sich aus Anttis Griff. „Ja doch, ich weiß!“, schimpfte er. Unbehagen breitete sich in ihm aus, als er beobachtete, wie die Mündung der Pistole gegen Bens Stirn gedrückt wurde. Sein Kollege sah im Gegensatz zu Veikko immerhin unversehrt aus. Der finnische Kollege hatte kleine Augen und schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. „Was wollen Sie? Was sind Ihre Forderungen?“, rief Semir im schlechten Englisch auf den Hof.
    „Ich will, dass Sie rauskommen“, forderte einer der Männer. Der, der Ben im Schwitzkasten hatte.
    „Das ist Matti Lindström, Veikkos Vater“, flüsterte Kasper ihnen leise zu. „Und die Frau, die Veikko im Schwitzkasten hat, seine Mutter.“
    „Wer ist die junge Frau? Kennst du sie auch?“, fragte Semir leise.
    „Seine Schwester, Enni.“
    „Tolle Familie!“, ließ der deutsche Beamten verlauten.
    „Herr Lindström. Wir wollen Ihnen nichts Böses. Bitte lassen Sie die Waffen fallen!“, schrie nun Antti.
    Der Mann lächelte. „Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, sehe ich. Sind Sie wegen Ihrem Kollegen hier, der uns in den Rücken fallen musste?! Dreckige Tricks übrigens, uns eine faules Ei unterzujubeln!“
    „Ich bin auch wegen ihrem Sohn hier. Sie halten Veikko gegen seinen Willen fest“, antwortete Antti.
    „Er hat den Teufel in sich! Ich will ihm nur helfen!“ Die drei Kommissare sahen sich an. „Wenn wir rausgehen, dann bringen die uns um“, mutmaßte Kasper. „Und wenn nicht? Dann bringen sie vielleicht Ben um!“, widersprach Semir sofort.
    „Wie auch immer. Wir stecken in der Scheiße!“, brachte es Antti auf den Punkt.

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  • harukaflower
    Gast
    • 25. September 2015 um 08:11
    • #24

    Kalter Schweiß stand auf Bens Stirn. Er versuchte sich ein Bild von der Situation zu machen. Er hatte Semirs Stimme gehört, wusste aber nicht, ob ihn das beruhigte, oder noch mehr in Sorge versetzte. Denn keinesfalls wollte er, dass sein Kollege vielleicht etwas Unbedachtes tat. Waren Antti und Semir alleine gekommen? Hatte sich vielleicht irgendwo das SEK positioniert? Aus dem Augenwinkel sah er Veikko. Seine Atmung ging schnell, Schweiß stand auf seiner Stirn und die Beine zitterten. Sein Freund war ohne Zweifel am Ende. Bei ihm sah es besser aus. Immerhin hatte in den letzten Stunden der fürchterliche Druck in seiner Brust nachgelassen und er war auch nicht mehr ganz so wackelig auf den Beinen. Etwas weiter hinter Veikkos Mutter standen Enni und Erik Blomling. Die anderen Sektenmitglieder harrten wohl im Haupthaus aus.
    „Kommen Sie endlich raus!“, rief Matti Lindström hinter ihm auf Englisch und im gleichen Augenblick spürte Ben, wie sich die Pistolenmündung tiefer in die Haut an seiner Stirn grub und dennoch, konnte er nicht zulassen, wie Semir in sein Unglück lief.
    „Bleib wo du bist Semir!“, schrie er. „Komm ja nicht raus!“

    „Ich werde ihren Kollegen töten müssen, wenn Sie nicht kommen“, ließ Lindström verlauten und Ben war sich sicher, dass er seine Drohung ernst meinte. Die Tage hier drin hatten ihm gezeigt, dass diese Menschen keine Kompromisse machten und nicht rational dachten. Veikko war hier, weil er einen Menschen erschossen hatte, aber sicherlich legten dessen Vater und dieser Anführer diese Regel aus, wie sie ihnen gerade passte. Das kalte Metall der Pistole drückte sich fester in seine Stirn. Gleich würde er abdrücken, dachte er und kniff die Augen zusammen, als ob das irgendwas ändern würde. Es ertönte ein Schuss, doch er spürte nichts. Da war kein Schmerz. Wie konnte da kein Schmerz sein? Dann hörte ich einen dumpfen Aufprall. Er hörte jemanden Schreien. Er öffnete die Augen. Linda Lindström lag vor ihm auf der Erde. Auf ihrer Stirn klaffte ein Loch. Blut quoll auf den Boden. Veikko beugte sich darüber und hielt ihren Kopf in seinen Händen. Er weinte. „Mama! Bitte, nein …“, hörte er ihn flüstern. Das alles geschah in einem Wimpernschlag einer Sekunde, sodass die ganze Welt stehen zu bleiben schien. Dann hatte jemand den Schalter wieder umgelegt. Es brach Chaos aus. Menschen schrien, Schüsse fielen. Matti Lindström zog ihn mit sich, während immer mehr Schüsse durch die Luft knallten. Aus dem Augenwinkel sah er auch Enni und Blomling weglaufen. Er hörte, wie Semir nach ihm rief, konnte ihn aber in dem ganzen Durcheinander nicht finden.

    „Komm schon Bulle!“, schrie Matti in sein Ohr. Er trat aus und rammte seinem Angreifer den Ellenbogen in die Magengegend. Matti Lindström ließ für einen Augenblick von ihm los und Ben rannte einfach los. Lindström schrie, es fiel ein Schuss und eine Kugel traf Ben am Arm. Voller Schmerzen hielt er sich die Wunde, dachte aber nicht daran stehen zu bleiben. „Ben! Hierher!“, hört er Semir schreien. Er sah sich um, versuchte Semir in dem Chaos, was auf dem Hof herrschte auszumachen. Sein Kollege stand in der Tür des Schuppens, der nur noch wenige Meter von ihm entfernt lag. Ben zögerte nicht lange und eilte zu dem rettenden Unterschlupf.
    Als er endlich im sicheren Inneren war, atmete er hektisch ein und aus und ließ sich auf den Boden sinken. „Wenn ihr aus mir einen Schweizer Käse machen wollt, dann hättet ihr ruhig eine Warnung oder so geben können!“, schimpfte er und betrachtete die Wunde an seinem Arm. Es war wohl nur ein Streifschuss wie es aussah. Draußen knallten immer noch die Schüsse. „Glaub mir Partner, das kam auch für uns überraschend!“, sagte Semir und fummelte bereits mit seinen Händen an Bens Arm rum. Der Jüngere zog ihn sofort weg. „Das ist jetzt nicht wichtig. Nur ein Streifschuss.“ Er sah sich um, konnte allerdings nur Antti ausmachen. „Wo ist Veikko. Wo ist er?“
    „Draußen“, antwortete ihm der Finne. Ben sprang auf. „Was! Ihr könnt ihn doch nicht einfach so da draußen in diesem Kugelhagel lassen!“
    „Keine Bange. Kasper ist raus und hat meine Schutzweste. Das SEK wird hoffentlich das Wort Poliisi lesen können.“
    „Kasper?“
    „Mikaels Ersatz“, ließ Semir verlauten und Ben nickte. Ja, Veikko hatte ihn bereits erwähnt.

    Nur kurz darauf öffnete sich die Tür des Schuppens abermals. Kasper rannte herein und trug Veikko auf den Armen. „Da stimmt was nicht … er ist plötzlich weggesackt und sein Puls spielt verrückt!“ Er ließ seinen Kollegen sanft auf den Boden. „Antti! Mach doch was!“, schrie er verzweifelt. „Er ist nicht verletzt. Da ist kein Blut. Nichts! Was ist denn mit ihm?!“
    Bens Augen fixierten die leblose Person vor sich. Der Brustkorb von Veikko hob sich schnell und flach. „Sie haben ihm wieder dieses Zeug gespritzt. Ich habe keine Ahnung was das ist, aber …“ Er stockte. Das konnte nicht sein! „Er hat mir erzählt, dass bei diesem Ritual irgendwann das Herz stehen bleibt!“
    Antti schob Kasper bei Seite und fühlte den Puls. „Er ist unregelmäßig!“ Noch immer knallten Schüsse durch die Luft. Ben sah nervös durch die Bretter. „Wann sind die denn da fertig mit ihren Westernfestspielen?“
    „Hoffentlich bald“, sagte Semir. „Denn auch unser Hinterausgang bringt uns nicht weiter.“ Er hatte sich inzwischen neben Antti gehockt. „Er-er wird nicht sterben oder?“ Die beiden Ältesten sahen auf und blickten in das fahle Gesicht von Kasper. „Er kann doch nicht sterben!“
    „Kasper sieh mich an!“, fordere Antti. „Veikko wird nicht sterben. Er ist ein zäher Bursche, auch wenn er nicht so aussieht. Sein Herz wird hier und heute nicht aufhören zu schlagen, ja!?“ Kasper nickte unsicher und griff nach Veikkos Hand. Semir sah Antti an. Er wusste, dass er genau das gleiche dachte. Semir wünschte, dass der Zugriff schnell beendet war. Veikko brauchte Hilfe und das schnell. Der Kreislauf war vollkommen aus den Fugen.

    Ein Motor heulte auf. Ganz in ihrer Nähe. Kurz darauf sahen sie einen grünen Jeep an dem gebastelten Hintereingang vorbeifahren. Minuten später war es still. Die Schüsse hatten aufgehört. Ben lugte durch die Bretter. „Das SEK ist auf dem Hof, sie nehmen die Leute fest. Aber ich glaube, die in dem Jeep konnten wohl fliehen. Likpi redet hektisch in sein Funkgerät.“
    Antti war aufgesprungen und riss die Tür des Schuppens regelrecht auf. Er war kurz davor gewesen diesem Mann seine Meinung zu sagen und vielleicht auch ihm seine Faust spüren zu lassen, aber sein Verstand setzte noch rechtzeitig ein. Es würde nichts bringen sich jetzt mit solchen Sachen zu befassen. Jetzt ging es um Veikko. „Wir brauchen hier einen Notarzt! Sofort!“, schrie über den Hof. Der Einsatzleiter sah sofort auf und blickte ihn an. „Wie viele Verletzte?“
    „Lindström geht es schlecht. Irgendwas stimmt nicht mit seinem Kreislauf. Der Puls ist unregelmäßig!“
    Likpi nickte und sprach kurz darauf wieder in sein Funkgerät. „Sie kommen Antti!“, ließ er den Kommissar der Mordkommission kurz darauf wissen und Antti begab sich wieder ins Innere. Er holte einige Male tief Luft, um seiner Nervosität Einhalt zu gebieten. Jetzt galt es Ruhe bewahren!

    Es hatte nicht lange gedauert und Notärzte und Sanitäter eilten herbei. Semir stand auf und zog auch Kasper bei Seite, damit sie ihrem Job nachgehen konnten. Es herrschte ein reges, fast hektisches Treiben und doch schien jeder Handgriff zu sitzen. Ein EKG-Gerät wird angeschlossen und das Wort ‚Arrhythmien‘ fiel. In Lebensgefahr schwebe ihr Kollege derzeit aber nicht, beruhigte sie der Arzt, während seine Assistenten Veikko auf die Trage legten und aus dem Schuppen schoben. Antti lief sofort hinterher. „Ich fahre mit! Kasper, ich verlasse mich darauf, dass du hier alles im Griff hast. Lass dich nicht von Lipki mit Floskeln abspeisen!“

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    • 26. September 2015 um 09:45
    • #25

    Kasper starrte dem Rettungswagen hinterher. Das Gesicht des Kollegen war immer noch ganz bleich. Semir legte dem jungen Kommissar seine linke Hand auf die Schulter. „Er wird wieder werden, Kasper. Du hast ja den Arzt gehört“, sagte er sanft. Der Blonde schloss die Augen und nickte. „Ja natürlich, es ist nur … ich bin wohl etwas vorgeschädigt durch meine Schwester.“
    Der Finne löste sich von ihm und atmete tief durch. „Dann werde ich mich mal an Lipkis Fersen hängen, damit Antti am Ende des Tages mit mir zufrieden ist.“ Der Ältere lächelte. „Ich glaube, dass ist er auch schon so. Du hast Likpi immerhin überredet das SEK zu schicken, wenn auch das Ergebnis nicht das ist, was er sich dadurch vorgestellt hat.“
    Kasper, der schon einige Meter gegangen war, lachte leise. „Das ist doch wohl eher Likpis gemeinsamen Golfstunden mit meinem Vater zu verdanken, als mir.“
    Als sich der Kollege entfernt hatte und in eines der Häuser ging, wandte sich Semir Ben zu. „Und wir zwei fahren jetzt ins Krankenhaus. Du hast nämlich vergessen gegenüber den netten Sanitäters deine Schusswunde zu erwähnten.“
    Ben löste die Hand von der Wunde. „Es ist nur ein Streifschuss. Nichts Wildes! Ein Verband wird vollkommen reichen.“
    „Nichts da!“, widersprach der Ältere sofort. „Nun komm!“
    Ben stöhnte. „Wieso denn? Lass uns einfach zu einem Auto gehen. Ein Verbandskasten reicht mir!“
    „Mir aber nicht! Ich möchte sicher gehen, dass es dir auch wirklich gut geht.“
    „Jaja. Ist ja gut Mama“, stimmte der Braunhaarige nun zu, auch wenn es nur war, um dieser sinnlosen Diskussion ein Ende zu setzen. Es war nur ein Streifschuss und das wusste er sicher. Da brauchte es keinen Arzt, der ihm das noch einmal sagte.

    Nur eine Stunde später, ging die Diskussion in die nächste Runde. Eine Krankenschwester hatte sie vor wenigen Minuten in das Behandlungszimmer geführt und nun warteten sie auf den Arzt. Zu Bens Unfreude hatte sich Semir allerdings nicht abschütteln lassen. Er hing an ihm wie eine Klette. „Semir es geht mir gut. Du brauchst nicht hierzubleiben, um auf mich aufzupassen. Bitte geh in das Café oder so“, schimpfte Ben. „Das macht mich wirklich nervös, wenn du so hinter mir stehst.“
    „Ich will nur sicher gehen“, verteidigte Semir sofort.
    „Ich bin ein erwachsener Mann, bitte geh. Ich werde dir schon die Wahrheit sagen, wenn ich hier raus bin!“
    Widerwillig löste sich Semir von seinem Freund. „Aber du informierst mich über das Ergebnis!“
    „Ein Streifschuss, das wissen wir doch bereits!“, rief Ben seinem Kollegen hinterher, als dieser den Behandlungsraum verließ und leise die Tür hinter sich schloss.

    Als Semir in dem kleinen Café angekommen war, stellte er mit Freude fest, dass Antti bereits an einem der Tische saß. „Na, auch rausgeworfen worden?“, begrüßte er ihn. „Notaufnahme, da hast du keine Chance. Aber ich glaube, dass es nicht so schlimm ist. Es schien schon auf dem Weg hierher wieder unter Kontrolle zu sein. Er war sogar schon wieder bei Bewusstsein.“
    Semir setzte sich. „Das ist schön zu hören.“
    „Ich nehme an, du bist mit Ben hier?“
    „Ja, aber er hat mich rausgeschmissen, bevor der Arzt kam. Will nicht bemuttert werden.“ Antti lachte laut auf. „Ja. Das klingt nach ihm.“
    Der Gesichtsausdruck des Blonden wurde ernst. „Kasper hat mich vor ein paar Minuten angerufen. Denen sind wohl Erik Blomling und ein paar andere abhandengekommen in dem ganzen Durcheinander beim Zugriff.“
    „Ach du Scheiße.“
    „Ja, so kann man es wohl sagen. Ausgerechnet der kommt davon. Aber immerhin haben wir Matti Lindström.“ Antti nippte an seinem Kaffee. „Willst du eigentlich auch etwas? Entschuldige, ich war unhöflich.“
    Er schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist alles gut Antti.“
    Der Finne nickte. „Man hat Gebäudepläne bei ihm gefunden. Lipki setzt ein paar seiner Leute dran.“
    „Hoffentlich finden die schnell etwas raus. Ich meine diese Leute da, die hatten nicht mehr alle Tassen im Schrank!“
    Antti seufzte. „Es tut mir Leid für Veikko. Seine Mutter ist tot, weil einer der SEK-Beamten etwas zu übereifrig war, und sein Vater wird wohl ins Gefängnis müssen.“
    „Was ist mit der Schwester?“
    „Sie gehört zu denen, die entkommen sind. Ich habe deshalb Polizeischutz beantragt. Man weiß ja nie. Ich meine, dass Mädchen wirkte ungefährlich, aber wer weiß, ob sie es bei der Gehirnwäsche auch wirklich ist.“
    Semir nickte. „Ja, das ist wohl besser. Immerhin können wir nicht wirklich sagen, in wie weit sie in diese Sache verwickelt war.“
    „Ich hoffe nur, wir finden das Gebäude, ehe Erik Blomling sein Vorhaben –was auch immer das sein mag – in die Tat umsetzen kann. Sonst wäre das vermutlich fatal.“

    „Harmloser Streifschuss, wie ich gesagt habe!“, ertönte es. Ben stellte sich an den Tisch und lächelte Semir triumphierend an. „Ist Mama damit zufrieden?“
    „Weil du so brav warst, kannst du dir einen Kuchen an der Theke aussuchen!“, konterte der Ältere.
    Ben schob die Hände in seine Jeanstaschen. „Ne, lass mal. Ich habe noch einen Termin. Ich will sehen, wie es Mikael geht.“
    Semir nickte. „Ich bin mir sicher, dass er sich über Besuch freuen wird.“
    „Wie geht es Veikko?“, fragte der Braunhaarige nun in Richtung Antti.
    „Ich weiß noch nichts genaues, aber es wird schon werden.“
    „Weiß Mikael, dass er entführt wurde? Nicht, dass ich mich gleich verplappere oder so.“
    Antti und Semir schüttelten synchron die Köpfe. „Nein. Wir haben es ihm verheimlicht, zumindest für den Augenblick ist es wohl das Beste.“
    „Wie ihr meint. Aber er wird sicher merken, wenn Veikko nicht mehr regelmäßig kommt“, warf Ben ein.
    „Er wirft die Wochentage und Ereignisse noch etwas durcheinander, dass es durchaus sein kann, dass er es nicht sofort bemerkt“, erwiderte Antti und drehte die warme Kaffeetasse dabei in seinen Händen.
    „Ich verstehe“, murmelte Ben.
    „Du solltest nicht zu viel erwarten. Es mag lange her sein, dass du ihn das letzte Mal gesehen hast, aber es ist ein langer Prozess, Ben. Es geht nicht von heute auf morgen“, sprach Antti mit fester Stimme. Der junge Kommissar nickte. „Natürlich. Ich weiß …“
    „Deine Stimmlage sagt aber etwas anderes“, schaltete sich Semir ein.
    „Es ist nur … ich hatte gehofft, dass es vielleicht alles besser ist, wenn ich den Einsatz beendet habe. Es sind immerhin drei Wochen vergangen, oder nicht?“
    Antti lächelte. „Glaub mir, in diesen drei Wochen hat er auch wirklich Fortschritte gemacht, halt nur kleinere, als du vielleicht erwartet hast.“
    „Ja vermutlich.“ Ben fuhr sich durch die Haare. „Also hierüber behalte ich stillschweigen?“
    „Ja, es ist alles gut gegangen … ich denke, dann muss er nichts davon wissen“, antwortete Antti ihm und auch Semir war dieser Meinung: „Man muss ja die Pferde nicht scheu machen.“
    Ben hob zum Abschied die Hand. „Na, dann werd' ich mal.“
    „Ich komme vielleicht nach, wenn wir mehr von Veikko wissen“, sagte Semir noch schnell und sah dann zu, wie sein Kollege das Krankenhaus verließ.

