Infolge des ausschwemmenden Medikaments verlor Ben ziemlich viel Flüssigkeit und die Infusionen tropften nur im Zeitlupentempo vor sich hin, so dass er binnen Kurzem einen fürchterlichen Durst bekam. Auch der Blutdruck sank wieder ab, was die zuständige Schwester dann mit der Erhöhung des Noradrenalins beantwortete. