Semir sah auf die Akte, die in Antti Heikkinens Hand leicht auf und ab schwang. „Du weißt, dass du das nicht tun musst“, sagte er. Heikkinen presste ein müdes Lächeln heraus. „Nein. Ich muss es tun, ob ich es will, das ist wohl eher die Frage.“ Der Blick des Größeren fiel in den Verhörraum, wo Matti Lindström saß. Er atmete tief durch und trat dann in den kleinen stickigen Raum.
Matti Lindströms Kopf hob sich und seine von Hass durchfluteten Augen sahen ihn an. „Sie haben meine Frau und meine Tochter auf dem Gewissen“, zischte er.
„Nein, das haben Sie.“ Er setzte sich vor dem Mann hin und schlug die Mappe auf. „Waren Sie in die Pläne von Erik Blomling eingeweiht?“
„Nein.“
Antti legte ein Handy auf den Tisch. „Für das Band. Herr Lindström wird Beweismittel 5 gezeigt. Ein Smartphone“, spulte er runter. Lindström griff nicht nach dem Handy, sondern verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie wissen, was wir darauf gefunden haben?“, fragte Antti.
Sein Gegenüber antwortete nicht. „Herr Lindström. Es gibt einen detaillierten SMS-Verkehr mit Blomling und einen Plan der Finlandia-Halle.“
„Ich rede nicht mit Mördern!“
„Sie reden also nicht mit Mördern?“ Antti reichte ihm ein Foto, nachdem er das Beweismittel in dem Tonband vermerkt hatte. „Diese junge Frau wurde von ihrer Tochter niedergeschossen, ehe Sie auch meinen Kollegen Mikael Häkkinen erschießen wollte. Sie hat nur mit Glück überlebt!“
Lindströms Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. „Ich werde nicht reden. Nicht mit Ihnen!“
„Sie haben keine andere Wahl. Ihr Sohn will sie nicht mehr sehen, Herr Lindström. Sie haben ihn verloren, ein für alle Mal.“
Diesen Kommentar weckte zumindest etwas Menschlichkeit in Matti Lindström. „Er will mich nicht sehen?“, presste er leise heraus.
„Haben Sie das wirklich geglaubt, nach alldem was sie ihm angetan haben? Ist Ihnen bewusst, dass er an Rhythmusstörungen gestorben wäre? Wieso haben Sie diesen unmenschliche Ritual an Ihrem eigenen Sohn durchgeführt?“
„Ich wollte ihn nur retten“, wehrte sich der Befragte.
„Wovor? Vor dem was er ist? Ein glücklicher Mensch? Ein Freund, auf den man sich verlassen kann. Er ist voller Liebe, voller Freude und Sie, Sie denken, dass Sie ihm das nehmen mussten?“
„Er war besessen!“
„Das habe ich beim besten Willen nicht sehen können, Herr Lindström.“
„Sie haben von so etwas auch überhaupt keine Ahnung. Sie sind kein reiner Mensch! Sie wissen doch überhaupt nicht, wie es um diese Welt steht!“
Antti atmete einige Male tief durch. Er musste es auf anderem Wege versuchen. „Sie wollten also nur die Welt beschützen?“
„Natürlich. Ich wollte nie etwas Böses!“
„Aber Sie geben zu, dass Sie Ihren Sohn gegen seinen Willen mitgenommen haben und auch gegen seinen Willen diese Spritzen gegeben haben.“
„Ja. Er hat ja selbst nicht gesehen, wie es um ihn steht.“
„Und die Bombe? Weshalb haben Sie die gemeinsam mit Erik Blomling legen wollen? Es kann ja keine böse Absicht dahinter gesteckt haben. Sie wollen ja die Welt nur vor dem Bösen bewahren.“
„Es kann nicht sein, dass sich falsche Religionen mit der reinen Christlichen mischen. Wir wollten nur wachrütteln. Es gibt nur einen wahren Glauben!“
Antti nickte. „Sie waren also an den Planungen beteiligt?“
„Ja, sicher.“
„Haben Sie noch weitere Befreiungsaktionen der wahren Religion geplant?“
„Nein. Es sollte der Anfang von etwas Großem werden.“
„War Ihnen bewusst, dass dabei Menschen sterben könnten?“
„Es war eine Bombe, wie sollte es mir nicht bewusst gewesen sein?“, kam sofort die Gegenfrage. Antti machte sich eine Notiz in die Akte und stand dann auf. „Das sollte es für’s Erste gewesen sein.“
„Bitte lassen Sie mich mit meinem Sohn reden!“, ertönte hinter ihm Lindströms Stimme.
