Semir hatte es sich nicht so schwierig vorgestellt. Was immer bei den anderen Skifahrern-auch bei Ben-so leicht aussah, bedeutete für ihn höchste Konzentration und Kraftanstrengung. Mehr als einmal fiel er hin, immer wieder wurde er ziemlich schnell, obwohl er das mit dem Schneepflug probierte, wie sie es im Skikurs gelernt hatten und einmal kam er gerade noch so vor einem Abgrund zu stehen, indem er sich auf die Seite in den Schnee schmiss. Er würde mit Sicherheit mehr als einen blauen Fleck am Po und an den Hüften haben, wenn er unten ankam, aber immerhin kam er voran-getrieben von der unsäglichen Angst um seinen Freund. Er würde es sich nie verzeihen, wenn der sterben würde, weil es zu lange gedauert hatte und so fuhr er unverdrossen weiter unter höchster Konzentration, so als wenn er mit 200 über die Autobahn düsen würde-aber das hätte er ehrlich gesagt wesentlich besser in Griff, als dieses Himmelfahrtskommando. Eines schwor er sich-das wäre das letzte Mal in seinem Leben, dass er auf so blöden Skiern stand-Winterurlaub in allen Ehren, aber er fand da nichts dran und konnte Sarah und Ben, die elegant über die Piste schwangen da nicht verstehen. Aber vermutlich musste man Skifahren wirklich lernen, solange man jung war, dann machte es Spaß! Dabei war die Schneeschuhwanderung zunächst schön gewesen, aber mit der Lawine war plötzlich alles anders! Die Gefahren im Hochgebirge waren nicht zu unterschätzen, wie sie schmerzhaft am eigenen Leib gespürt hatten!
Inzwischen war es ganz hell geworden und ein wundervoller, eisiger Wintertag brach heran-es wäre alles schön gewesen, wenn nicht da oben eine Leiche liegen würde und sein Freund lebensgefährlich verletzt mit dem Tode rang.
Der Patriarch hatte nach dem Morgengebet zunächst nach seinem Enkelsohn gesehen, der inzwischen nicht mehr bei Bewusstsein war. Wenn da nicht bald Hilfe kam, dann war er verloren und die Mutter des Kleinen wiegte ihn verzweifelt und mit Tränen in den Augen in ihren Armen. Der heilkundige Syrer versuchte ihm ein wenig Tee einzuflößen, aber auch der Kleine konnte nicht mehr schlucken und so ging der alte Syrer nun mit schleppenden Schritten, das Herz volle Kummer, zu seinem nächsten Patienten.
Gerade beugte er sich über ihn und hob die Decken, um zu kontrollieren ob die Blutung stand, da wurde plötzlich die Tür aufgestoßen, ein Schuss ertönte und lautlos sank einer der Söhne des Patriarchen tot zu Boden. Die Frauen und Kinder begannen zu schreien und duckten sich voller Panik, während der Bergführer seine Waffe kalt lächelnd durchlud, um mit der Exekution fort zu fahren. Der türkische Schlepper sah ihn fassungslos an-freilich galt in ihrer Branche ein Menschenleben nicht viel, aber einfach so hilflose Menschen abzuknallen, das ging überhaupt nicht! Außerdem fürchtete er gerade um sein eigenes Leben und überlegte fieberhaft, wie er sich schnellstmöglich aus dem Staub machen und in Sicherheit bringen konnte.
Der Patriarch hatte sich fassungslos umgedreht und die Decken wieder fallen lassen. Er sah seinen Sohn tot zu Boden sinken und ein Laut des Schmerzes kam über seine Lippen. Vor wenigen Wochen erst hatte er seine Frau verloren, sein Enkel lag im Sterben und nun wurde sozusagen vor seinen Augen seine Familie ausgelöscht. Er brauchte eine Weile, um sich zu fangen und zu überlegen, was er tun konnte, aber dann griff er in seinen Hosenbund, wo in einer Art Holster aus Stoff seine altertümliche Pistole steckte. Er hätte es sich nie träumen lassen, dass er sie einmal gegen einen Menschen einsetzen musste und da er so gläubig war, konnte er mit Sicherheit niemanden kaltblütig erschießen, aber vielleicht gelang es ihm den Bergführer einzuschüchtern, wenn der sah, dass er bewaffnet war!
Der Bergführer hatte inzwischen seine Blicke durch die Höhle schweifen lassen und ausgerechnet, ob er auch genügend Munition dabei hatte. Wobei-die Kinder konnte er notfalls mit der Schaufel erschlagen, das ginge auch, er musste nur zuerst die Männer erledigen, die ihm vielleicht gefährlich werden konnten. Im Augenblick allerdings starrten die fassungslos auf den Bruder und Cousin, um den sich nun ein großer Blutfleck auszubreiten begann und dachten an Alles, außer sich zu verteidigen und nun sah der Bergführer etwas, oder vielmehr jemanden, den er nicht erwartet hätte. Unter einem Haufen Decken lag dieser Ben Jäger und starrte ihn aus großen dunklen Augen entsetzt an. Er war zwar käsebleich und vermutlich verletzt, aber er lebte und das brachte den Bergführer nun doch ganz schön aus dem Konzept. Vielleicht waren die anderen beiden auch noch am Leben und dieser Jäger und der kleine Türke waren Polizisten, das hatten sie auf der gestrigen Tour erzählt und die würden sich nicht so einfach abknallen lassen! Suchend ließ er seinen Blick durch die Höhle schweifen, ob er die anderen Schneeschuhwanderer entdecken konnte und plötzlich sah er eine Waffe auf sich gerichtet.
Der Patriarch hatte mit zitternden Händen endlich seine Pistole heraus gewunden und bedrohte nun den Bergführer seinerseits. Mit drohender, aber dennoch ein wenig unsicherer Stimme-Gewalt war einfach nicht Seines-forderte er den Bergführer auf Aramäisch auf, die Waffe fallen zu lassen, der allerdings lachte einmal verächtlich auf-dieser Mann würde nicht schießen, das sah er sofort- und dann bellte ein erneuter Schuss durch die Höhle und der Patriarch sah unendlich erstaunt auf seine Brust, auf der sich ein roter Fleck rasend schnell begann auszubreiten und brach dann über Ben zusammen.
Der war zwar immer noch fürchterlich schwach, aber nun schoss das Adrenalin durch seine Adern, denn gerade hörte er, wie die Waffe des Bergführers erneut durchgeladen wurde. Die Pistole war dem Patriarchen aus der Hand gefallen und lag jetzt so, dass Ben sie mit der rechten Hand, seiner unverletzten Schusshand, greifen konnte und das tat er auch mit dem Mut der Verzweiflung. Der Bergführer hatte anscheinend vor, hier ein Massaker anzurichten und Ben hatte in dessen Augen gesehen, dass der nicht aufhören würde zu töten, wenn man ihm nicht Einhalt gebot und so nahm er nun seine ganze Kraft zusammen-entsichert war die Pistole, das hatte er gehört-und legte auf den Bergführer an. Er kannte die Waffe nicht und durch seine körperliche Schwäche war er im Zielen nicht so gut wie sonst, aber dennoch bellten nun fast gleichzeitig zwei Schüsse, der eine sauste als Querschläger durch die Höhle und der zweite traf den Bergführer in die Schulter, obwohl Ben eigentlich auf sein Herz angelegt hatte, aber die Umstände ließen den Schuss danebengehen. Allerdings ließ nun der Bergführer die Waffe fallen und griff mit einem Schmerzenslaut nach seiner verletzten Schulter, wo das Blut begann heraus zu strömen. „Schnell-nehmt die Waffe weg!“ rief Ben und Gott sei Dank löste sich nun der zweite Sohn des Patriarchen aus seiner Schockstarre und nahm die Waffe an sich, so dass der Bergführer jetzt unbewaffnet war. Der biss die Zähne zusammen, drehte sich auf dem Absatz um, nicht ohne dabei den türkischen Schlepper, der inzwischen fast an der Tür angekommen war, am Arm zu packen und mit zu zerren. „Du kommst mit und hilfst mir!“ rief er gebieterisch und wenig später waren die beiden Männer verschwunden und Ben rang schwer atmend nach Luft, denn der Patriarch lehnte nun mit seinem halben Körpergewicht auf ihm. Nun war die Anstrengung allerdings zu viel gewesen und als das Adrenalin in seinen Adern ein wenig abflaute, verdrehte Ben die Augen und verlor erneut das Bewusstsein.