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  • harukaflower
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    • 27. September 2015 um 09:25
    • #26

    Als Ben Mikaels Zimmer betrat, saß er in seinem Rollstuhl. Er blickte aus dem Fenster und schien ihn nicht gehört zu haben. „Mikael“, sagte er laut und trat an seinen Freund heran. Er lehnte sich an den Fensterrahmen. Die Mundwinkel seines Freundes zogen sich ein Stück nach oben. „Ben.“
    Er lächelte. „Na, du dachtest wohl, ich habe dich vergessen?“
    „Hmm.“ Ben seufzte Innerlich. Er war also gesprächig wie immer. Zumindest das hatte sich nicht geändert.
    „Wollen wir raus gehen? Die Sonne scheint, da wäre es doch eine Vergeudung hier drin zu sitzen, nicht?“

    Mikael stimmte zu und so schob Ben den Rollstuhl raus an die frische Luft. Anders als die Tage zuvor, zeigte sich Helsinki heute von seiner besseren Seite. Es war zwar weiterhin bitterkalt, aber die Sonne schien und verbreitete so etwas positivere Stimmung. Auf dem Hinweg hatte er mit Eva telefoniert und sich erkundigt, wie die derzeitige Einschätzung der Ärzte war. Sie hatte auch die Befürchtung geäußert, dass Mikael mit seinem Schicksal zu hadern begann. In der Krankengymnastik war er nicht nur einmal wütend geworden, weil nichts so lief, wie er es wollte, um dann kurz darauf in Tränen auszubrechen. Die Psychologin der Klinik war schon bei ihm gewesen, aber er hatte nicht mit ihr reden wollen. So, wie er nie mit jemanden über seine Probleme reden wollte. Tief im inneren musste Ben sich eingestehen, dass er Angst bekam, dass Mikael vielleicht schon aufgegeben hatte. Er hatte gehofft, dass Mikael schon viel weiter war, doch er schien sich geirrt zu haben. Er hatte an Gewicht gewonnen, seit er in das letzte Mal gesehen hatte, aber er war weiterhin blass und man sah ihm an, dass er nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war.
    „Es tut mir leid, dass ich so lange nicht kommen konnte, aber ich hatte diesen Undercover-Auftrag“, begann er nach einer Weile. Er hatte sich vorgenommen, dass er Mikael alles erzählen würde, wenn er nachfragen würde. Es war ihm egal, was Antti und Semir sagten, sein Freund hatte ein Recht darauf, dass man ihn nicht in Watte packte, sondern mit einbezog in das Leben außerhalb dieser Klinik. Doch Mikael fragte nicht nach, sondern schien beschäftigt mit eigenen Gedanken.
    „Haben wir gestritten?“, kam es leise von vorne.
    Er hielt inne. „Wie?“
    „Vor dem Unfall. Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es eine Erinnerung ist, oder ein Traum.“
    „An was erinnerst du dich denn?“, fragte er nach.
    „Wir sind im Büro und gehen dieses Buch mit den Namen durch.“
    „Es ist kein Traum, sondern wirklich so passiert“, bestätigte Ben nach einer Weile des Schweigens.
    „Habe ich mich entschuldigt?“
    Ben lachte. „Wieso fragst du so etwas? Das spielt doch keine Rolle mehr.“
    „Ich weiß nicht … ich hatte mir vorgenommen mich zu entschuldigen. Habe ich es getan?“
    Der deutsche Kommissar brachte den Rollstuhl unter einem weißen Pavillon, der am Teich des Geländes stand, zum Stehen. Er war sich nicht sicher, welche Antwort er darauf geben sollte. Es schien Mikael aus irgendeinem Grund zu beschäftigen. „Habe ich?“, fragte der Schwarzhaarige erneut und war nun noch betrübter. „Ich … ich mache es nicht mit Absicht. Ich … “
    „Natürlich hast du dich entschuldigt!“, fuhr Ben dazwischen. „Kurz bevor wir zu Westhof gefahren sind, also dem Mann, der hierfür verantwortlich ist“, entkam es seinem Mund und er war gleichzeitig mehr als froh darüber, dass Mikael in seinem derzeitigen Gesundheitszustand nicht sah, dass er log. Dass es eigentlich ganz Gegenteilig war und sie sich noch mehr gestritten hatten. Aber es stimmte. Für ihn spielte es keine Rolle mehr.
    Mikael nickte seicht. „Das ist gut.“

    Ben setzte sich auf eine Bank neben dem geparkten Rollstuhl und sah auf den Teich. Es war doch verrückt, was so ein kleiner Fehler ausmachen konnte, dachte er. Es war eine Sekunde, die nun ein ganzes Leben veränderte. In den letzten Monaten war Ben bewusst geworden, was diese Diagnose eigentlich wirklich bedeutete und das es lange dauern würde, bis sein Freund wieder gesund war, wenn er es denn jemals vollständig würde. Das war eine Sache, die die Ärzte noch immer nicht beantworten konnten. Er sah zu Mikael. Sein Gesichtsausdruck war starr und irgendwie auch leer. Es war schon fast so, wie nach Joshuas Tod. Ja, da hatte er auch diesen Gesichtsausdruck gehabt, der einfach nichts mehr aussagte, keine Freude besaß. „Eva hat mir erzählt, dass du unzufrieden bist. Gib nicht auf ja?“, sagte er laut. „Es ist noch zu früh aufzugeben!“

    Mikaels rechte Hand umklammerte den Stoff seiner Jogginghose. „Es fühlt sich an, als wäre es ein ganz anderer Körper. Er macht einfach nicht, was ich will!“ Ben schluckte. Es war, als würde sich die ganze Verzweiflung von Mikael in diesen zwei Sätzen widerspiegeln. Wasser sammelte sich in Mikaels Augen und kurz darauf fand die erste Träne ihren Weg die Wange herunter. Ein Anzeichen dafür, dass es seinem Freund wirklich schlecht ging. Er hielt seine Gefühle meistens verschlossen und es gab nur wenige Situation, wo er zeigte, was wirklich in ihm vorging. „Ich bin so müde.“
    Ben griff nach der rechten Hand seines Freundes und löste sie langsam aus der krampfhaften Haltung. „Wir sind für dich da, du bist nicht alleine!“
    „Ich will wieder rein.“
    „Natürlich“, antwortete Ben mit bedrückte Stimme. Er löste seine Hand von Mikaels und stand auf. „Ich will nicht, dass du aufgibst, ja? Du bist mein verdammter Freund und als solcher hast du mir vor zwei Jahren versprochen, dass du mich nicht wieder alleine lässt, wie damals.“ Er umgriff die Griffe des Rollstuhls. „Ich bin mir sicher, dass du es schaffen kannst. Ich weiß es!“
    Der Braunhaarige schob den Rollstuhl schweigend zurück in Richtung Klinik. Er hatte sich auf dem Weg hierher vorgenommen Mikael so viel zu erzählen, doch dann hatte ihm die Situation die Stimme verschlagen.
    „Ben?“
    „Ja, was ist?“
    „Habe ich mich damals bei dir entschuldigt?“, kam es leise und undeutlich von vorne. Er schluckte schwer und hatte einen dicken Kloß im Hals. Ben drückte mit seiner Hand Mikaels Schulter. „Ja. Du hast dich entschuldigt. Es ist alles gut.“
    „Ich hab so fürchterliche Kopfschmerzen“, sagte Mikael.
    „Ich werde es gleich jemanden sagen. Die werden dir sicherlich etwas dagegen geben.“
    „Mein Kopf fühlt sich an, als würde er zerspringen wollen.“

    Als Ben Mikael zurück in sein Zimmer gebracht hatte und gemeinsam mit einer Krankenschwester ins Bett geholfen hatte, war sein Freund binnen kurzer Zeit eingeschlafen. Nun saß er auf dem Besucherstuhl und beobachtete Mikael. Er spürte, wie sich in seinem Körper abermals Beklemmung breitmachte. In Situationen wie diesen, da fühlte er sich dieser Sache nicht gewachsen. Er vernahm ein leises Klopfen und kurz darauf wurde die Tür geöffnet. „Wie geht es ihm?“ Es war Semirs Stimme. „Ich weiß es nicht“, antwortete er leise. „Es beginnt ihn langsam zuzusetzen, denke ich.“ Ben stand auf und löste seinen Blick von Mikael. „Komm, lass uns rausgehen.“

    Wenig später saßen die beiden Freude in dem Café des Hauses. Ben drehte seine Tasse in seinen Händen. „Er ist noch immer vergesslich“, sagte er. Semir lächelte. „Antti hat dir doch erzählt, dass es lange dauern wird.“
    „Ja natürlich. Heute …“ Der Braunhaarige schluckte. „ … Heute hat er zwei Mal gefragt, ob er sich damals bei mir entschuldigt hat, als wir uns gestritten hatten.“
    Semir wog den Kopf hin und her. „Und was hast du gesagt?“
    „Was wohl? Natürlich habe ich ihm gesagt, dass er sich entschuldigt hat. Er kann sich doch ohnehin nicht mehr an den Tag des Unfalls erinnern. Es ist alles weg und die Tage davor, die sind schwammig.“
    Dem Älteren entging der Gesichtsausdruck seines Partners nicht. „Machst du dir immer noch Vorwürfe wegen all dem?“
    „Ich weiß nicht … eigentlich nicht, aber natürlich frage ich mich, ob es auch passiert wäre, wenn wir uns vorher im Auto nicht so gestritten hätten und uns diese Sachen an den Kopf geworfen hätten. Wäre er dann mehr bei der Sache gewesen? Hätte er sich dann vielleicht nicht so überrumpeln lassen?“ Ben fuhr sich durch die Haare und senkte den Kopf. „Ich meine, Semir, dass alles ist doch nur passiert, weil er vielleicht eine Sekunde nicht aufgepasst hat.“
    „Die größten Unfälle passieren deshalb. Das siehst du doch täglich auf der Autobahn.“
    „Ich-ich will ihn einfach nicht verlieren … ich versuche mir einzureden, dass Mikael da irgendwo noch ist, aber ist er das wirklich?“ Der Jüngere kaute auf seiner Unterlippe. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.“
    „Was?“
    „Na das! Das alles hier. Jedes Mal, wenn ich in diese Klinik trete, dann fühle ich mich von allem erdrückt und jedes Mal, wenn ich wieder herauskomme, dann ist es sogar noch schlimmer.“
    Semir lächelte. „Ich weiß, dass du das kannst.“

    2 Mal editiert, zuletzt von harukaflower (27. September 2015 um 15:54)

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  • harukaflower
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    • 28. September 2015 um 07:47
    • #27

    Als Antti nach einem kurzen Besuch bei Veikko wieder am Präsidium ankam, stand sein junger Partner vor der Tür und rauchte. Eine der Laster, die Kasper Kramsu hatte. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen sobald er nervös wurde. „Wie geht es Veikko?“, wollte der Blonde wissen, während er seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. Antti hatte seinen Kollegen zwar informiert, dass Veikko nicht in Lebensgefahr schwebte, genauere Informationen hatte er ihm aber am Telefon nicht gegeben. „Rhythmusstörungen, aber die Ärzte haben versichert, dass alles unter Kontrolle ist. Er bleibt heute Nacht noch auf der Intensiv, dann kommt er morgen für einige Tage noch auf die Normalstation.“
    „Das ist gut.“
    Kasper steckte seine Hände in die Taschen seines Anzuges. „Rautianen wartet oben auf uns. Ich glaube, Likpi hat ihm gesteckt, dass wir seinen Einsatz versaut haben.“
    Antti lachte. „Machst du dir deshalb fast vor Angst in die Hose? Glaub mir Kasper, Rautianen wird auf unser Seite sein.“
    „Wenn du das sagst“, kam es unsicher von seiner Seite.
    „Ja, ich sage das.“ Antti drückte seinem jungen Kollegen die Schulter. „Und nun lass uns reingehen.“

    Als sie das Büro des Chefs betraten, wartete neben Rautianen auch der Polizeipräsident auf sie. Antti atmete tief durch und setzte sich auf einen der Besucherstühle. Kasper schien etwas länger zu zögern, setzte sich dann aber ebenfalls hin. „Ich nehme an, es geht um die Diener Gottes“, sagte Antti nach einer Weile und sah die beiden Männer abwechselnd an.
    „Likpi war nicht gerade erfreut über euer eigenmächtiges Handeln“, antwortete ihm Samuel Järvinen und ging dabei in Richtung des Fensters und blickte nach draußen. „Sie waren nicht Teil dieser Sonderkommission und haben sich dennoch eingemischt.“
    Antti lachte leise. „Wir haben verhindert, dass zwei Menschen sterben! Er muss doch verstehen, dass wir keinen Kollegen zurücklassen. Wir hatten die Chance und haben sie ergriffen. Vielleicht war es übereilig, aber Sie werden am besten verstehen, wie es in uns allen aussieht, nachdem das mit Mikael passiert ist.“ Er sah gespannt auf Järvinen. Dieser zeigte keinerlei Regung. Kein Zucken, nichts. Dann nickte er. „Natürlich ist mir das bewusst, Herr Heikkinen. Ich habe es Likpi so mitgeteilt.“
    „Wie?“ Antti konnte seine Überraschung nicht verstecken. Das Järvinen seiner Meinung war, kam eigentlich nie vor.
    „Sie haben schon richtig gehört. Likpi hat es verstehen können, warum Sie so gehandelt haben. Es ist eine schwere Situation für alle Beteiligten, die Zeit braucht. Nicht wahr?“ Nun drehte sich Samuel Järvinen um. Er lehnte sich an die Fensterbank. „Leider hat man einige Hinweise gefunden, dass Erik Blomling vermutlich einen großen Anschlag plant. Es gibt Pläne von einem Gebäude, wie Sie sicherlich wissen.“
    „Ja, mein Kollege hatte etwas erwähnt, als ich mit Herrn Lindström im Krankenhaus war“, bestätigte Antti.
    „Likpi hat ein paar Leute aus seiner Soko darangesetzt, ich habe ihm allerdings die Empfehlung gemacht, dass er ihre Abteilung sowie die Kollegen aus Deutschland einbezieht. Herr Jäger war immerhin drei Wochen bei diesen Menschen. Er wird vielleicht etwas wissen, wenn er es auch nur unbewusst wahrgenommen hat.“
    Järvinen lächelte. „Ist das für Sie möglich?“
    Antti blieb vor Überraschung einige Zeit stumm, ehe er seinem Vorgesetzten die Antwort gab: „Ja, natürlich. Wenn Sie das wollen, werden wir natürlich bei diesen Ermittlungen helfen.“
    Der Polizeipräsident nickte. „Dann werde ich das Likpi so mitteilen. Bitte rufen Sie mich an, wenn es Neuigkeiten von großer Dringlichkeit gibt. Ich werde heute nicht mehr im Haus sein, kann aber sofort kommen, wenn die Situation es verlangt.“
    „Natürlich“, antwortete ihm Antti.
    „Gut.“ Jävinen sah zu Kasper herüber. „Du weißt hoffentlich, dass du keinen Bonus hast, dadurch, dass wir uns kennen. Es ist keine besonders gute Eigenschaft einem Vorgesetzten zu widersprechen und beim nächsten Mal kann ich es nicht durchgehen lassen.“
    „Natürlich Samuel, ich weiß“, antwortete ihm der junge Mann schnell und schluckte.
    „Aber vermutlich hast du dadurch auch Herrn Lindström das Leben gerettet.“
    Kasper spielte mit dem Hemdärmel seines Anzuges. „Ich bin mir sicher, dass sonst Antti aus dem Schuppen gesprungen wäre.“
    „Bescheiden, wie immer. Ich sehe schon.“ Samuel gab ihnen noch abschließend die Hand und verließ dann das Büro.
    Antti wollte es ihm nachtun, doch dann funkte sein Chef dazwischen. „Järvinen mag vielleicht mit euch fertig sein, ich bin es aber noch nicht!“ Der Blonde setzte sich wieder hin. „Natürlich Ville.“
    Der Mann hinter dem Schreibtisch seufzte. „Ich weiß nicht, womit ich dein Team verdient habe Antti. Ihr handelt eigenmächtig. Euch ist klar, dass ihr unter normalen Umständen eine Dienstbeschwerde erhalten hättet?“
    Kasper sank tiefer in seinen Sessel und sah auf die Erde. Antti hingegen lächelte. „Hast du nicht dieses Team zusammengestellt?“
    Der Mann hinter dem Schreibtisch grinste verschmitzt. Seine Aussage hatte allen Ärger verfliegen lassen. „Da hast du natürlich Recht“, gab Rautianen zu. „Und ich bereue keinen meiner Entscheidungen, wenn ich dadurch meine Lebenszeit aber wohl um einige Jahre verkürzt habe.“
    „Das kann gut sein“, bestätigte Antti. „Ich verspreche dir, dass wir uns ab jetzt in diesem Fall benehmen werden.“
    Der Chef der Mordkommission lachte laut. „Das hoffe ich. Du kannst von Glück reden, dass Järvinen derzeit mit Mikael andere Sorgen hat. Er wird schlampig, es gibt sogar Gerücht, dass er seinen Rückzug plant.“
    Anttis Augen weiteten sich. „Tatsächlich?“
    „Verrückt oder? Scheint als hätte es Mikael dann doch geschafft, ihn irgendwie von sich zu überzeugen. Der Mann badet in Selbstvorwürfen, weil er ihm den Fall in Deutschland übertragen hat.“
    Antti tippte mit den Finger auf die Stuhllehne. „Niemand kann etwas für diesen Zwischenfall und dennoch fühlt sich jeder schuldig“, murmelte er in Gedanken. Es war verrückt, wie viele sich für etwas die Schuld geben konnten.
    „Ja. Sicher“, antwortete ihm Ville Rautianen und sah dann auf die Uhr. „Es ist schon spät Jungs. Geht nach Hause und macht Feierabend.“
    „Es gibt sicherlich noch etwas zu tun“, wollte Antti einsetzen, doch sein Chef schüttelte den Kopf. „Lass das die Soko machen. Es war wirklich ein anstrengender Tag für euch.“
    Nun willigte Antti ein und stand auf. „Danke, Ville!“ Er sah zur Seite und gab Kasper das Zeichen aufzustehen und zu gehen. Der junge Kollege folgte ihm mit gesenkten Kopf aus dem Büro und als sich die Tür schloss, lachte Antti auf. Er schlug Kasper freundschaftlich auf den Rücken. „Na Kleiner, war doch überhaupt nicht so schlimm, oder?!“
    „Ich hab mich gefühlt, als müsste ich beim Rektor antreten“, kam es von seiner Rechten.
    „Gewöhne dich schon einmal dran, ich lasse dich so leicht nicht mehr gehen!“