„Es tut mir leid. Er will Sie nicht sprechen.“
Antti zog die Tür auf und trat hinaus, wo Semir schon auf ihn wartete. „Und hat er gestanden?“
„Ja. Im Großen, schon … ja.“
„Aber? Ich sehe doch, dass da noch mehr ist.“
Der Finne lächelte gezwungen. „Nein, es ist nur. Es fällt schwer den Vater von jemanden zu befragen, den man so gut kennt.“ Antti sah in den Befragungsraum. „Es ist doch komisch, wie aus so einem Mann etwas wie Veikko entstehen kann. Ich meine, sieh dir Mikael an. Er wird von seiner Familie verfolgt, sie lässt ihn nicht los, obwohl er doch schon lange keinen Kontakt hat und Veikko? Dem merkst du das nicht an.“
„Er steht zu seiner Familie, deshalb“, mutmaßte Semir. „Er versucht es nicht auszuradieren. Er steht dazu, dass diese Menschen ein Teil von ihm sind und ihm auf gewisse Weise auch wichtig.“
„Das wird es wohl sein“, murmelte Antti gedankenverloren und löste dann den Blick von Matti Lindström.
Sie verließen den Vorraum und fuhren anschließend hoch in die Büros der Mordkommission. Zum ersten Mal hatte Semir Zeit sich genauer umzusehen in dem kleinen Raum, den er bisher nur für wenige Minuten betreten hatte, als sie mit Kasper über Veikko gesprochen hatten. Die Tische standen etwas voneinander entfernt und wirkten beide sehr aufgeräumt. An der Wand hing ein Bild, auf welchem Antti gemeinsam mit Veikko und Mikael sowie ein paar anderen Kollegen abgebildet war, der er aber nicht kannte. Ansonsten hielt man sich mit Dekorationen zurück. Es stand noch eine Pflanze auf der Heizung, ansonsten aber Nichts. Semir sah auf den Schreibtisch, der unberührt schien. „Ist Kasper heute nicht hier?“
„Er hat angerufen und sich freigenommen. Vielleicht ist es gut, vielleicht nicht. Ich kenne den Jungen nicht sehr gut, um beurteilen zu können, ob er gerade in seiner Schuld versinkt.“
Semir nickte. „Lebt er alleine?“
Antti hatte sich inzwischen hingesetzt und bettete die Beine auf seinen Schreibtisch. „Er hat keine Freundin soviel ich weiß. Lebt in einem kleinen Haus auf dem Grundstück seiner Eltern.“
„Er hat ein Haus, für sich ganz alleine?“
Der Finne lächelte. „Es ist kompliziert und hat mir bösen Gerüchten des Präsidiums zu tun.“
Der deutsche Kommissar zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Klatsch und Tratsch also? Ich dachte darauf legst du keinen Wert?“
Antti lachte laut. „Auch ich habe mal schwache Momente.“
„Es hat mit Eva zu tun, oder? Es hat sich damals so angehört, als hätte sie eine Beziehung mit Kasper gehabt.“
Antti gab sich geschlagen. Er verschränkte die Arme hinter den Kopf und lehnte sich in die Lehne seins Stuhles. „Ja du hast Recht. Sie hatten gemeinsam diesen Haus gebaut, große Pläne gehabt und dann, dann ist sie gegangen.“
„Wegen Mikael?“
„Nein. Es war in der Zeit, wo Mikael von der Internen durch den Fleischwolf gedreht wurde.“
„Also wegen Mikael“, wiederholte Semir noch einmal.
„Wie? Ich sagte doch, dass …“ Antti verstummte, als ihm ein kleines Detail bewusst wurde. Eva hatte bei der Internen gearbeitet, als sie noch im Polizeidienst war. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Na hoffentlich verwandelt sich die Mordkommission nicht noch in eine Daily-Soap!“