    Wenige Stunden später reichte Antti Semir eine Bierflasche und ließ sich neben den deutschen Kommissar auf das Sofa fallen. „Ich wünschte, dass ich behaupten könnte, dass es vorbei ist“, sagte er und blickte in die Nacht.
    „Das ist es erst, wenn wir Blomling haben“, bejahte Semir und nahm den ersten Schluck. Anders als Antti fixierte er die Person auf dem Balkon. Ben lehnte über dem Geländer und sah ins Nichts. Seinen Freund hatten die Ereignisse am heutigen Tag, aber auch der Besuch im Krankenhaus mitgenommen. Auf der Fahrt zu Anttis Wohnung war sein Partner so schweigsam wie schon lange nicht mehr gewesen. „Es ist sicherlich nicht leicht, dass er Mikael so sehen muss“, sagte Antti.
    „Ist es für dich leicht?“, stellte Semir die Gegenfrage. Immerhin setzte auch Antti diese Sache zu, denn er gehörte schon lange zu Mikaels Familie.
    „Nein, aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Ich kann nichts erzwingen. Wenn es länger dauert, dann dauert es eben länger.“ Antti hob die Flasche an seine Lippen und trank etwas daraus. „Mikael wird sich wieder fangen. Ich bin mir da ganz sicher. Alles war wir bis dahin tun können ist ihn zu unterstützen.“
    Semir seufzte. „Manchmal wünschte ich, dass ich an dem Tag einfach Mikaels Einwänden zugestimmt hätte.“
    Antti sah ihn fragend an. „Was meinst du?“
    „An diesem Morgen. Wir hatten uns ja getrennt, um die beiden Verdächtigen zu überprüfen.“
    „Ja. Davon hast du erzählt.“
    „Als ich Mikael mit Ben zugeteilt habe, da wollte er lieber mit mir kommen … ich denke, weil die Beiden sich bis dahin nicht wieder versöhnt hatten. Hätte ich einfach ja gesagt, dann hätte Westhof ihn nie …“
    „Das ist doch Unsinn!“, fuhr Antti dazwischen. „Es kann sich doch nicht jeder dafür die Schuld geben. Soll ich dir sagen, wie es war? Mikael war sich einfach zu Selbstsicher. Er hat die eine wichtige Regel missachtet, dass man bei einer Festnahme aufmerksam sein muss und das ist der einzige Grund für seine Verletzung!“ Der Finne nahm einen weiteren Schluck aus seiner Flasche und lehnte den Kopf gegen die Sofalehne. „Wenn ein anderer schuld sein sollte, dann wohl eher ich. Ich war es, der ihm diese Charaktereigenschaft nicht ausgetrieben hat!“
    Semir spielte am Etikett seiner Bierflasche und sah wieder auf Ben. „Ich hoffe, dass Ben das auch irgendwann versteht.“
    „Wenn nicht, dann werde ich schon dafür sorgen. Das bringt nichts, wenn er in Selbstvorwürfen badet, während er Mikael auf ganz andere Weise unterstützen könnte.“

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  • harukaflower
    Gast
    • 29. September 2015 um 07:57
    • #28

    Es war 10:30 Uhr, als die telefonisch in der Zentrale des Polizeipräsidiums von Helsinki einging. Nur zehn Minuten später hatte sich der Kern der SOKO Erik Blomling in einem Besprechungszimmer eingefunden. Die Atmosphäre, die im Besprechungsraum herrschte, war Spiegelbild der Stimmung, die im Inneren der Teammitglieder herrschte. Es war eine seltsame Beklemmung. Irgendwo da draußen war Blomling, der damit drohte um 12:30 Uhr eine Bombe hochgehen zu lassen, und sie hatten keinen Anhaltspunkt wo.

    „Was hat er vor“, fragt Jaakko Likpi und strich sich durch seine blonden Haare. Der Einsatzleiter der Sonderkommission schien mit der neuen Situation nicht wirklich zurecht zu kommen. Antti, der zu den Ersten gehört hatte, denen er das Telefonat vorgespielt hatte, noch ehe man die Situation mit dem ganzen Team besprach, bat ihn darum, dass aufgenommene Telefonat für die hinzugekommenen Kollegen nochmals abzuspielen. Ben und Semir half diese Maßnahme allerdings wenig, da Blomling Finnisch gesprochen hatte. „Um halb eins geht eine Bombe hoch … die Ungläubigen werden ausgelöscht werden. Was bedeutet das? Wo wird es sein?“, überlegte Antti laut.
    „Vielleicht die Uspenskin katedraali?“, warf Kasper ein.
    Likpi schüttelte den Kopf. „Es ist doch immerhin auch eine christliche Gemeinschaft. Er muss etwas anders meinen.“ Er wandte sich zu einem jungen Mann, der sich bisher zurückgehalten hatte. „Was ist mit dem Gebäudeplan? Hat man da schon etwas herausfinden könne.“
    „Es ist zumindest keine Kirche. So viel kann man schon sagen. Ein moderneres Gebäude, würde ich behaupten.“
    Likpi wog den Kopf hin und her. „Davon gibt es ja in Helsinki so wenig!“, stöhnte er. „Verdammt! Wir müssen dieses Gebäude unbedingt finden!“
    Ben lehnte sich seinem Stuhl zurück. Er hatte sich zu Antti gebeugt und eine grobe Übersetzung gefordert, denn in der Hitze des Gefechts, schienen die Beamten im Raum vergessen zu haben, dass noch zwei deutsche Polizisten anwesend waren. „Es geht um den Gebäudeplan, das mögliche Ziel von Erik Blomling“, klärte dieser ihn leise auf.
    „Warum suchen wir nicht nach Veranstaltungen, anstatt Gebäuden? Es könnte leichter sein“, äußerte er jetzt laut auf Englisch.
    Die anwesenden Personen sahen ihn an und er begann seinen Gedanken näher zu erläutern. Er hatte die Vermutung, dass es sich um eine Veranstaltung handeln musste, wenn Erik Blomling den Zeitpunkt genau angab, wann er zuschlug. Vielleicht eine Messe oder ähnliches, erklärte er.
    Likpi nickte und wies direkt einen seiner Beamten an, dass er sich darum kümmern sollte. „Prüfe zuerst das große Messezentrum!“, ließ Antti noch folgen, ehe der junge Kriminalkommissar, der wohl gerade am Anfang seiner Ausbildung stand, aus dem Raum verschwand.
    „Du glaubst an das Messezentrum?“, hakte Likpi nach.
    „Ist das so abwegig? Alle großen Veranstaltungen finden dort statt, oder etwa nicht?“
    „Das stimmt natürlich“, gestand Likpi ein.
    „Zeig mal den Gebäudeplan“, forderte Antti, als sich die Tür geschlossen hatte. Der blonde Mann in der Ecke, kam dem Wunsch nach und hielt ihm das Papier entgegen. „Wir reden hier von der Finlandia-Halle, Jungs. Die muss man doch erkennen können!“
    „Wir hatten uns auf religiöse Objekte konzentriert!“, verteidigte sich der junge Polizist.
    Antti sah sich den Grundriss vor sich an, musste aber erkennen, dass es wohl ganz so einfach dann auch nicht war. Er seufzte und wandte sich Kasper zu. „Frag doch mal dein Google nach einem Grundriss der Kongresshalle.“
    Der Blonde nickte, holte sein Smartphone aus der Tasche und tippte fleißig darauf herum. Kurz darauf legte er es auf den Tisch und vergrößerte ein darin abgebildetes PDF-Dokument. „Volltreffer! Der Plan von Erik Blomling ist ganz sicher die Finlandia-Halle!“
    Es herrschte einen Augenblick Stille. Jeder überlegte für sich und kam zu dem Schluss, dass sie wohl richtig liegen mussten. Dennoch blieb Likpi skeptisch. „Und wenn wir falsch liegen? Dann stehen wir mit unserem Großaufgebot davor und müssen mit anschauen, wie uns Helsinki an einer anderen Stelle um die Ohren fliegt.“
    „Es gibt dort eine Veranstaltung zum gegenseitigen Verständnis der Religionen. Heute um halb eins wird der Bürgermeister sprechen“, gab Kasper zu bedenken. „Es steht auf der Internetseite.“
    „Dann sollten wir keine Zeit verlieren! Wir fahren vor, Lipki du kümmerst dich um SEK und Räumungsteams – hast alles von der Zentrale aus im Blick.“ Antti Heikkinen wartete nicht auf weitere Einwende oder Ideen und war schon auf dem Weg nach draußen. Ohne groß zu zögern rannte ihm Kasper hinterher und auch Semir und Ben fackelten nickt lange.
    „Ist es wirklich so leicht in der Finlandia-Halle eine Bombe zu platzieren?“, fragte Kasper, während er die Nummer der Information in sein Handy tippte.
    „Ich will es nicht darauf ankommen lassen, dass das Ding sicher ist!“, stellte Antti sofort klar.

    Nur kurz darauf blieb der blaue Audi von Antti Heikkinen mit quietschenden Reifen vor der Finlandia-Halle stehen und die Kommissare stiegen hektisch aus. Fast zeitgleich mit ihnen waren auch die ersten Wagen der Sondereinheit eingetroffen. Aus dem schwarzen Volvos stiegen Polizisten in feuerfesten dunkelblauen Overalls und kugelsicheren Westen auf. Jeder von ihnen trug eine Glock-Pistole bei sich. Unmittelbar daneben kamen weitere Wagen zum Stehen, aus denen Männer mit Schäferhunden stiegen. Semir spürte die Anspannung in seinem Magen. Ben sah auf das große Gebäude vor ihnen. Er war hier schon einmal vorbeigefahren und es war ihm sofort ins Auge gestochen. Die Halle war verkleidet mit weißem Carrara-Marmor und grauen Granit. Die Nordfassade bestand aus einer Reihe konvexer und konkaver Formen, die einen starken Kontrast zu dem weißen, funktionalistischen Hauptgebäude bildete. Er glaube, dass Mikael ihm mal erzählt hatte, dass Alvar Aalto es entwickelt hatte. Ein berühmter finnischer Architekt. So ganz genau hatte er allerdings nicht zugehört, da ihn Kunst nicht wirklich interessiert hatte. Das Gebäude war riesig, wenn Erik Blomling die Bombe, nicht da platzierte, wo sie vermuteten, dann hatten sie sicherlich ein Problem. Die Finlandia-Halle stand mitten in der Innenstadt, Hauptbahnhof und andere wichtige Gebäude waren nur wenige hundert Meter entfernt. Niemals würde es möglich sein in der verbliebenen Zeit die Innenstadt von Helsinki zu sperren und die Leute in Sicherheit zu bringen. Wenn sie es nicht schafften, dann würde es viele Tote geben.

    Antti verteilte daneben die Aufgaben an die Mitglieder der verschiedenen Einheiten. „Wir vermuten, dass die Sprengladung in der Halle 5 zu finden ist. Dort findet eine Veranstaltung statt, bei der um 12:30 Uhr der Bürgermeister sprechen wird. Seine Sicherheitsleute sind bereits verständigt, sein Besuch abgesagt“, kündigte er an. „Eine Gruppe nimmt sich den hinteren Teil der Halle vor, die andere die Mitte und die dritte den vorderen Teil. Dazu möchte ich eine vierte Gruppe, die sich die Absperrung der Umgebung vornimmt. In diese Aufgabe weiht Likpi, von der Zentrale aus, auch andere Beamte aus den naheliegenden Polizeistationen ein. Der Hauptbahnhof ist knapp 400 Meter entfernt, das Parlament nur 100, heißt wir haben viele Menschen, die in Panik verfallen könnten. Eine ruhige und schnelle Räumung. Wir haben noch 45 Minuten!“
    Als die uniformierten Beamten sich entfernten, drehte er sich zu Ben und Kasper, die nur unmittelbar neben ihm standen. „Ich möchte, dass ihr auf die Suche nach Erik Blomling geht.“
    „Du denkst er ist noch hier?“, fragte Kasper verwundert.
    „Ich glaube kaum, dass er sich diese Show entgehen lassen wird. Er ist sicherlich nicht unmittelbar an der Finlandia-Halle, aber vielleicht etwas weiter weg. Kasper, du hast doch Stadtführungen gemacht, während deines Studiums?“
    „Ja, schon, aber …“
    Antti ließ seinen Partner nicht ausreden. „Dann weißt du ja, was der beste Punkt ist, um sich die Kongresshalle anzusehen. Dort geht ihr als erstes hin.“ Beide entfernten sich ohne weitere Nachfrage mit schnellen Schritten von Antti und Semir und verschwanden in eine kleine Gasse, die von der Halle wegführte. „Was hast du für mich vorgesehen?“, fragte Semir.
    „Für dich. Eigentlich brauche ich jemanden, der mir bei den Entscheidungen hilft. Likpi ist in der Zentrale, ich brauche zwei weitere Augen hier vor Ort.“
    Der deutsche Kommissar nickte und stellte sich neben Antti. Gemeinsam blickten sie voller Anspannung auf das Gebäude vor ihnen. „Hast du viel Erfahrung mit so etwas?“, erkundigte sich Semir nach einer Weile bei Antti, der nervös mit seinem Funkgerät spielte. Der Finne lachte leise auf. „In meiner Ausbildung, da war ich in einer speziellen Einheit, da kam so etwas vor, aber das ist Jahre her. Ich fühle mich gerade, als hätte man mich ins kalte Wasser geschmissen. Vielleicht hätten wir nicht so übereilig das Präsidium verlassen sollen? Dann hätte Likpi vielleicht die Einsatzleitung vor Ort übernommen.“
    „Es wird schon Antti. Ich glaube an dich.“
    Der Finne sah ihn an. „Da bist du sicherlich der Einzige.“

    Ein weißer Kleintransporter hielt neben ihnen an und ein Mann Mitte 40 stieg aus. Im Schlepptau hatte er fünf weitere Beamte. Er ging auf Antti zu und gab ihm die Hand. Semir verfolgte, wie sie einige Worte wechselten und sich der Blonde, schlanke Mann dann zu ihm wandte. „Hei, Niklas Koskinen from the Bomb Squat.“
    „Semir Gerkhan“, antwortete er, während der Koskinens Hand ergriff.
    Wenige Minuten später ertönte aus Anttis Funkgerät eine kratzige Stimme. Der Finne wandte sich daraufhin zu Koskinen und gab diesem einige Details. Er nickte, ging zu seinem Auto und zog sich routiniert seine Schutzkleidung über. „Ich habe die Body-Kamera dabei, ihr könnt alle Schritte am Monitor verfolgen“, ließ er Antti wissen.
    Antti nickte. „Danke Niklas.“
    „Ich nehme an, ihr habt die Bombe gefunden“, stellte Semir fest, als Koskinen in das Gebäude verschwunden war und unmittelbar darauf einige Beamte herauskamen.
    „Ja. Sie befindet sich in einem Koffer in Halle 5.“
    Antti ging in Richtung des kleinen Transporters und gab seinem deutschen Freund ein Zeichen, dass er ihm folgen sollte. „Koskinen hat eine Kamera dabei, wir können seine Schritte über einen kleinen Monitor verfolgen.“

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    • 30. September 2015 um 07:52
    • #29

    Im Inneren des Gebäudes beugte sich Niklas Koskinen über die Bombe. „Es sieht nicht danach aus, als hätte sie einen separaten Zünder“, sagte er auf Finnisch über das Funkgerät.
    „Es ist also eine Zeitschaltuhr?!“, vergewisserte sich Antti, während er Semir neben sich die Information kurz auf Deutsch erklärte.
    „Ja. Ich werde mir das Ganze noch einmal genauer ansehen“, bestätigte Koskinen.
    Antti und Semir verfolgten am Monitor mit Anspannung jede Bewegung von Koskinen. Semir beobachtete seinen Kollegen dabei, wie er nervös mit dem Funkgerät spielte. Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte die Stimme des Mannes im Inneren des Gebäudes erneut. „Ich habe schlechte Neuigkeiten.“
    „Separater Zünder?“, wollte Antti wissen.
    „Nein, aber ich schaffe es nicht in der Zeit! Es ist ein komplizierter Mechanismus, der mir bei einem noch so kleinen Fehler um die Ohren fliegen wird. Es wird viel zu lange dauern.“
    „Was heißt das, du kannst es nicht so schnell entschärfen?“, fragte Antti und starrte auf die Uhr. Die Zeit lief ihnen davon! Dieser verdammte Blomling hatte es gewusst, deshalb hatte er so selbstsicher im Präsidium angerufen. Er hatte damit gerechnet, dass sie vielleicht die Bombe fanden, aber sie nicht in der noch verbleibenden Zeit entschärfen konnten.
    „So wie ich es sage, Heikkinen. Es geht nicht!“ Der Mann an anderem Ende wurde nervöser. „Was soll ich tun?“
    „Wie denkst du, schaffen wir es, all die Menschen im Umkreis rechtzeitig zu evakuieren? Hier bricht eine Panik aus!“ Antti fuhr sich durch die Haare. „Scheiße verdammt! Diese scheiß Sektentypen!“
    „Was sagt er Antti?“ Er drehte sich zu Semir. „Sie können das Ding nicht entschärfen. Uns wird in knapp 26 Minuten alles um die Ohren fliegen“, klärte er den deutschen Kollegen auf.
    „Kann man die hier wegschaffen? Die Bombe?“, wollte Semir wissen, der so immerhin schon bei der ein oder anderen Bombe vorgegangen war.
    Der finnische Hauptkommissar sah ihn mit großen überraschten Augen an. „Du meinst an einen Ort, wo weniger Menschen sind?“
    „Dort könnte man schneller evakuieren oder nicht?“ Antti nickte nachdenklich und leitete die Frage sofort weiter an den Leiter des Bombenentsicherungskommandos.
    „In theory, that's not possible“, sagte er nun auf Englisch, um den deutschen Kollegen direkt in die Diskussion mit einzubringen.
    „What do you mean that's not possible?“, kam es von Antti, der immer wieder ungeduldig auf seine Armbanduhr sah. Sie verschwendeten viel zu viel Zeit mir reden, wo sie eigentlich sofort handeln sollten.
    „You can't load the bomb into a car and launch a suicide mission! There must be another way!“
    „But there is no other way!“, stellte der Hauptkommissar der Mordkommission klar.
    „Ich werde es meine Leute nicht machen lassen!“, wechselte Koskinen nun wieder ins Finnische. „Eine solche Sache kann ich unmöglich meinen Jungs auftragen. Ich will nicht für ihren Tod verantwortlich sein!“
    „Dann werden wir es machen“, antworte ihm Antti, während er sich vom Bildschirm löste. Er griff nach seinem Funkgerät und funkte die Zentrale an. „Lipki unsere kleine Bombenfreundin ist zickig. Koskinen sagt, dass er sie niemals pünktlich entschärfen kann.“
    Er hörte ein aufgeregtes Schnaufen am anderen Ende, doch ließ Lipki nicht zu Wort kommen. „Ich habe eine Idee, hör mich zu. Der deutsche Kollege und ich können die Bombe hier wegschaffen“, fuhr Antti fort. „Sompasaari wäre ein idealer Ort. Viel Fläche und keine Menschenansammlungen, wie hier. Eine Räumung wäre leichter!“
    „Das ist Selbstmord Antti. Ihr braucht zu lange bis da. Es sind nur noch 23 Minuten!“, versuchte ihm der Einsatzleiter ins Gewissen zu reden.
    „Dennoch ist es die einzige Chance die Bombe aus dem Zentrum zu bekommen“, widersprach er. „Es ist unsere einzige Wahl. Setz bitte alles in Gang!“
    „Heikkinen, du kannst unmöglich …“, setzte Likpi an, kam jedoch nicht zum Abschluss.
    „Sieh mir dabei zu!“, beendete Antti das Gespräch und steckte das Funkgerät in seine Gesäßtasche. Er sah Semir an. „Wir werden das Ding jetzt wegbringen. Bist du dabei?“ Der deutsche Kommissar nickte. „Was ist das für eine Frage, Antti.“
    „Gut. Du fährst, ich sage dir den Weg.“
    Semir nickte und kurz darauf rannten sie los, hechteten die Gänge entlang bis zur Bombe.

    Koskinen hatte den Koffer, in dem man die Bombe gefunden hatte, geschlossen, sah sie jedoch mit versteinerter Miene an. „It's a suicide mission!“, versuchte er die Hauptkommissare zu überzeugen.
    „We don't have a choice, do we, Niklas?!“, fragte Antti.
    Koskinen schüttelte mit dem Kopf. „Komm bitte zurück. Ich würde beim nächsten Grillfest ungerne auf deine Marinade verzichten“, antwortete er auf Finnisch.
    Antti lächelte. „Uns könnte eine Bombe um die Ohren fliegen und du redest von Grillfesten, wie passend Niklas.“ Er drückte die Schulter des Mannes vor ihm. „Ich verspreche es!“
    Dann griff er nach dem Koffer und wies Semir mit einem Kopfnicken an, dass es losgehen würde.

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    • 1. Oktober 2015 um 09:04
    • #30

    „Was für ein billiger Trick von Antti“, murmelte Ben zwischen zusammengepressten Zähnen. Es war offensichtlich gewesen, warum er ihnen diesen Auftrag gegeben hatte. Er wollte sie nicht in der unmittelbaren Gefahrenzone haben.
    „Er will nur sichergehen, dass uns nichts passiert. Außerdem hat er auch Recht. Erik Blomling wird sich kaum dieses Schauspiel entgehen lassen.“
    Ben wollte etwas erwidern, da klingelte sein Handy. Er sah auf das Display und ging ran, als er erkannte, dass es eine finnische Nummer war.
    „Schön, dass du gekommen bist“, ertönte es von der anderen Seite auf Englisch. Dem jungen Hauptkommissar lief ein Schauer über den Rücken. Instinktiv drehte er sich um seine eigene Achse, um zu sehen, wo sich der Anrufer aufhielt. Kasper sah ihn an. „Was ist?“, formte er mit seinen Lippen. „Blomling“, antworte er.
    Der Blonde nickte und zeigte auf ein Gebäude etwa hundert Meter von ihnen, während er gleichzeitig sein Handy hervorzog und unauffällig eine SMS an die Leitstelle schickte.
    „Was wollen Sie?“, fragte Ben.
    „Ich weiß nicht … mir war danach dich anzurufen. Du suchst mich, nicht wahr?“
    „Sie sollten sich ergeben!“
    Sein Gesprächspartner lachte. „Sollte ich das?“
    „Wir wissen, wo Sie sind. Sie haben keine Chance zur Flucht.“
    „Umso besser, Ben. Ich mag persönliche Gespräche eh viel lieber! Komm in den zehnten Stock und komm alleine, sonst zünde ich die Bombe!“ Es knackte in der Leitung und der Anrufer hatte aufgelegt.

    „Was ist? Was wollte Blomling?“, fragte Kasper nervös.
    „Er sagte was, dass er mit mir reden wollte. Alleine“, murmelte Ben. Er konnte sich keinen Reim daraus machen. Es ergab keinen Sinn. Was wollte dieser Mann von ihm?
    „Alleine? Wozu?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, aber es gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.“
    „Wo?“
    Ben nickte in Richtung des Hotels. „Im zehnten Stock.“
    Der blonde Kommissar fuhr sich mit der Hand über das Kinn und sah das Hotel hoch vor dem sie standen.
    „Über was denkst du nach?“
    „Ich habe eine Einheit angefordert, aber die brauchen noch ein paar Minuten.“
    „Er will mich sehen, alleine!“, wiederholte Ben. „Was, wenn er an der Bombe auch einen Fernzünder installiert hat?“
    „Ja doch!“ Kasper griff nach dem Funkgerät und funkte die Zentrale an. Von der anderen Seite erklärte eine Frauenstimme etwas. „Es ist eine Bombe mit Zeitzünder“, sagte Kasper dann. Ben sah den Finnen skeptisch an. „Sie hat doch viel mehr gesagt. Das waren nicht nur diese wenigen Worte.“
    Der Blonde lächelte. „Das hat sich nur so angehört. Finnisch, du verstehst.“ Dann sah er wieder auf das Gebäude. „Du musst versuchen ihn abzulenken, dann werde ich von hinten kommen.“
    „Er sagte alleine, Kasper!“
    „Er hat keinen Trumpf in der Hand, sondern blufft. Das ist unsere Chance!“
    „Vielleicht hat er noch weitere Bomben versteckt, was dann?“
    Kasper blieb einige Sekunden ruhig und schien das Gesagte zu verarbeiten. „Es ist dennoch die einzige Wahl, die wir gerade haben oder nicht?“
    „Ich rufe dich mit meinen Handy an und stecke es in die Tasche. Dann kannst du mithören.“ Bens Hände drückten Kaspers Schultern. „Kein Zugriff, wenn er was von einer Bombe sagt, ja?!“
    „Ja.“
    „Okay. Bringen wir‘s hinter uns.“

    Die beiden Kommissare setzten sich in Bewegung. Während Ben den direkten Weg zum Hotel wählte, bog Kasper irgendwann in eine Seitenstraße ab und versteckte sich unter den Markisen der Geschäfte, damit ihn Blomling von oben nicht sehen konnte.
    Durch den Haupteingang betrat Ben das Hotel. Aus den Lautsprechern ertönten durchsagen auf Finnisch, Englisch und Französisch. Die Gäste sollten in ihre Zimmer gehen und sich ruhig verhalten. Es gäbe eine Bombe in der Innenstadt aus dem 2. Weltkrieg hieß es. Ben wusste, dass es eine Lüge war, aber es war sicherlich beruhigender, als die Nachricht darüber, dass es einen Bombenleger gab, der sich hier aufhielt. Er ging zum Aufzug und drückte den Knopf, stieg ein und fuhr bis zum zehnten Stock hoch.
    Eine junge Frau, Mitte 20 baute sich vor ihm auf, als er den Flur des zehnten Stocks entlang lief. „Sir, you must stay in your room!“
    „I'm from the police.“
    Die Frau nickte und zum ersten Mal in seinem Leben war Ben dankbar darüber, dass man in Finnland nicht gezwungen war sich als Polizist auszuweisen, wenn es nicht verlangt wurde, obwohl er doch recht verwundert war über das Verhalten der Frau, wo er doch Englisch sprach. So stellte die Dame keinerlei Nachfrage und verschwand auch in eines der Zimmer, als er es ihr anordnete. Ben seinerseits setzte den Weg fort, bis er an einer kleinen Terrasse ankam, die offensichtlich um das gesamte Stockwerk führte. Gut für sie, so könnte sich Kasper vielleicht wirklich unbemerkt anschleichen.

    „Ben.“ Erik Blomling drehte sich um und grinste breit, während er eine Pistole in seine Richtung hielt. Sofort hob auch er seine Waffe in die Richtung des Mannes.
    „Die Waffe runter! Legen Sie sich auf den Boden, und heben Sie die Hände über Ihren Kopf. Oder ich muss schießen!“, sagte er auf Englisch.
    Der Mann gegenüber von ihm lächelte. „Musst du das, Ben?“
    Ben umfasste die Waffe fester. „Sie haben keine Chance Blomling. Lassen Sie die Waffe fallen!“ Ein irres Lachen ertönte. „Ich brauche keine Chance mehr! Gleich fliegt hier alles in die Luft und unser Zeichen ist gesetzt!“ Blomling lächelte. „Wir werden nicht zulassen, wie sich der falsche Glauben in unserer Mitte breit macht!“
    „Was soll der Scheiß Blomling. Ihre Sekte wurde auseinander genommen. Alle Mitglieder wurden überprüft!“
    „Alle?“
    Bens Atmung beschleunigte sich. Das würde er nicht wagen, oder doch? „Was hat Enni damit zu tun?“
    „Was glaubst du? Dieses Mädchen ist naiv, Ben. Sie würde alles für mich tun. Sie ist leicht zu überzeugen, leicht zu beeinflussen. Gerade eben, da stattet sie einem guten Freund vor dir einen Besuch ab und warum? Weil ich ihr gesagt habe, dass er der Grund ist, warum du sie nicht lieben kannst.“ Blomling lachte. „Sie wird ihn töten!“
    „Sie bluffen!“, schrie Ben wütend.
    „Tue ich das?“ Er kniff die Augen zusammen. „Glaub mir, ich kenne deine Schwäche. Ich informiere mich, wenn es mir auch viel Arbeit abgenommen hat, dass auch Veikko ihn kennt.“
    „Wieso? Was hat er damit zu tun? Lass Mikael aus dem Spiel!“
    Blomling zuckte mit den Schultern. „Mir war danach.“
    „Ihnen war danach?!“
    „Ich wollte sie testen. Ich wollte sehen, ob sie wirklich alles für diese Gemeinschaft tut. Sie denkt, dass ihr Freund der Grund ist, warum du sie nicht liebst, warum Veikko vom Teufel heimgesucht wurde. Ich habe ihr gesagt, dass sie ihn mir bringen muss. Wenn ich nicht da bin, soll sie ihn töten, so einfach ist das.“
    „Das ist widerlich! Mikael hat hiermit überhaupt nichts zu tun! Er ist wehrlos und Sie nutzen das aus, um an mir Rache zu nehmen!“
    Blomling zog die Mundwinkel nach oben. „Du solltest dich nicht für zu wichtig nehmen Ben. Es geht hier auch um Veikko. Er hat alles verraten, wofür wir gekämpft haben!“
    „Sie bringen Menschen um! Das kann niemals die Idee von ihrem komischen Verein sein!“
    Der Finger des Blonden näherte sich dem Abzug der Waffe. „Wenn du jetzt gehst und deinem Kollegen da unten auf der Straße sagst, dass du mich nicht bekommen hast, dann kannst du deinen Freund vielleicht retten. Was willst du Ben? Willst du ihn retten?“

    Hinter Erik Blomling konnte Ben Kasper sehen, der ihm ein Handzeichen gab, das er in Deckung gehen sollte. Dann zählte der Finne mit den Fingern herunter. „Eins, zwei, drei.“ Ben sprang zur Seite und kurz darauf ertönten zwei Schüsse. Blomling wurde am Arm getroffen und ließ seine Waffe fallen. Blitzschnell warf Kasper den Mann zu Boden und drückte ihn mit dem Knie auf dessen Rücken auf den Boden, um ihn Handschellen anzulegen. Ben sah in Blomlings Augen, die ihn voller Verachtung ansahen.
    „Ich habe mich entschieden. Ich denke, ich sage meinem Kollegen doch Bescheid“, sagte Ben.
    „Du wirst deinen Freund dennoch nicht retten können und die Bombe könnt ihr auch nicht aufhalten!“ Blomling lachte, während Kasper ihn hochzog. Er schob ihn vor sich her in das Hotel. „Und nun hopp!“ Als sie wieder im Gebäude angekommen waren, übergab er Blomling an einen anderen Beamten. Ben verfolgte, wie er mit ihm einige Worte wechselte und ihm dann ein Schlüssel gereicht wurde. Kasper wandte sich wieder ihm zu. „Oder willst du zurück zu unserem Wagen rennen?“
    Der deutsche Kommissar lächelte und rannte dann los in Richtung Wagen. „Lass uns keine Zeit verlieren. Ich traue Enni alles zu. Sie macht alles, was dieser Verrückte ihr sagt!“

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  • harukaflower
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    • 2. Oktober 2015 um 08:21
    • #31

    Semir sprintete in Richtung des blauen Audis, Antti mit der Bombe im Gepäck hinterher. Die beiden sprangen in das Auto und fuhren mit qualmenden Reifen los. Nach wenigen Sekunden waren sie in Richtung Süden verschwunden.
    Semir fuhr den Mannerheimintie rauf und bog dann links ab, wie Antti es ihm vor wenigen Sekunden erklärt hatte. Immerhin war der erste Teil der Strecke bereits geräumt und so mussten sie sich wenigstens nicht mit dem dichten Verkehr rumschlagen, war sicherlich wichtige Minuten gekostet hätte. Die Tachonadel kletterte in die Höhe, doch Semir dachte nicht daran sein Tempo zu verringern.
    „Scheiße, du fährst schlimmer als Mikael!“, kam es vom Beifahrersitz, als er die nächste scharfe Kurve nahm.
    „Ich hoffe, dass du das als Kompliment meinst“, erwiderte er. „Wohin lotst du mich eigentlich?“
    „Einen alten Frachthafen. Er ist seit einigen Jahren nicht mehr in Betrieb. Wenn wir das Auto bis an das Ende lenken können, haben wir eine Chance, dass alles glatt geht und niemanden etwas passiert.“
    „Niemanden?“, fragte Semir skeptisch nach.
    Antti lächelte. „Außer uns vielleicht!“ Dann griff der Finne nach seinem Funkgerät und begann aufgeregt mit der Zentrale zu funken. Semir hingegen konzentrierte sich ganz auf die Straße und reagierte nur auf Anttis Ansagen.
    Sein Problem war nicht nur das er sich in Helsinki nicht besonders gut auskannte, sondern auch der Verkehr. Umso weiter sie sich von der Finlandia-Halle entfernten, desto dichter wurde er. Es wurde zwar an einer Sperrung der Strecke, die sie nahmen, gearbeitet, doch die Autos konnten trotz Durchsagen der Polizei nicht in Luft auflösen. Dafür war der Zeitrahmen einfach zu eng gewesen. Semir hupte anhaltend und raste die Straße hinunter. Immer wieder musste er die Spur wechseln, um nicht einem Vordermann hinten aufzufahren. „Verdammt weg da!“, schimpfte er laut. „Weg! Weg!“ Er lenkte den Audi auf den Gehweg, räumte einige Kartons ab, ehe er wieder auf die Straße kam.
    „Jetzt rechts!“, schrie Antti und ein paar Sekunden später bog Semir mit quietschenden Reifen nach rechts ab.
    Wieder tauchten einige Fahrzeuge vor ihnen auf. Er nahm den Fuß vom Gas und schlängelte sich zwischen ihnen durch, ehe er wieder beschleunigte.
    „Im Kreisverkehr die dritte Ausfahrt“, kündigte ihm Antti an, „danach rechts in die Siltavuorenranta!“ Er befolgte die Anweisungen wie ein Roboter. Er konzentrierte sich nur auf Antti und die Straße, alles andere hatte er nicht in der Hand. „Wie viel Zeit noch?“
    „Zehn Minuten.“
    Das Adrenalin jagte durch Semirs Körper und sorgte dafür, dass er hellwach war. Der Motor jaulte auf, als er den nächsten Gang reindrückte. Sein Herz hämmerte und seine Handflächen waren schweißnass. Er hoffte nur, dass der Mann vom Bombenentschärfungsteam nicht gelogen hatte, als er gesagt hatte, dass die Bombe relativ stabil gebaut war und auf Erschütterungen nicht reagieren würde.
    Antti unterbrach sein Gespräch am Funk abermals. „Gleich kommt die E75, da musst du drauf!“
    Semir bog auf die Schnellstraße und trat mit voller Wucht das Gaspedal durch, um den Wagen wieder auf Touren zu bringen, nachdem er abbremsen musste, damit er die Kurve bekam. „Ist am Zielort schon alles geräumt?“
    „Der Hafen ja, das ganze Gebiet noch nicht. Wir müssen wohl einfach hoffen, dass die Sprengkraft der Bombe nur die Minimalkraft erreicht und nicht die volle.“
    Semir nickte. „Ich verstehe.“
    „Scharf rechts!“ Semir musste fast eine Vollbremsung hinlegen, um die Abfahrt auf die Arielinkatu nicht zu verpassen. Geschickt lenkte er den Wagen durch die Kurve und bog auf ein großes freies Gelände ein. Sie schienen ihr Ziel fast erreicht zu haben. Er konnte das Wasser bereits sehen.

    „Halt an“, forderte Antti neben ihm. Semir drückte auf die Bremse. „Aber wir sind doch noch nicht am Ende des Hafens“, stellte er skeptisch fest. „Das reicht noch nicht. Wir müssen noch weiter!“
    Anttis Gesichtszüge verhärteten sich. „Steig aus!“
    Der deutsche Polizist sah fragend zu Seite. „Wie?“
    „Du hast schon richtig verstanden. Ich möchte, dass du jetzt aussteigst! Ich werde das Auto alleine bis zum Ende fahren.“
    „Aber Antti …“, widersprach Semir, wurde jedoch unterbrochen: „Denk an deine Familie. Sie braucht dich. Ich habe keine Familie, mich braucht niemand!“
    Der deutsche Kommissar jedoch schüttelte den Kopf und drückte das Gaspedal runter. „Das stimmt nicht Antti! Mikael ist deine Familie und ich werde nicht zulassen, dass er dich verliert. Es wird glatt gehen, mach dir keine Sorgen.“
    Semir holte noch einmal alles aus dem Audi heraus und fuhr in Richtung Wasser. Er brachte den Wagen am Ende der Hafenanlage mit qualmenden Reifen zum Stehen. Antti löste eilig seinen Gurt, öffnete die Tür und zog anschließend vorsichtig den Koffer mit der Bombe zwischen seinen Füßen hervor, um ihn auf dem Asphalt abzustellen. Dann stieg er wieder ein, während Semir bereits Gas gab.
    „Wie viel Zeit bleibt uns?“, fragte er.
    „20 Sekunden“, kam es vom Beifahrersitz.

    Semir gab Gas, zerrte an der Gangschaltung und versuchte alles, um das Auto so schnell wie möglich von hier wegzubringen. Jeder Meter, der zwischen ihnen und dieser Bombe lag, könnte am Ende von Bedeutung sein. Die Angst, dass sie es nicht schafften, machte sich nun in ihm breit. Er dachte an Andrea und Kinder. Vielleicht, ja vielleicht, hatte er wirklich voreilig gehandelt, als er sich gemeldet hatte, diese Sache gemeinsam mit Antti zu erledigen. Er wollte ja seine Familie nicht verlassen, aber Antti war auch sein Freund. Dieser Mann hatte ihm vor einigen Jahren ohne zu zögern geholfen. Er hatte behauptet jemanden in Notwehr erschossen zu haben, nur damit er - der wahre Schütze - keinen Ärger bekam mit den finnischen Behörden. Er stand in seiner Schuld und das war der perfekte Augenblick gewesen, es ihm zu danken.
    „Die Zeit ist um!“, kam es von seiner Seite. Semir sah fast automatisch in den Rückspiegel. Der grelle Blitz einer Explosion war zu sehen, gleichzeitig durchzog ein ohrenzerreißender Knall die Luft. Die Druckwelle der Explosion fegte über den Hafen und riss alles mit sich. Trümmer fielen vom Himmel. Feuer verbrannte in weitem Umfeld alles, was ihm in den Weg kam. Als die Druckwelle sie erfasste, hatte Semir keine Chance. Sofort geriet der Audi außer Kontrolle und tanzte wild über den Asphalt, geriet ins Schleudern und überschlug sich, um dann auf dem Dach weiter zu schlittern, ehe er zum Stehen kam.

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  • harukaflower
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    • 3. Oktober 2015 um 08:27
    • #32

    Eva trat in Mikaels Zimmer und stellte den Kinderwagen so hin, dass sie Sichtkontakt mit Oskari hatte. Er fremdelte in letzter Zeit sehr und schrie sofort los, wenn sie auch nur den Raum verließ. Eine Tatsache, die die Situation, in der sie sich befanden nicht gerade leichter machte. Sie deckte Oskari zu und ging dann in Richtung des Fensters. Mikael saß in seinem Rollstuhl seitlich davor und blickte auf den Park. Sein Gesichtsausdruck sagte genauso wenige aus wie in den vergangenen Tagen. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und er lächelte. „Du siehst müde aus. Willst du nicht lieber ins Bett, anstatt hier am Fenster zu sitzen?“
    „Es ist alles okay“, antwortete er. Sie nickte und lehnte sich an die Fensterbank, damit sie ihm in die Augen sehen konnte und auch Oskari im Blick hatte. „Ich habe gehört, dass Ben gestern hier war. Du hast ihn vermisst, nicht?“
    Sie konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. „Ja“, antwortete er schließlich. Eva griff nach seiner Hand. „Du hast heute toll mitgemacht bei deinen Übungen, hab ich gehört. Du wirst sehen, bald bist du wieder bei Oskari und mir. Bald holen wir dann auch Toivo a…“ Sie verstummte. Die Tür wurde aufgerissen und der Lauf einer Waffe mit aufgezogenem Schalldämpfer zielte auf ihre Brust. Eine junge blonde Frau trat herein. „Geh weg von ihm!“, schrie sie.
    „Wer sind Sie!?“ Eva stellte sich schützend vor den Rollstuhl. „Was wollen Sie!?“
    „Geh weg von ihm!“
    „Nein!“
    Die Hand der Frau zitterte, sie atmete hektisch. „Geh weg oder ich muss dich erschießen!“ Sie rührte sich nicht. „Geh endlich weg!“ Die Stimme der Unbekannten wurde lauter, schriller.
    Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht zulassen, dass du ihm wehtust!“
    „Dann hast du dein Schicksal selbst besiegelt!“
    „Eva, bitte geh!“, forderte Mikael hinter ihr leise. Er beschützte sie also noch, obwohl er nichts ausrichten konnte. Sie löste sich nicht aus ihrer Position. „Ich habe keine Angst zu sterben, wenn es bedeutet, dass ich dich beschützen kann! Denn ich liebe dich.“
    Die Frau begann zu lachen. „Wie rührend!“ Sie umgriff die Waffe fester. Ihr Zeigefinger krümmte sich am Abzug. „Er hat mir alles genommen. Er ist das Böse und das Böse muss sterben. Ich sage es ein letztes Mal. Geh zur Seite!“
    „Nein!“
    Sie drückte den Abzug der Waffe durch. Unmittelbar danach spürte Eva ein scharfes, brennendes Gefühl in der Bauchgegend. Reflexartig fuhr ihre Hand an die Stelle. Sie spürte das warme Blut auf ihren Fingerkuppen. Ihre Beine wurden wackelig und sie sank an der Wand zu Boden. „Eva!“ Sie sah, wie Mikael an dem Gurt des Rollstuhls zerrte, bekam ihn allerdings nicht los. Für den feinen Verschluss, fehlte einfach noch die Feinmotorik. „EVA!“ Er wollte aufstehen, zu ihr. Seine rechte Hand streckte er in ihre Richtung, doch er konnte sie nicht erreichen. Wieder griff er unbeholfen nach dem Gurt. „Nein … Eva nein!“ Er schrie nun noch lauter, verzweifelter. Zur gleichen Zeit begann auch Oskari zu brüllen. „Hör auf zu schreien, oder ich töte dein Kind!“, forderte die Frau. In Eva machte sich Panik breit. Ihr Herz schlug wie nach einem Marathonlauf. Sie wusste, dass in diesem winzigen Augenblick etwas in dem Mann passierte, den sie liebte. Ein nicht verarbeitetes Trauma mischte sich mit seinen Verlustängsten. Sie musste ihn beruhigen. Sie konnte nicht zulassen, dass diese Frau auch noch ihr gemeinsames Kind umbrachte.
    „Alles … ist gut Mikael. Ich bleib bei dir, ich gehe nicht“, presste sie leise heraus und zwang sich dazu, wieder aufzustehen. Sie ignorierte das brüllende Verlangen ihres Körpers aufzugeben. Sie wusste nicht, wer diese Frau war, aber sie wusste, dass sie gefährlich war. Noch ehe sie es geschafft hatte, griff die Unbekannte nach den Schiebegriffen des Rollstuhls und zog ihn von ihr weg. „Nein … Eva! Nein!“ Mikael brüllte erneut, kämpfte mit sich und seinem Körper und war dieser Frau doch hilflos ausgeliefert, die ihn aus dem Zimmer fuhr.

    Eva krallte sich an der Fensterbank fest, als sich erneut grelle Punkte in ihrem Sichtfeld ausbreiteten. Obwohl ihr Verstand schrie, dass sie keine Chance hatte, kämpfte sie sich Schritt für Schritt vor. Blut lief ihren Bauch entlang, über die Beine bis auf den Boden. Sie zwang sich weiterzugehen, nicht aufzugeben. Irgendwann hatte sie die Zimmertür erreicht und blickte in den Flur. Sie sah nach rechts in die Richtung, wohin sie verschwunden war, doch sie war bereits weg. „Hilfe!“, schrie sie verzweifelt. „Hilfe!“ Ihre Beine wurden schwächer. Sie wurde müde, fürchterlich müde.
    „Frau Järvinen!“ Eine Krankenschwester, kaum älter als sie selbst, stürzte auf sie zu. Evas Körper zitterte und ihre Beine gaben erneut nach, doch diesmal fiel sie nicht auf den Boden. Die Schwester fing sie auf und legte sie vorsichtig auf den Rücken. Sie sog die Luft scharf ein, als sie die Wunde sah. „Wie ist das passiert?“
    „Da-da war eine Frau. Mikael … wo ist Mikael?“ Ihr Körper zitterte. Ihr war furchtbar schwindelig und sie merkte, wie ihr Bewusstsein wieder schwand.
    Die Frau zog ihren Kittel aus und drückte ihn auf den Bauch. „Einen Krankenwagen! Sofort!“, schrie sie.
    Eva griff nach ihrer Hand und umklammerte sie. „Mik-ael … bitte!“
    „Wie ist das passiert?!“
    „Sie hat geschossen und Mikael, sie hat ihn mitge … nommen. Polizei, Sie müssen … die Polizei …“
    Ihre Umklammerung löste sich, als sich erneut eine Welle der Ohnmacht über sie legen wollte. Ihre Augenlider schlossen sich. Sie spürte leichte Schläge auf ihren Wangen und öffnete unter enormer Anstrengung wieder die Augen. „Halten Sie einfach durch, Frau Järvinen. Ich kümmere mich darum. Einfach durchhalten.“
    Eine weitere Krankenschwester kniete sich zu ihnen runter. „Ich habe Verbandszeug mitgebracht. Wir müssen die Blutung stoppen!“
    „Die Pol..izei …“, flüsterte sie erneut.
    „Wir kümmern uns darum, alles wird gut!“, sagte die Schwester wieder und wieder und streichelte ihr dann sanft über die Haare. „Alles wird gut. Ihrem Freund wird nichts passieren.“
    „Die Polizei! Ruf einer von euch die Polizei!“
    „Du weißt das die ganze Innenstadt gesperrt ist?“, fragte eine leise Stimme.
    „Mach es einfach!!“

    Im Hintergrund schrie Oskari weiter wie am Spieß. Er verstand sicherlich nicht, wo seine Eltern hin waren. „Mein Ba-by“, presste sie leise hervor.
    „Ebba kümmere dich bitte um das Kind!“, rief die Krankenschwester, die sie auf ihren Schoß gebetete hatte. Eva hörte gedämpfte Schritte, eine sanfte Stimme, die mit ihrem Sohn sprach. „Wie heißt der Kleine?“, fragte eben diese Stimme kurz darauf.
    „Oskari.“
    „Ein schöner Name, Frau Järvinen. Bleiben Sie bei uns, für ihn.“
    Sie lächelte und schloss die Augen, doch man ließ sie nicht in die Ohnmacht gleiten. „Wachbleiben, Eva. Wachbleiben!“
    „Mikael“, murmelte sie. „Die Polizei ist unterwegs. Ihm wird nichts passieren“, sagte die Frauenstimme. „Es wird gutgehen. Alles was du jetzt tun musst, ist ruhig bleiben. Durchhalten. Einfach durchhalten. Du bist stark, du schaffst das!“

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    • 4. Oktober 2015 um 08:55
    • #33

    Semir wusste nicht, wo oben und unten war, als er nach einer kurzen Bewusstlosigkeit wieder zu sich kam. „Scheiße“, fluchte er noch halb besinnungslos. Mit einmal kamen ihm die letzten Minuten wieder in den Sinn. Antti! Er drehte seinen Kopf zur Seite. Der Sitz war leer. Erst jetzt bemerkte er, dass die Windschutzscheibe zerborsten war. Antti hatte sich nicht wieder angeschnallt, wurde vermutlich aus dem Wagen geschleudert.
    Semir löste den Gurt und krabbelte auf allen vieren aus dem Auto. Schwindel packte ihn, seine Ohren klingelten von der Explosion. Er versuchte sich zu orientieren und das mulmige Gefühl abzuschütteln. Nach und nach ließ der Schwindel nach und er sah seine Umgebung wieder scharf. Das ganze Areal war verwüstet, aber immerhin war der Feuerball wohl dann doch nicht so groß gewesen, als das er sie beim lebendigen Leibe gegrillt hätte.

    Hektisch suchte er die Umgebung ab. Irgendwo musste doch Antti sein. Da! Der Körper lag einige Meter weiter entfernt von ihm - leblos. Er sprang in die Höhe, sackte kurz wieder ein, als sich erneut alles um ihn herum drehte, erhob sich jedoch gleich wieder. „Antti!“ Er ließ sich neben den blonden Finnen fallen. Das Gesicht war zerkratzt und blutverschmiert. Kleine Rinnsale vom Blut flossen ihm über die Stirn.
    „Antti, sag doch was!“ Er tätschelte sanft die Wangen. Ein leichtes Stöhnen war zu vernehmen, dann flackerten die Augenlider und öffneten sich ein Stück. Der Finne brauchte einige Sekunden, um ihn zu fixieren. „Bist du okay?“, fragte Semir.
    „Ich … ich weiß nicht“, kam es leise von Antti. Dieser bewegte sich, hielt jedoch sofort inne und sog die Luft scharf ein. „Ich glaube, ich habe mir die Rippen geprellt oder gebrochen … scheiße, tut das weh!“ Der Blonde sah in die Richtung, wo die Bombe eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatte und hob den Kopf dann in den Himmel. „Vielleicht sollten wir dennoch unserem Schutzengel danken.“
    „Vermutlich“, bestätigte Semir ihm.
    „Kannst du aufstehen?“, hakte er nach einer Weile nach.
    Antti winkte ab und erhob sich zitternd. „Jaja, geht schon.“ Kurz darauf entkam dem finnischen Kollegen allerdings ein lautes Stöhnen. „Perkele!“, schimpfte er und drückte die rechte Hand gegen die Rippen. Semir wollte zupacken, doch der Blonde hob die Hand. „Alles gut. Nur ein bisschen Kopf- und Rippenschmerzen.“
    „Du bist ja noch störrischer als Mikael.“
    „Vielleicht sind das die finnischen Gene. Wer weiß das schon.“ Antti betrachte einmal mehr das Chaos, welches die Explosion hinterlassen hatte. „Halleluja“, murmelte er leise. „Was ein Knall. Jetzt weiß ich, warum ich lieber bei der Mordkommission bin.“
    Dem deutschen Kollegen entkam ein leises Lachen. „Glaub mir, dass war noch nichts. Ich habe schon ganz andere Sachen erlebt.“
    „Was ist nur mit den deutschen Autobahnen los?“, kam es von seiner Rechten.
    „Du bist nur neidisch, weil ihr so wenige davon habt.“
    „Bei dem Chaos, welches darauf anscheinend angerichtet wird. Zum Glück!“

    Sie hörten Sirenen und kurz darauf hielten erste Feuerwehrwagen vor ihrer Nase und kümmerten sich um das, was die Explosion hinterlassen hatte. Unmittelbar danach folgten weitere Einsatzfahrzeuge und es dauerte nicht lange und sie hatten einen Notarzt an der Backe kleben. „Jaja. Ich sagte doch, ich rede mit dem Einsatzleiter und dann kommen Herr Gerkhan und ich mit“, erklärte Antti genervt und drehte sich weg. Dann zog er sein Funkgerät aus der Tasche und sprach mit der Zentrale, während sich der Notarzt einige hundert Meter anderen Kollegen zuwandte, die das Gebiet abgesperrt hatten. Soweit es Semir beurteilen konnte, schien aber, wie durch ein Wunder niemand, ernsthaft verletzt worden zu sein.
    Als Antti das Funkgerät in seine Tasche senkte, sah Semir sofort, dass etwas vorgefallen sein musste. „Was ist los?“
    Der stämmige Finne zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht und das stört mich.“
    „Wie?“
    „Likpi war komisch. Er hat mir erzählt, dass sie Erik Blomling haben, aber da war irgendwas in seiner Stimme. Ich konnte es nicht richtig packen.“
    Semir schluckte. „Denkst du, dass etwas mit Ben und Kasper …“ Noch ehe er den Satz beenden konnte, schüttelte Antti den Kopf. „Das war es nicht. Er hat mir versichert, dass die beide unverletzt sind.“
    „Vielleicht hast du es dir einfach nur eingebildet. Es war nicht gerade die ereignisloseste Stunde, die wir hatten“, versuchte Semir seinen Kollegen zu beruhigen.
    Antti seufzte laut auf, stöhnte aber kurz darauf, als erneut Schmerzen von den Rippen aus, durch den ganzen Körper zogen. „Du solltest wirklich zur Untersuchung ins Krankenhaus. Nicht das du dir noch mehr Schaden zufügst, wenn du mit einer angeknacksten Rippe herumrennst.“
    „Jaja. Ist ja gut, ich nehme den nächsten Krankenwagen, wenn du dann zufrieden bist.“
    Der deutsche Kommissar lächelte. „Das bin ich, mein Freund.“

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  • harukaflower
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    • 5. Oktober 2015 um 07:34
    • #34

    Noch ehe Kasper den Wagen vor der Klinik vollständig zum Stehen brachte, hatte Ben die Tür aufgezogen und war herausgestürmt. Sein Herz schlug ihm bis zu Hals, als den langen Kiesweg zur Rehaklinik herauflief. Enni durfte Mikael einfach nichts tun. Das würde er sich nie verzeihen können! Es war alles seine Schuld gewesen, weil er sich auf diesen miesen Einsatz eingelassen hatte.

    Noch ehe er den Eingang der Klinik erreichte, sah er, wie Enni mit Mikael im Rollstuhl herauskam. Als sie ihn sah, blieb sie stehen.
    „Enni!“ Ben kam näher und sah in Mikaels Gesicht. Irgendetwas an seinen Gesichtszügen sorgte dafür, dass seine Angst noch größer wurde. Es war Panik, die sich darin abzeichnete. Nackte Panik. Er hatte diesen Ausdruck erst einmal bei seinem Freund gesehen. Es war in dem Augenblick gewesen, als er Joshuas Leiche gesehen hatte. Ben wollte nach seiner Waffe greifen, doch ehe er es auch in die Tat umsetzen konnte, drückte Enni Mikael ihre Pistole an den Kopf. „Es tut mir leid, aber er wird sterben müssen. Der Meister verlangt es und das du hier bist, bedeutet, dass etwas schief gelaufen ist!“, rief sie.
    „Enni, bitte lass Mikael gehen!“
    Sein Gegenüber lachte. „Ja, soll ich das tun?“ Sie löste den Gurt des Rollstuhls. „Wie weit schafft es denn dein Freund?“ Sie zog Mikael unsanft nach oben. Ben konnte sehen, wie er Probleme hatte sein Gleichgewicht zu stabilisieren. Enni drückte seinen linken Arm um die Brust seines Freundes, um ihn daran zu hintern auf den Boden zu fallen. Die rechte Hand hielt weiterhin die Pistole gegen Mikaels Kopf. „Nun, Ben, wie lautet deine Entscheidung?“
    „Bitte lass ihn in Ruhe. Er hat mit dieser Sache nichts zu tun!“
    „Hat er das nicht?“
    Panik setzte ein und seine Kehle schnürte sich zu. „Enni, sei doch vernünftig. Willst du das der Teufel sich deinen Körper schnappt?“
    Sie begann zu lachen. „Dann werde ich ihn vertreiben! Wenn er kommt, dann werde ich ihn ganz einfach vertreiben, ja?“
    „Bitte Enni. Mikael kann doch für all das nichts. Lass ihn bitte in Ruhe!“
    Ihr Lachen wurde lauter, hysterischer. „Er kann da nichts für? Er war es, der mir meinen Bruder genommen hat!“
    „Wovon redest du?“, kam es leise von Mikael.
    Sie umgriff ihn fester. „Und ob das stimmt! Du hast ihm gesagt, er soll nicht mehr zu uns kommen! Du hast ihm gesagt, dass er konsequent sein muss … gib es doch einfach zu!“
    „Enni, sei vernünftig. Mikael ist doch nur Veikkos Freund.“ Ben trat einen Schritt auf sei zu.
    „Keinen Schritt näher!“, schrie sie. „Bleib sofort stehen!“
    Er gehorchte. Das Letzte, was er jetzt wollte, war sie noch nervöser zu machen. Sie war labil und sie würde sicherlich nicht zögern. Sie würde seinen Freund erschießen, wenn er ein falsches Wort sagte.
    „Ich habe dich geliebt!“, schluchzte sie. „Und du, du hast mich nur benutzt!“
    Sie umgriff Mikael fester. „Er hat es dir gesagt, nicht? Er hat dir gesagt, dass du mich nicht lieben darfst?“
    „Mikael kennt dich doch überhaupt nicht Enni. Bitte lass ihn, er hat damit nichts zu tun.“
    Sie schüttelte den Kopf. „Verstehst du das denn nicht Ben? Er ist die Ursache für alles!“

    „Lassen Sie Mikael Häkkinen los!“ Kasper hatte inzwischen ebenfalls die Klinik erreicht und baute sich neben Ben auf.
    „Die Waffe runter!“, schrie das Mädchen. „Sofort!“
    „Ich fürchte, dass kann ich nicht“, antwortete ihr Kasper.
    „Dir ist klar, dass sie Mikael gerade eine Waffe an den Schädel hält?“, flüsterte Ben seinem finnischen Kollegen leise zu. „Das ist mir bewusst“, antwortete dieser ihm ebenso leise.
    Ennis Finger zitterte am Abzug. „Ich muss das tun … der Meister verlangt das! Ich muss ihn zu ihm bringen oder töten!“
    „Maja war genau wie du“, sagte Kasper nun. Ben sah dem Kollegen mit hochgezogener Augenbraue an. Wer zur Hölle war denn nun wieder diese Maja? Himmel, Finnland hatte mehr Geheimnisse als ihm lieb war.
    „Sie hat dem Meister vertraut, als er ihr sagte, dass sie stark genug ist das Ritual zu überleben. Sie hat Drogen genommen, ist so dem Teufel verfallen. Erinnerst du dich an sie?“, fuhr Kasper fort.
    „Sie-sie war meine Freundin“, kam es leise von Enni und Ben sah, wie sie begann zu weinen. „Aber es war der alte Meister! Erik hätte gewusst, dass sie es nicht schaffen würde! Erik weiß, wer stark ist und wer nicht!“
    „Sie war meine Schwester.“ Kasper machte vorsichtig einen Schritt auf Enni zu. „Ich hab sie geliebt und ich vermisse sie. Du verstehst das sicher. Du hast ja auch einen Bruder.“
    „Bleib stehen!“
    Der Blonde gehorchte sofort. „Vermisst du deinen Bruder?“
    „Ja“, kam es leise. „Ich will meine Familie zurück! Ich will, dass es wieder so ist, wie vor ein paar Jahren!“
    Kasper nickte. „Es muss schön gewesen sein. Damals als Maja noch lebte, da waren wir auch viel glücklicher. Bitte Enni, lass Mikael gehen. Er hat auch Familie. Du weißt doch, wie wichtig Familie ist.“
    „Seine Familie ist nicht rein!“, schrie sie. „Wird niemals rein sein!“
    Ihr Finger näherte sich immer mehr den Abzug der Waffe. Sie lächelte. „Ich muss das tun!“ Ein Schuss ertönte, jedoch nicht aus ihrer Pistole, sondern aus der von Kasper Kramsu. Mitten auf ihrer Stirn war ein Einschussloch zu erkennen. Das Projektil hatte den Hinterkopf durchschlagen. Mit geweiteten Augen sackte die Frau zu Boden und riss Mikael mit sich, dem nicht möglich war, sich gegen ihre Umklammerung zu behaupten und sein Gleichgewicht verlor.

    Ben stand noch einen Augenblick wie gelähmt da, dann zwang er sich dazu, sich zu bewegen. Er stürzte auf die Beiden zu. Obwohl ihm bewusst war, dass sie unmöglich leben konnte, legte er zwei Finger an ihre Halsschlagader. Er spürte nichts. Nun wandte er sich Mikael zu. Dessen Atmung war hektisch und er blickte in die toten Augen von Enni. „Mikael! Sieh mich an!“, forderte Ben. Er erhielt keinerlei Reaktion. Sanft griff er nach der Schulter. „Mikael. Ist alles gut?“
    „Ja“, kam es leise und undeutlich nach einiger Zeit. „Komm ich helfe dir wieder in den Rollstuhl.“ Ben griff nach dem Oberkörper seines Freundes. „Lass mich!“ „Mikael, lass mich dir helfen.“ Mit einer heftigen Bewegung schüttelte Mikael seine Hand ab. „Lass mich los!“ Als Ben erneut seine Hände an den Hüften platzierte, ließ der Finne es gestehen. Stattdessen merkte Ben, wie der schmale Körper zu beben begann. Er blickte auf und sah, wie sich erste Tränen ihren Weg suchten. „Eva … sie hat Eva! Ich konnte ihr nicht helfen …“ Er wollte sich hochstemmen, oder zumindest glaubte Ben, dass es das war. Es sah aus wie eine hilflose Geste. Er packte unbewusst fester zu. „Eva!“ Mikaels Atmung wurde hektischer. „Mikael, du musst dich beruhigen!“ Ben sah hilflos zu Kasper. Der Blonde stand weiterhin mit gespreizten Beinen und gezogener Waffe vor ihnen. Er konnte sehen, wie er zitterte, die Waffe leicht auf und ab schwang. Na super, nun hatte er gleich zwei Baustellen auf einmal. „Sie hat geschossen! Sie hat Eva! … da war Blut.“ Mikaels verzweifelte Stimme drang wieder zu Ben durch und er löste seinen Blick von Kasper. Die Atmung wurde kurz und stoßartig und sein ganzer Körper begann zu zittern. Er versuchte sich erneut hochzustemmen und schrie sinnlose Silben. „Scheiße!“ Wieder drehte er sich zu Kasper, der weiterhin wie versteinert da stand. „Nun mach endlich was! Er hyperventiliert!“
    Endlich kam Leben in den Kommissar und er rannte los. „Ich hole einen Arzt und sehe nach, was mit Eva ist!“

    „Eva!“, japste Mikael. Ben umgriff die Schultern seines Freundes. „Mikael! Sieh mich an! Du musst ruhig atmen“, sagte er behutsam. „Ganz ruhig!“
    Er schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen.
    „Du musst ruhig atmen.“
    „Da … war diese Frau … Eva …“, keuchte Mikael.
    „Alles ist gut. Bitte atmete einfach ganz ruhig!“
    Ben hörte Schritte und wenig später hockte eine ältere Frau mit blonden Haaren, die zu einem Zopf geflochten waren, neben ihnen. Die Neurologen, glaubte Ben sich zu erinnern. Sie öffnete den Koffer. „Ein schwerer Schock. Ich werde ihm ein Beruhigungsmittel geben.“ Sie zog eine Spritze mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf und beugte sich über Mikael, nachdem sie Ben auf Englisch angewiesen hatte, ihn festzuhalten. „Das wird Sie ein wenig beruhigen, Herr Häkkinen“, flüsterte sie leise und senkte die Spritze in seine Armbeuge. Mit jedem Luft holen wurde die Atmung von Mikael ruhiger und dann begannen sich seine Augen vor Erschöpfung zu schließen.

    Sie drehte sich herum und winkte zwei Pfleger herbei, die eine Trage mitbrachten. Nun sah er es, an ihrem Kittel befand sich Blut. „Was ist mit seiner Freundin?“, fragte Ben mit dünner Stimme, als er zusah, wie Mikael auf die Trage gelegt wurde. „Sie wurde angeschossen. Ein Notarzt ist bereits auf dem Weg.“ Sein Herz begann wie wild in seiner Brust zu schlagen. Es war kein Wunder, das Mikael so durch den Wind war. Eva bedeutete ihm alles. Anzusehen, wie er ihr nicht helfen konnte, dass musste fürchterlich sein. „Sie hatte das Baby mit, können Sie jemanden anrufen?“
    „Ich … ja natürlich“, presste er hervor und verfolgte, wie man Mikael wieder in die Rehaklinik schob. „Er wird ein paar Stunden durchschlafen. Es wäre gut, wenn jemand Vertrautes bei ihm ist, wenn er aufwacht.“

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    • 6. Oktober 2015 um 08:09
    • #35

    Kasper kniete an Evas Seite, tätschelte ihre Wange und sagte ihren Namen. Wieder und wieder. Neben ihm hockte eine Krankenschwester, die ihr eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase drückte. Ihr Gesicht war gespenstisch weiß, bleich wie der Tod. Sie zitterte und Schweiß glänze auf ihrer Stirn. Man hatte einen Druckverband angelegt, aber das ganze Blut auf dem Boden, hatte ihm dennoch gezeigt, wie ernst die Lage war. „Alles wird gut Eva. Halt einfach nur durch.“
    Die Tür zu dem Zimmer, in dem normalerweisen Mikael lag, war zugezogen. Nur ganz gedämpft konnte er die Schreie von Oskari vernehmen. „Kämpf Eva, ja? Oskari braucht doch seine Mama.“
    „In der Stadt herrscht das totale Chaos! Der RTW hätte einen zu großen Umweg fahren müssen.“ Kasper sah nach oben in das Gesicht eines Arztes, der vor wenigen Minuten die Neurologin abgelöst hatte. „Sie schicken einen Hubschrauber. Er ist in spätestens fünf Minuten hier.“
    Er nickte und sah wieder herunter. „Hörst du Eva? Das schaffst du. Bleib einfach wach. Für Mikael, für deine Familie.“
    Ihre erschöpften Augen sahen ihn an und wurden immer kleiner. „Eva! Für Mikael, du kannst ihm das nicht antun!“ Sie riss die Augenlider wieder auf. „Gut machst du das“, redete er ruhig auf sie ein. „Halt einfach durch. Sie sind unterwegs.“
    „Hast du mir verziehen?“, hauchte sie unter der Atemmaske hervor.
    Er lächelte. „Es gab nichts zu verzeihen. Ich war dir niemals böse Eva.“ Sanft strich er durch ihre Haare. „Und jetzt versuch einfach nur bei mir zu bleiben.“ Während Kasper nach außen ruhig und gelassen wirkte, kämpfte er in seinem Inneren gegen die Panik. Er wusste, dass es nicht gut um sie stand. Sie war schwach und hatte viel Blut verloren. Als er angekommen war, da hatte der Arzt ihr etliche Spritzen in den Körper gejagt, um den Kreislauf zu stabilisieren. Eva kämpfte damit wach zu bleiben und er konnte sehen, wie sie dabei war diesen Kampf zu verlieren. „Du bist doch stark. Halt noch etwas durch.“

    Er redete weiter beruhigend auf sie zu, sagte ihr immer und immer wieder, dass es Mikael und Oskari gut ging. Endlich vernahm er in der Ferne Rotorengeräusche des herannahenden Hubschraubers. „Hörst du das?“, sagte er zu ihr. „Sie sind da. Bleib einfach wach!“
    Kurz darauf eilte ein Notarzt mit den Sanitätern heran. Kasper wurde beiseitegeschoben und beobachte nun mit etwas Abstand, wie der Arzt der Klinik seinem Kollegen die Einzelheiten mitteilte und ihm erkläre, welche Maßnahmen er bereits unternommen hatte. Danach wurde die blonde Frau vorsichtig auf die Trage herübergeschoben. Eva verzog das Gesicht, gab aber keinen Laut von sich. Als sich das Rettungsteam in Bewegung setzte, griff Kasper instinktiv wieder nach ihrer Hand. „Durchhalten Eva. Für deine Familie, ja?“, sagte er ein letztes Mal, als sie vor der Reha-Klinik angekommen waren. Dann blieb er stehen und verfolgte, wie sie in den Hubschrauber geschoben wurde.
    Als der Hubschrauber am Horizont verschwunden war, wich mit einmal die ganze Anspannung. Kasper Kramsu hörte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen. Sein Herz raste immer noch und sein Atem wurde hektisch und unruhig. Angst brach plötzlich wie eine Flutwelle über ihn herein und ließ seinen Körper erzittern. Ein beengendes Gefühl breitete sich in ihm aus und schnürte ihm die Luft ab. Er zwang sich dazu ruhig ein- und auszuatmen. „Semir hat mich angerufen, du hast dich nicht über Funk gemeldet.“ Kasper zuckte zusammen, als eine Stimme zu ihm durchdrang. Er hatte niemanden kommen gehört. Er schloss für ein paar Sekunden die Augen und drehte sich dann um. Er nickte. „Das habe ich wohl in der Aufregung vergessen“, antwortete er Ben.

    Der deutsche Kommissar sah auf die Leiche von Enni Lindström, die einige hundert Meter von ihnen entfernt weiterhin im Gras lag – zugedeckt mit seiner Jacke. „Ich habe ihm alles berichtet. Es kommen bald ein paar Beamte, die sich um alles kümmern. Dann fahren wir ins Krankenhaus.“
    „Was ist mit Mikael?“, fragte Kasper ohne Stimme nach.
    „Eine Ärztin hat ihm etwas zum Beruhigen gegeben. Er wird erst einmal ein paar Stunden durchschlafen. Sobald wir mehr wissen von Eva, werde ich zurück fahren, damit jemand bei ihm ist, wenn er aufwacht.“
    „Das ist wohl besser so“, bestätigte Kasper.
    Ben seufzte und fuhr sich durch die Haare. „Ob er wohl verstanden hat, was hier passiert ist?“
    „Vielleicht die Situation nicht, aber er hat verstanden, was mit Eva ist und das reicht wohl schon.“
    Ben nickte seicht. „Ich will mir nicht vorstellen, was mit ihm passiert, wenn er sie verliert.“
    „Sie wird es schaffen, du solltest so etwas überhaupt nicht denken“, widersprach der blonde Finne. Kasper spürte einen Tropfen in seinem Gesicht, kurz darauf noch einen. Es nieselte. Sein Körper hatte sich immer noch nicht beruhigt und zitterte leicht. Er griff in seine Hosentasche, holte eine Zigarettenpackung heraus und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen Zug und zog sie mit zittrigen Fingern von seinem Mund, um den Rauch hastig auszublasen. „Was ist mit der Bombe?“
    Ben schob seine Hände in die Hosentaschen. „Ja, es hat geklappt, was Antti vorhatte.“
    „Es tut mir leid, ich musste es dir verheimlichen“, gab Kasper nun zu. Natürlich hatte er schon gewusst, dass die beiden älteren Beamten die Bombe von der Finlandia-Halle wegschaffen würden, aber er hatte es Ben verschwiegen, damit er sich nur auf seine Aufgabe konzentrierte.
    „Es ist ja zum Glück alles gut gegangen. Semir sagte, dass sie nicht schwer verletzt sind“, sagte Ben und atmete tief durch. „Was für ein Scheißtag!“
    „Und er ist noch nicht vorbei“, gab der Blonde zu bedenken, während er den Zigarettenstummel auf die Erde warf und austrat. Er zog sein Handy aus der Tasche, drückte darauf rum, schob es dann jedoch wieder weg, um es kurz darauf wieder hervorzuholen. „Ich muss Samuel informieren … also ihre Eltern.“ Ben nahm das Smartphone aus seiner Hand. „Lass das jemand anderen erledigen. Du bist vollkommen durch den Wind, du machst sie sicher nur noch nervöser.“
    „Wieso haben die nur Mikael und Eva reingezogen?“ Kasper hatte sich bereits die nächste Zigarette angezündet. „Die Beiden haben nun wirklich nichts mit dieser Sache zu tun.“
    „Rache. Sie wollten nur, dass ich leide“, antwortete Ben mit schwerer Stimme. „Und soll ich dir was sagen? Es hat geklappt.“

    Die beiden Kommissare sahen, wie zwei Streifenwagen vorfuhren. Vier Beamte stiegen aus und kamen auf sie zu. Kasper atmete tief durch, nahm noch einmal einen Zug von seiner Zigarette und wies die uniformierten Kollegen dann in ihre Aufgaben ein. Zum Schluss zog er sich einen der Beamten bei Seite und Ben verfolgte, wie er ihm sein Handy gab und dieser sich eine Nummer zu notieren schien. Vermutlich befolgte Kasper seinen Rat und ließ wirklich einen anderen Polizisten den Anruf bei den Eltern erledigen.

    Sie verfolgten noch einige Minuten stumm das Treiben vor der Klinik, ehe Ben die Stille brach. „Sollen wir zum Krankenhaus fahren?“ Kasper nickte und sie gingen schweigend in Richtung Wagen.

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  • harukaflower
    Gast
    • 8. Oktober 2015 um 07:48
    • #36

    Ben und Kapser saßen vor dem OP und warteten. Beiden Männern saßen die Erlebnisse der letzten Minuten noch in den Knochen und sie hatten auf dem Weg hierher nichts mehr gesprochen. Ben blickte stumm auf die Uhr, während Kasper krampfhaft die Hände um die Kante der Sitzbank gelegt hatte. Er drückte sie fest dagegen, dass die Handknöchel bereits weiß hervortraten. Nach knapp 15 Minuten waren hastige Schritte zu hören. Semir bog mit Antti im Schlepptau um die Ecke. Ben blieb die Luft weg. Ihre Kleidung war zerrissen, und der Körper war von Kratzern übersät. Besonders Antti sah unheimlich blass aus. Der Finne umgriff mit der rechten Hand seine Rippengegend und jetzt erinnerte er sich, dass Semir am Telefon erwähnt hatte, dass sich Antti wohl eine Rippenprellung zugezogen hatte. „Wo … wo ist …“, presste Antti leise hervor.
    „Eva wird noch operiert“, antworte Ben. „Sie hat viel Blut verloren und …“
    „Sag es nicht!“, unterbrach ihn Antti. Er hatte zu zittern begonnen und Ben konnte sehen, wie er sich Mühe gab die Tränen zurückzuhalten. „Komm Antti, du solltest dich setzen“, griff nun Semir ein. „Du hast immerhin ganz schön was abbekommen.“
    Der Hauptkommissar der Mordkommission schüttelte den Kopf. „Nicht so viel, wie Eva … ich …“ Semir griff beherzt nach dem Oberarm seines finnischen Freundes und leitete ihn in Richtung der Sitzbänke. „Sie wird in Ordnung kommen. Sie ist in besten Händen“, sprach er ihm Mut zu.
    Antti setzte sich schließlich und es herrschte für einige Minuten gespenstische Ruhe.

    „Wie ist es passiert?“, fragte Antti. Ben hatte am Telefon nur das Nötigste erzählt und berichtete den beiden älteren Kollegen nun ausführlicher vom den Zwischenfall im Reha-Zentrum und auch von dem, was ihm die Ärztin mitgeteilt hatte.
    „Euch trifft keine Schuld! Ihr hättet es nicht verhindern können“, murmelte Antti verärgert. „Die Verrückten! Blomling kann froh sein, dass Likpi die Verhöre führt, sonst würde ich ihm meine Faust in seine fiese Visage schlagen!“
    „Ich … ich habe … ich habe Veikkos … Schwester … erschossen …“ Kasper begann zu zittern und nun fielen auch die ersten Tränen. „Und Eva … ich … ich …“
    „Du hast gemacht was nötig war!“, fuhr Antti mit harter Stimme dazwischen. Der junge Kommissar schüttelte den Kopf. „Ich … es wäre sicherlich auch anders gegangen … Veikko wird mir nie … verzeihen, … wenn er …“
    „Hör auf so was zu denken!“ Antti erhob sich aus seiner Position und hockte sich vor Kasper hin. „Du hast nichts falsch gemacht. Du bist ein guter Polizist und lass die von niemanden etwas anderes erzählen. Veikko wird das verstehen. Er wird verstehen, warum du so handeln musstest.“
    Kasper sprang auf. „Sie ist tot! Verstehst du das! TOT!“
    Antti drückte seinen Partner wieder runter. „Ich verstehe das sehr wohl Kasper. Aber das ändert nichts daran, dass du so handeln musstest. Du hattest die Wahl zwischen ihr und Mikael. Du hast einen Kollegen beschützt. Veikkos Schwester hat diesen Weg selbst gewählt …“
    Der junge Kommissar erhob sich nun abermals. „Ich brauch einen Kaffee“, nuschelte er leise und verschwand dann den Gang hinauf, ohne dass ihn jemand daran hinderte. Antti sah ihm hinterher, erhob sich und setzte sich auf die Bank. Er vergrub den Kopf in seinen Händen. „Perkele!“, murmelte er leise. „Warum nur ist immer alles so kompliziert!“

    Ben lehnte den Kopf an die Wand. Antti hatte Recht, Kasper hatte so handeln müssen. Es war die einzige Option gewesen und sicherlich hätte sie sonst Mikael erschossen. Sie hätte nicht gezögert, dass sah man ja an Eva. Er sah auf Semir, der stumm neben ihm saß. „Eine Bombe wegbringen, ihr spinnt!“
    Sein Partner lächelte. „Hatten wir eine andere Wahl? Es ist alles gut gegangen. Es wurden nur ein paar Polizeibeamte verletzt und keine Zivilisten. Das ist es wert gewesen.“
    „Lass das nicht Andrea wissen“, merkte Ben an.
    Semir lächelte. „Wenn du nicht petzt, dann wird sie es niemals erfahren!“

    In den nächsten Minuten sagte keiner ein Wort. Das Ticken der Uhr war das einzige Geräusch, welches zu vernehmen war. Kasper war inzwischen mit einem Kaffeebecher zurückgekehrt, trank aber nicht daraus, sondern drehte ihn nur in den Händen hin und her. Ben und Semir starrten geradeaus auf die Uhr, während Antti etwas wackelig den Gang auf und ab stiefelte. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das Warten nahm kein Ende, so schien es.

    „Gibt es schon etwas?!“, fragte eine Stimme auf Finnisch. Antti sah auf. Samuel Järvinen kam den Gang mit großen eiligen Schritten herauf gelaufen. „Sie operieren noch“, antwortete er ihm. „Wie schlimm ist es?!“ Der Polizeichef sah abwechselnd auf Antti und Kasper. „Wie schlimm?“, wiederholte er nach einer Weile, als er noch keine Antwort bekommen hatte. „Das kann ich nicht sagen. Der Blutverlust war aber wohl sehr hoch.“
    „Es … es tut mir leid … Samuel“, murmelte Kasper leise. Järvinen fuhr sich durch die Haare und lehnte sich an die Wand. „Du kannst doch nichts dafür Kasper, du warst ja nicht einmal dabei. Mach dir keine Vorwürfe.“
    Er sah wieder auf Antti. „Was ist mit Mikael? Hat sie ihn auch …?“
    „Nein, das konnten Kasper und Ben verhindern“, klärte ihn Antti auf. „Man hat ihm aber ein starkes Beruhigungsmittel gegeben, er stand unter Schock.“
    Järvinen nickte. „Meine Frau holt Oskari ab. Ich habe einen Beamten mitgeschickt, sie kann ja unmöglich Auto fahren, da würde sie sich wahrscheinlich selbst …“ Järvinens Handy klingelte und der Polizeichef ging dran. „Ich habe gesagt, dass alles über Likpi und Rautianen läuft!“, schimpfte er. Dann legte er auf und stellte das Gerät endgültig ab. „Manchmal glaube ich, nur von Idioten umringt zu sein!“
    Järvinen drehte sich zu Ben und Semir und drückte ihnen die Hand. „Thank you. Both of you did a great job out there, according to Likpi, and we really appreciate your efforts!“
    „Well your daughter was ...“, widersprach Ben unsicher.
    „No it's not your mistake! You don't have to be sorry.“ Järvinen sah auf seine Uhr, dann in Richtung des OP-Trakts. „I want you to promise me that you will look after Mikael for me. You're important for him. He is feeling safe around you.“
    „I will do that“, stimmte Ben zu, auch wenn Järvinen ihn darum nicht hätte bitten brauchen. Es war eine Selbstverständlichkeit, die er auch so übernommen hatte. Dennoch empfand er es auch irgendwie als ein positives Zeichen. Järvinen schien Mikael endlich akzeptiert zu haben und sich sogar Sorgen um den Mann zu machen, den er noch vor wenigen Monaten am liebsten aus seiner Familie gestrichen hätte. Der Mann gegenüber von ihm fuhr sich nervös durch die Haare.
    „She'll come through. Don't worry“, versuchte Ben ihn zu beruhigen. Järvinen lächelte und lehnte sich dann an die Wand und zappelte nervös mit dem rechten Fuß.

    Es kam allen wie eine Ewigkeit vor, bis der Arzt endlich aus dem OP herauskam. Samuel Järvinen ging sofort auf ihn zu und auch die anderen folgten ihm. „Wie geht es meiner Tochter?“, fragte er etwas ängstlich und zu Semirs und Bens bedauern auf Finnisch. Der Arzt lächelte aber immerhin, was sie als ein positives Zeichen werten konnten. „Wir konnten die Kugel entfernen und sie hat zum Glück kaum Schaden angerichtet. Der Blutverlust war hoch, aber ihr Kreislauf ist im Augenblick stabil. Aber sie wird es schaffen!“
    „Danke Doktor. Danke!“ Nun standen Samuel Järvinen die Tränen in den Augen. „Wann darf ich zu ihr?“
    „Sie wird nun auf die Intensiv gebracht, wenn es in der Nacht keine Probleme gibt, dann werden wir sie aber vermutlich morgen bereits auf die normale Station verlegen können. Ich werde eine Schwester beauftragen Sie hinzubringen.“ Er sah in die Runde. „Aber bitte nur eine Person, höchstens Zwei. Alles andere wäre zu anstrengend.“
    „Natürlich“, antworte Järvinen. „Danke!“ Er gab dem Arzt abermals die Hand, ehe dieser sich von ihnen löste und seiner Arbeit nachging.

    Während Ben mit Semir verfolgte, wie der Polizeichef versuchte die Beherrschung zu wahren und sich eilig einige Tränen wegwischte, zog er Antti seicht beiseite. „Was hat er gesagt? Was ist mit ihr?“
    „Sie wird durchkommen. Die OP ist gut verlaufen.“
    Ben atmete erleichtert auf und hörte, wie auch Semir einen Laut der Erleichterung von sich ließ. Er sah auf die Uhr. Es waren fast vier Stunden vergangen. „Ich denke, ich werde jetzt zu Mikael fahren, damit ich da bin, wenn er wieder aufwacht.“
    „Ja, das ist wohl besser. Ich werde wohl zu Veikko müssen, ihm den Tot seiner Schwester erklären.“
    „Soll ich dich begleiten?“, schaltete sich Semir ein, dem nicht entgangen war, wie sich Sorge in den Gesichtszügen seines Freundes abzeichnete.
    Der finnische Kommissar schüttelte den Kopf. „Nein … aber du könntest für mich Kasper im Auge behalten.“
    Semir nickte. „Das werde ich machen.“

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    • 9. Oktober 2015 um 08:28
    • #37

    Als Antti in das Zimmer von Veikko kam, stand der junge Kollege am Fenster und blickte auf die Stadt. „Solltest du nicht im Bett sein?“ Der Schwarzhaarige drehte sich herum und sah ihn an. „Du siehst auch nicht gerade aus wie das blühende Leben“, kontert er dann und drehte sich wieder weg. „Was ist da draußen los? Den ganzen Nachmittag hört man nur Sirenen und irgendwelche Durchsagen.“
    Antti stellte sich neben den KTUler. „Es gab eine Bombendrohung. Wir konnten sie entschärfen“, antwortete ihm der Hauptkommissar, auch wenn entschärfen vielleicht nicht das richtig Wort war.
    Veikko sah ihn mit großen Augen an. „Eine Bombendrohung?“
    „Von den Dienern Gottes. Erik Blomling.“
    Dem Jüngeren entkam ein leises Lachen. „Du willst mich auf den Arm nehmen. Was hätten die davon? Das ergibt doch keinen Sinn.“
    „Sie war auf einer Veranstaltung versteckt, die das Miteinander der Religionen fördern wollte.“
    Veikko schluckte. „Ich verstehe“, sagte er leise. Er ging zurück zu seinem Bett und setzte sich darauf. „Enni … sie war dabei, nehme ich an. Deshalb bist du so komisch.“
    Antti setzte sich neben seinen Freund. „Ja. Nicht direkt, aber sie ist auch darin verwickelt.“
    „Was heißt nicht direkt?“
    Der Hauptkommissar atmete tief durch. „Veikko … es ist nicht leicht … ich wünschte, dass ich es dir ersparen könnte.“
    Veikko sah betroffen auf die Erde und seine Hände umklammerten die Bettkante. „Sie ist tot nicht wahr? Das ist es, was du mir sagen möchtest.“
    „Sie wurde erschossen.“
    „Erschossen“, wiederholte Veikko leise. „Enni wurde erschossen.“ Eine Träne fand ihren Weg nach draußen und lief seine Wange hinunter. Antti zog ihn sanft an sich. „Es tut mir leid, Veikko.“
    „Von wem? Wie ist es … passiert?“ Neue Tränen kamen und er begann zu weinen. „Wieso war sie so dumm … wieso musste sie ihm folgen?“ Er wischte sich die Tränen weg. „Wie ist es passiert? Warum wurde sie erschossen?“
    Antti sah in Veikkos Augen und versuchte etwas darin erkennen zu können. Irgendetwas, das ihm sagen würde, ob er es verkraften würde. Die ganze Wahrheit. „Sag schon!“, forderte der Schwarzhaarige.
    „Deine Schwester war in der Reha-Klinik. Sie hat Eva und Mikael bedroht.“
    „Das-das ergibt doch keinen Sinn … wieso sollte sie das tun? Wieso sollte sie dorthin fahren und ….“
    „Weil Erik Blomling es ihr gesagt hat“, unterbrach Antti seinen hektischen Kollegen. „Er wollte sich dadurch an Ben rächen und vielleicht auch an dir.“
    Antti legte seine Hände auf Veikkos Schultern. „Sie hat auf Eva geschossen, sie musste operiert werden und hat viel Blut verloren. Danach hat sie Mikael mitnehmen wollen, aber sie kam nur bis den Park der Klinik.“
    Veikko nickte mechanisch. „Hat Ben sie … war er es?“ Antti schüttelte den Kopf. „Nein. Er hatte Kasper dabei. Er hat sie erschossen, als sie Mikael töten wollte.“
    „Kasper“, nuschelte der Schwarzhaarige und drückte die Hände noch fester um die Bettkante. „Sie wollte Mikael töten …“
    „Kasper hatte keine andere Wahl. Ich hoffe, dass du das verstehst“, fühlte Antti vorsichtig nach.
    Veikko nickte, während gleichzeitig neue Tränen flossen. Sein Körper begann zu zittern und immer mehr Tränen verließen seine Augen. „Sie ist tot!“, schluchze er leise hervor.
    „Komm her.“ Antti zog ihn an seine Brust und streichelte sanft über den Rücken des jungen Technikers. „Es tut mir so leid Veikko … so leid“, sprach er leise.
    „Warum nur? Wieso … wieso konnte ich meine Familie nicht beschützen?“
    „Du hast keine Verantwortung für das alles Veikko. Sie wollten sich nicht retten lassen“, sprach Antti beruhigend auf den jungen Kollegen ein.
    „Ab-aber sie … sie ist meine kleine Schwester … ich musste sie doch … ich …“ Anttis Druck um Veikko wurde kräftiger. „Du konntest sie nicht beschützen. Niemand hätte das gekonnt.“


    *

    Semir und Kasper saßen bereits seit einer halben Stunde schweigend nebeneinander auf einer Bank vor dem Krankenhaus. „Ich habe noch nie einen Menschen erschossen“, brachte der Blonde schließlich mit zittriger Stimme hervor.
    „Manchmal, da haben wir keine Wahl. Sie hätte sonst Mikael getötet. Sie war gefährlich, hatte keinen klaren Verstand mehr“, versuchte Semir ihn zu beruhigen. Er erinnerte sich noch daran, wie er zum ersten Mal jemanden getötet hatte im Dienst. Ein fürchterliches Gefühl, welches er liebend gerne aus seinem Gedächtnis streichen würde.
    „Wie er geschaut hat. Du hast gesehen, dass er überhaupt nicht begriffen hat, was los ist. Und dann … er war so verzweifelt wegen Eva.“ Kasper schluckte und knetete seine Hände. „Ich konnte mich nicht rühren! Ich stand da, mit der Waffe in der Hand, und habe gesehen, wie er nach Luft schnappt, verzweifelt versuchte aufzustehen, um zu Eva zu kommen.“
    „Du hattest einen Schock. Es ist normal, dass man nicht so reagiert, wie man es sich erhofft.“
    Kasper sah ihn an. „Ist das so?“
    Semir legte seine Hand auf die Schulter des jungen Kommissars. „Ja, so ist das. Es wird nicht die letzte Situation sein, in der du eine schwere Entscheidung treffen musst, aber nach all dem, was Antti über dich erzählt hat, glaube ich, dass du es meistern kannst.“
    „Er hat mit dir über mich geredet?“
    Der Deutschtürke lächelte. „Er hat dich gelobt.“
    „Jetzt fühle ich mich wie ein kleiner Schuljunge, über den die Lehrer im Lehrerzimmer reden.“
    „Aber immerhin ein Einserschüler“, fügte Semir mit einem Augenzwinkern hinzu.
    Kasper stand auf und atmete einige Male tief durch. „Ich denke, ich werde jetzt nach Hause fahren. Ich muss für ein paar Stunden alleine sein.“
    „Natürlich, es ist verständlich.“
    Der Blonde sah auf das Krankenhaus. „Ich hoffe nur, dass Veikko mir verzeihen kann. Ich will ihn nicht gerne als Freund verlieren.“
    „Ich bin mir sicher, dass er diese Situation, in der du warst, verstehen wird. Er ist doch ein schlauer Bursche“, machte ihm Semir Mut. „Soll ich dich fahren?“
    Kasper schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich nehme ein Taxi. Du brauchst dir keine Umstände machen. Zumal wir ohnehin kein Auto hier haben. Ben ist mit meinem weg und ihr habt eures in die Luft gejagt.“
    Das entlockte Semir ein kleines Lachen. „Ja, da hast du natürlich Recht.“
    Der Blonde hob sanft zum Abschied die Hand, steckte sie dann in die Hosentaschen und machte sich auf in Richtung Haupteingang, um ein Taxi zu rufen.

    Nur kurz nachdem Kasper gegangen war, setzte sich eine andere Person neben ihm auf die Bank. „Er hat viel geweint, aber ich glaube, dass er es verstanden hat.“ Semir brauchte den Mann neben sich nicht ansehen, er wusste schon aufgrund der Stimmlage, dass es Antti war.
    „Es ist nicht gerade leicht. Für alle nicht“, antwortete Semir seinem Freund.
    „Und wir? Wir zwei müssen wieder einmal unsere jungen Kollegen zusammenkitten, was?“ Es folgte ein sarkastisches Lachen, gefolgt von einem leichten Stöhnen. Dann versenkte Antti den Kopf in seinen Händen.
    „Da hast mehr Arbeit als ich, nicht? Ein Kollege gegen drei.“
    „Eigentlich ist nur Kasper mein Partner, weißt du.“
    „Du weißt, wie ich das meine“, konterte Semir.
    „Ja, sicher.“ Antti löste den Kopf wieder aus seinen Händen und sah ihn an. „Ich denke Kasper und Veikko schaffen das. Sie werden mit dieser Sache umgehen können, ich mache mir eigentlich vor allem Sorgen um Mikael.“
    „Eva geht es aber doch gut.“
    „Diese Sache mit Joshua Lehto. Er hat sie verdrängt. Alles was ihn daran erinnert staut sich auf und … Semir, irgendwann, dann wird es ihn verschlingen. Ich weiß es und doch kann ich nichts dagegen unternehmen. Ich bin für ihn da, aber was hilft es, wenn er mich nicht an sich heranlässt?“
    Der Kommissar von der Autobahnpolizei nickte und lehnte sich zurück. Er betrachtete den Nachthimmel über ihnen. „Wie labil ist er?“
    „Alles kann die Lawine ins Rollen bringen“, kam es von seiner Seite. So etwas hatte Semir schon vermutet. „Und ich habe keine Ahnung, wie es jetzt ist, durch diese Verletzung.“
    Er legt seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Wir werden das zu verhindern wissen, Antti. Keine Sorge.“

    Einmal editiert, zuletzt von harukaflower (9. Oktober 2015 um 19:58)

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    • 10. Oktober 2015 um 10:06
    • #38

    Ben zog einen Stuhl neben das Bett. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander und versuchte, es sich bequem zu machen. Sein Blick war auf Mikael gerichtet, der durch die Medikamente, die ihm die Ärztin gespritzt hatte, immer noch schlief. Erst jetzt stellte sich in seinem Inneren Erleichterung ein. Eva hatte es geschafft und würde wieder in Ordnung kommen. Andererseits hatten sie keine andere Wahl gehabt, als Enni Lindström zu erschießen. Ben wünschte sich, dass er sie irgendwie auf ihre Seite hätte ziehen können, aber sie war wohl bereits zu verblendet gewesen, um überhaupt zu verstehen. Die Anstrengung der letzten Stunden machte sich langsam bemerkbar und am liebsten wäre er in einen tiefen Schlaf gesunken. Er zwang sich jedoch die Augen offen zu halten, damit er bemerkte, wenn Mikael aufwachte. Er betrachtete seinen Freund. Wie würde er die Sache wegstecken? Wusste er überhaupt noch, was passiert war? Immerhin war er in den letzten Tagen doch schrecklich durcheinander gewesen. Vielleicht hatte er es ganz einfach vergessen? Konnte man so etwas so einfach vergessen? Vermutlich nicht.

    Er merkte, wie sich Mikael im Bett bewegte und setzte sich in seinem Stuhl gerade auf. Kurz darauf öffneten sich die Augen des Schwarzhaarigen und er sah ihn an. „Ben“, nuschelte er leise.
    „Erinnerst du dich, was passiert ist?“, fragte er vorsichtig nach. Mikael blieb lange stumm, ehe er nickte. „Da war diese Frau … sie hat … Eva!“ Die Atmung beschleunigte sich und Ben griff nach dessen rechten Hand. „Es geht ihr gut, Mikael. Sie ist im Krankenhaus.“
    „Sie lebt?“
    „Ja. Morgen, dann können wir sie besuchen, ja? Ihr Beide, ihr braucht jetzt erst einmal Ruhe.“
    „Wer war diese Frau?“
    Ben überlegte, was er Mikael sagen sollte. Sie hatten diese Sache vor ihm abgeschirmt und er wollte alles nicht noch schlimmer machen, als es ohnehin schon für Mikael war. Und anscheinend schien er sich an das Gespräch von Kasper und Enni nicht mehr zu erinnern. Erinnerte er sich überhaupt an das was nach dem Schuss auf Eva passiert war? „Eine Frau, die sich an mir rächen wollte“, antwortete er nach einer Weile auf Mikaels Frage.
    Ben spürte, wie Mikael seine Hand fester drückte. „Ich will zu Eva.“
    „Morgen, Kumpel. Morgen Vormittag fahren wir zu ihr.“
    Der deutsche Kommissar betrachtete Mikael. Er schien immer noch erschöpft. Seine Augen waren klein und schlossen sich immer wieder für wenige Sekunden. „Wie ist es. Weißt du was danach passiert ist? Im Park?“
    Mikaels blauen Augen sahen ihn fragend an und da wurde ihm klar, dass er sich nur noch an das schlimmste der ganzen Sache erinnern konnte. Nur der Augenblick, als Eva angeschossen wurde, hatte sich in sein Gehirn gebrannt.
    „Es ist okay, du solltest dich schlafen legen“, sagte er sanft. Er wollte seine Hand von Mikaels lösen, doch er zog sie zurück. „Da war diese Frau, sie hat … Eva hat geblutet!“, versuchte ihm sein Freund verzweifelt klar zu machen.
    „Es ist alles gut Mikael“, ließ ihn Ben mit ruhiger und geduldiger Stimme wissen. „Ihr geht es gut.“
    „Überall war Blut.“
    „Keine Angst. Sie ist in Ordnung.“

    Mikaels Augen schlossen sich abermals und Ben spürte, wie der Druck in seiner Hand geringer wurde. Kurz darauf waren nur noch leise Schlafgeräusche zu vernehmen. Er löste Mikaels Finger sachte von den seinen und zog seine Hand dann zurück auf seinen Schoß. Er blieb noch ein paar Minuten sitzen, ehe er dann aufstand und sich an das Fenster stellte. Die Nacht war ruhig und das einzige was hier draußen einige Kilometer außerhalb der Stadt zu hören war, waren die Regentropfen, die die Fensterscheibe schlugen. Er stelle sich vor, wie es wohl gerade in der Innenstadt aussah. Vermutlich stand eine große Pressekonferenz an. Ob Evas Vater da wohl auftauchen würde? Im Krankenhaus hatte es immerhin so ausgesehen, als hätte Samuel Järvinen seine Priorität gesetzt. Er hatte vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben das Private vor das Berufliche gestellt. „Versau diese Chance nicht, Mikael, hörst du?“, sagte er leise in das Zimmer. „Du hast ihn von dir überzeugt, er hat dich in seine Familie aufgenommen.“

    Familie. Etwas, was Veikko nun wohl nicht mehr hatte. Seine Mutter war erschossen worden, nun auch noch seine Schwester. Der Vater saß im Gefängnis und würde sicherlich für die Sache belangt werden. Er fragte sich, wie Veikko die Geschehnisse des Tages aufnehmen würde. Er war anders als Mikael. Fröhlicher und mit einer ganz anderen Einstellung zum Leben. Sicherlich würde er da nicht so maßlos abstürzen, oder doch? Ben versuchte sich vorzustellen, wie er persönlich so etwas verarbeiten würde, aber so was konnte man sich wohl einfach nicht vorstellen. Nein, er konnte sich nicht vorstellen seinen Vater und seine Schwester zu verlieren. Auch wenn es mit seinem alten Herrn nicht immer leicht war, so war er doch Teil von ihm.

    „Nein … Nein!“ Ben richtete seinen Blick sofort auf das Bett. Mikaels rechte Hand krallte sich in die Bettdecke und sein Atem ging schnell und abgehakt. „Nein, Josh … nein, bitte nicht.“
    „Mikael!“ Als keine Reaktion kam, stürmte Ben zum Bett und griff nach der Hand seines Freundes. „Alles ist gut. Alles ist in Ordnung“, wiederholte er mit ruhiger Stimme. „Es ist nur ein Traum.“ Mikaels Atem ging wieder ruhiger und der Griff der Hand lockerte sich. Ben setzte sich wieder auf den Stuhl. „Ich werde hierbleiben und aufpassen. Alles ist gut.“ Er versuchte es sich wieder so bequem wie möglich zu machen. Er hatte schon fast vergessen, dass Mikael dieser Traum in den letzten Jahren verfolgt hatte. Vielleicht war die Sache mit Eva ja Auslöser dafür, dass er ihn heute Nacht gehabt hatte. „Du wirst niemanden mehr verlieren“, sagte Ben mit bestimmter Stimme. „Ich werde das ganz einfach nicht zulassen!“

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    • 11. Oktober 2015 um 09:13
    • #39

    Kasper stand lange unsicher vor der Tür des Krankenzimmers, ehe er schließlich reintrat. Sofort als die Tür sich öffnete, schien Eva in bemerkt zu haben. Sie lächelt ihn müde an. „Kasper“, murmelte sie leise. „Ich weiß. Es ist noch früh … und eigentlich, naja ich hatte Glück, dass ich eine der Schwestern aus der Schule kennen … sie hat mich reingeschmuggelt und …“
    „Hast du überhaupt geschlafen?“, unterbrach sie sein hektisches Gestammel.
    Er schüttelte den Kopf. Nein, er hatte nicht geschlafen. Es war die beschissenste Nacht seit langem gewesen und er hatte keine Ruhe finden können. Immer und immer wieder waren seine Gedanken zum gestrigen Tag abgeschweift. Er setzte sich auf dem Stuhl, der an dem Bett stand. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“
    Sie lächelte. „Ich sollte dir danken. Mein Vater hat mir erzählt, was du getan hast.“ Er wich ihren Blick aus und sah aus dem Fenster. „Was hätte ich sonst tun sollen? Es ist mein Job.“
    „Kasper. Wegen damals … ich …“
    „Ich sagte bereits, das du dich nicht entschuldigen musst“, fuhr er dazwischen.
    „Hör zu, ich weiß, wie du dich gefühlt haben musst, als du erfahren hast, dass ich und Mikael miteinander ausgehen.“
    Er löste den Blick vom Fenster. „Es war schon lange aus, bevor du mit ihm zusammen warst.“
    „Und doch hast du ihn schon vorher als den großen Konkurrenten gesehen“, stellte sie fest.
    Kasper seufzte. „Wir sind kein Paar mehr, müssen wir wirklich weiter darüber streiten?“
    „Ich streite nicht. Ich sage nur, wie es ist.“
    „Ja natürlich habe ich das. Er stand doch immer zwischen uns. Damals auf der Polizeischule, in unserer Beziehung. Er hat dich nicht einmal bemerkt und du, du hast trotzdem nicht aufgehört ihn anzuhimmeln wie ein kleines Mädchen.“ Der junge Kommissar presste die Hände um die Stuhllehne. Er schluckte schwer. „Er war immer die Nummer eins!“
    „Du warst also niemals böse?“ Er wusste worauf sie anspielte. Die Minuten, als er panisch über ihr gekniet hatte, als sie in der Reha-Klinik auf Rettung gewartet hatten.
    „Vielleicht habe ich gelogen?“
    „Kasper, es tut mir wirklich leid. Das mit uns, es hätte niemals funktioniert. Das wussten wir Beide.“
    „Du hast nur einen Zettel hinterlassen. Einen Zettel, nichts weiter.“ Er versuchte die Wut darüber nicht herausklingen zu lassen, doch jetzt, wo er an diesen Tag zurückdachte, kam sie wieder hoch.
    „Ja. Es war nicht fair. Du hast Recht. Ich war feige, als ich damals gegangen bin.“ Sie setzte sich leicht in dem Bett auf. „Ich hätte sofort mit dir reden sollen, nicht erst Wochen später. Du hattest so viel Ehrlichkeit verdient.“
    „Hmm.“
    „Sag, wieso hast du Mikaels Job angenommen?“ Er sah in ihre Augen. Was wollte sie hören? Dass er glaubte, dass er einen viel besseren Job machte, als Mikael Häkkinen? Dass er sich in ihre Nähe schleichen wollte. Er wusste, dass sie das glaubte, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach.
    „Ich hatte gehört, dass Rautianen Leuten eine Chance gibt“, antwortete er.
    „Wozu brauchst du Chancen Mr. Regelbefolger?“ Sie glaubte es also tatsächlich, dass er auf so dumme Ideen kommen würde.
    Er lachte leise auf. „Ich habe die Fassung in einem Verhör verloren. Ich habe den Verdächtigen geschlagen … mein Chef hat sich niemals schützend vor mich gestellt, ich hatte ein Disziplinarverfahren. Wie gesagt, Rautianen war meine Chance.“
    „Was wirst du tun, wenn Mikael zurückkommt?“
    „Glaubst du das wirklich?“ Kaspers Blick fiel wieder aus dem Fenster. „Er wird nicht zurückkommen. Sein Kopf war Brei, der wird niemals wieder logisch einen Fall bearbeiten können. Der hat nicht einmal begriffen, was da passiert ist mit ihm!“
    „So denkst du also?“ Evas Stimme hatte einen harten Unterton angenommen, den man nur selten bei ihr vernahm.
    Er sah sie wieder an. „Ich würde lügen, wenn ich anderes behaupten würde.“
    Sie nickte. „Du solltest versuchen, ihn kennenzulernen. Ich denke, dass ihr gute Freunde werden könnt.“
    Kasper sah in ihre Augen. Meinte sich das etwa ernst? Er und Mikael waren wie Tag und Nacht. Sie verband rein überhaupt nichts. „Ihr Zwei seit Getriebene von eurer Vergangenheit, die ihr nicht loslassen könnt“, erzählte sie weiter. „Wie oft träumst du noch von deiner Schwester?“
    „Das spielt doch keine Rolle. Ich will mit diesem Kerl nicht befreundet sein. Er hat etwas an sich, da ziehen sich meine Nackenhaare nach oben.“
    „Was hat er an sich?“, hakte sie nach.
    „Eva. Nun hör doch auf. Ich bin hergekommen, weil ich sehen wollte, wie es dir geht und nun benehmen wir uns wie ein altes zerstrittenes Ehepaar.“
    „Ich will es nur wissen.“
    Er stöhnte auf, stand auf und stellte sich mit dem Rücken zu ihr ans Fenster. Was sollte sie ihr sagen? Dass er nicht glaubte, dass der Sohn von Andreas Hansen kein Dreck am Stecken hatte? Dass er sich sicher war, dass er etwas vor ihnen allen verbarg.
    „Kasper. Nun sag schon.“
    „Man weiß nicht woran man ist. Manchmal denke ich, dass alles an ihm falsch ist. Er lässt dich nicht hinter seine Fassade sehen. Er denkt, dass er unantastbar ist.“
    Eva lachte leise auf und er sah sich irritiert um. „Du findest das also lustig?“
    „Schon … irgendwie.“
    Er verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper. „Und warum?“
    „Er sagt genau das Gleiche über dich.“
    Diese Äußerung verschlug ihm für einen Augenblick die Sprache. Was bitte war an ihm falsch? Er war zu zwischenmenschlichen Handlungen fähig, im Gegensatz zu Häkkinen. „Das sagst du jetzt nur so.“
    „Geh hin und frag ihn.“
    „Ja sicher, in seinem Zustand.“
    Wieder lachte Eva. „Vielleicht bist gerade du das, was er jetzt braucht. Jemand der ihn nicht wie eine teure Porzellanpuppe behandelt.“
    Es klopfte an der Tür und wenig später, steckte eine Schwester den Kopf rein. „Kasper. Es wird Zeit, komm“, sagte sie leise und er nickte. Er sah Eva an. „Ich sollte jetzt gehen. Ich wünsche dir alles Gute, komm schnell wieder auf die Beine.“
    „Das hört sich so an, als wäre das dein einziger Besuch.“
    „Es ist mein einziger Besuch“, antwortete er leise und ohne Stimme und trat dann aus dem Zimmer.

    Als er das Zimmer verlassen hatte, dankte er noch einmal seiner alten Klassenkameradin und verließ dann die Intensivstation und rannte schon fast mit gesenkten Kopf in Richtung Haupteingang. „Vor was rennst du davon?“ Erschrocken hielt er inne. Nein, er war nicht bereit, sich auch noch jemand anderem zu stellen. Das mit Eva hatte ihm bei weitem gereicht. Kurz darauf spürte er eine Hand auf seiner Schulter. „Himmel, wenn ich so rennen muss, ist das sicherlich nicht förderlich für mein Herz!“ Kasper atmete tief durch und drehte sich herum. „Veikko. Es ist gerade erst halb acht. Was suchst du hier?“
    „Weiß nicht, dachte ich schaue bei Eva vorbei. Aber dann dachte ich, dass ich vielleicht warte, bis sie auf der Normalstation ist.“
    „Ja. Das ist vielleicht nicht verkehrt.“ Kasper hatte seinen Blick auf den Boden gerichtet. Er konnte unmöglich Veikko in die Augen blicken, nachdem er ihm vor wenigen Stunden seine Schwester genommen hatte.
    „Willst du vielleicht mit in den Park?“, fragte ihn Veikko.
    „Ich denke nicht, dass ich das sollte.“

    Veikko beachtete seine Einwände nicht und umgriff seinen Unterarm und zog ihn einfach mit. Irgendwann drückte er ihn auf eine Bank. Es herrschte minutenlang Stille und Kasper fühlte sich schon fast erdrückt. Er wusste nicht, was er tun sollte, was er sagen sollte. Da war nur dieses Rauschen in seinem Kopf. „Ich Veikko … ich wollte das nicht, du musst mir glauben … könnte ich das ungeschehen machen, ich würde es tun.“
    „Und dann? Wenn du es tun würdest, was dann? Ich sehe es so, du hast meinen besten Freund gerettet. Würdest du die Zeit zurückdrehen und nicht auf … nicht auf Enni schießen, dann würde er sterben, oder nicht?“ Kasper hörte, wie seinem Freund die Stimme versagte und sah zur Seite. Veikko hatte begonnen zu weinen. „So oder so, hätte ich etwas verloren, was ich nicht verlieren wollte!“
    „Veikko … ich“, sagte er unsicher. Der KTUler schüttelte den Kopf. „Bitte mach dir keine Vorwürfe. Ich will nicht, dass ich dich deshalb als Freund verliere.“
    „Siehst du das so? Ich meine, dass ich dein Freund bin – trotz allem.“
    Veikko drückte ihm seine Hand auf die Schulter. „Natürlich du Dummkopf!“
    Sie verfielen wieder in Schweigen und beobachteten, wie die Sonne sich am Horizont zeigte und immer höher stieg.

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  • harukaflower
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    • 12. Oktober 2015 um 08:31
    • #40

    Ben erwachte mit heftigen Rückenschmerzen, da er die Nacht auf dem unbequemen Stuhl verbracht hatte. Als er die Augen öffnete, lag Mikael bereits wach in seinem Bett. „Du hättest mich wecken können“, murmelte der deutsche Kommissar verschlafen.
    „Hätte ich“, antwortete ihm der Schwarzhaarige. „Aber du hast ausgesehen, als könntest du noch etwas Schlaf gebrauchen, auch wenn die Position sicher nicht besonders bequem war.“
    „Das kannst du wohl laut sagen.“
    „Du weißt, dass es ein extra Haus für die Angehörigen gibt.“
    Ben sah Mikael lange an und versuchte die Mimik seines Freundes zu deuten. Hatte er vergessen, was passiert war? Oder war das hier einfach der störrische Mikael, den er kannte. Der Freund, der es nicht mochte, wenn er um ihn hockte, wie eine überfürsorgliche Glucke?
    Ben erhob sich. Er reckte sich und sah dann auf die Uhr im Zimmer. Bald war es 7:50 Uhr. Sein Blick fiel wieder auf Mikael. „Das du hier bist … ich nehme an, das heißt, dass die Sache mit Eva kein Traum war, oder?“
    „Nein. Es ist kein Traum, aber es geht ihr wirklich gut. Du musst dir keine Gedanken machen. Wir werden sie heute Morgen besuchen. Dann siehst du selbst, dass es ihr gut geht.“
    Mikael nickte und sah dann aus dem Fenster. „Ich fühle mich nutzlos. Ich habe ihr nicht helfen können. Ich saß in diesem Rollstuhl und musste zusehen, wie die Frau Eva angeschossen hat.“
    „Das wird wieder werden. Bald wirst du sie wieder beschützen Mikael, ganz sicher.“

    „Wie ist es damals passiert?“ Mikael richtete sich in seinem Bett auf. Seine blauen Augen musterten ihn kritisch und Ben fühlte sich um einige Monate zurückgesetzt. Damals, da war die Person vor ihm fähig gewesen, jede Lüge von ihm zu outen. Er fühlte sich unwohl, obwohl ihm klar war, dass Mikael ihn heute nicht mehr bei einer Lüge ertappen könnte, oder zumindest noch nicht.
    „Du meinst bei der Festnahme? Das habe ich dir doch erzählt.“
    „Was war mein Fehler? Was habe ich falsch gemacht?“, hakte Mikael nach.
    Ben setzte sich wieder auf den Stuhl und sah seinen Freund an. „Ich weiß es nicht, du hast einfach einen Augenblick nicht aufgepasst, als du ihm die Handschellen anlegen wolltest. Er hat dich überrascht, du konntest daran nichts ändern.“
    Mikael nickte. „War es tief?“
    „Nun hör auf damit. Es ist doch überhaupt nicht mehr von Bedeutung, das alles.“
    „Für mich schon“, widersprach ihm Mikael störrisch. „Weißt du, wie das ist? Wenn du dich an all das nicht mehr erinnern kannst? Das Letzte was ich weiß, ist das da die wage Idee war, das dieser Westhof der Täter ist.“
    Ben lehnte sich etwas zurück. „Ja. Es war tief. Du hattest keine Chance Halt zu finden, es war zu steil.“
    „Hm.“ Mikael sah wieder aus dem Fenster.
    „Aber du lebst! Du bist hier und du wirst auch wieder vollkommen in Ordnung kommen.“ Ben legte seine Hand auf Mikaels Schulterblatt und drückte sanft zu. „Du wirst sehen, in ein paar Wochen bist du hier raus und dann wirst du sicherlich auch bald wieder deinem Job nachgehen können.“
    „Hm.“
    „Denk nicht so viel nach. Es bringt dir nichts, wenn du immer in die Vergangenheit schaust. Es geht doch um die Zukunft! Ich bin mir sicher, dass du stark genug bist.“
    Mikael nickte gedankenverloren. „Es war Veikkos Schwester. Im Park, meine ich“, sagte er dann und Ben blieb vor Überraschung für einen Augenblick die Stimme weg. „Du erinnerst dich daran?“
    „Etwas.“
    „Ja. Es war seine Schwester“, bestätigte Ben.
    Mikaels blauen Augen durchbohrten ihn. „Vielleicht ist es jetzt Zeit für die Wahrheit.“
    Ben lehnte sich etwas vor und platzierte die Hände auf den Knien. „Hör mal, Mikael. Mein Einsatz in den letzten Wochen, der war in dieser Sekte.“
    „Den Dienern Gottes?“
    „Ja. Ich sollte herausfinden, ob die etwas Größeres planen. Vor ein paar Tagen, da haben die Veikko entführt.“ Der Ältere sah, wie sich Mikaels Blick veränderte. Sorge und Panik spiegelte sich darin ab. „Es geht ihm gut“, fügte er schnell an. „Er muss ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, aber es geht ihm gut. Man konnte uns finden, aber der Anführer ist mit einigen Leuten entkommen. Einen Tag später gab es dann die Anschlagsserie.“
    „Ich verstehe“, flüsterte Mikael und presste ein aufgesetztes Lächeln heraus. Er war also enttäuscht. So reagierte er immer, wenn er enttäuscht war. „Antti wollte dich nur beschützen. Er wollte, dass du dich nur darauf konzentrierst wieder gesund zu werden.“
    „Ich wäre ohnehin keine Hilfe gewesen.“
    Bens Augen weiteten sich. „Was erzählst du denn da?“
    Mikael tippte mit der rechten Hand auf seine Brust. „Ich bin ein Wrack! Sie mich an. Ich … ich …“
    Ben stand auf. „Du wirst nicht aufgeben, hörst du! Nicht heute und auch nicht morgen. Du wirst kämpfen und hart arbeiten. Und dann wird Antti auch verstehen, dass er dich vor nichts beschützen muss.“

    Der Schwarzhaarige blieb stumm und er seufzte. Es war wohl noch ein hartes Stück Arbeit, was Mikael auch seelisch vor sich hatte. Und in diesem Fall beruhigte es ihn überhaupt nicht, dass er von Depressionen während der Rehaphase auch in so vielen Selbsthilfegruppen für Angehörige gelesen hatte. „Wie ist es, ich hole eine Schwester. Ihr macht euch fertig und dann fahren wir zu Eva?“
    „Können wir machen“, kam es monoton aus dem Bett und Ben stand auf, um jemanden zu holen. Er bezweifelte, dass er das alleine schaffen würde.

    Knapp zwei Stunden später, hatten sie es ins Krankenhaus geschafft. Eva war gerade auf die Normalstation umgezogen, was Ben mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Das würde Mikael sicherlich nicht ganz so zusetzen, wie die Intensivstation. Er hatte den Rollstuhl in das Zimmer geschoben und so nahe wie möglich ans Bett gestellt. Eva lächelte und streckte ihre Hand aus. Sie griff nach der von Mikael und hielt sie fest umschlungen. „Ich bin froh, dass es dir gut geht“, sagte sie und drückte seine Hand sanft. „Ich fürchte ich kann ein paar Tage nicht kommen, aber du musst weiterhin deine Übungen machen. Ja?“ Sie sah zu Ben. „Ich werde dafür sorgen“, versprach er und legte seine Hand auf Mikaels Schulter.
    „Ich liebe dich“, murmelte der Schwarzhaarige undeutlich und Eva spürte, wie er ihre Hand drückte. „Ich will dich nicht verlieren.“
    „Das wirst du nicht, ich werde dich niemals alleine lassen!“
    Seine Hand begann zu zittern. „Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte. Ich … ich werde nicht zulassen, dass dir jemals wieder etwas passiert!“
    Eva lächelte. „Dann war es dieses Mal eben ich, der dich beschützt hat. Du kannst nicht immer der Retter sein.“

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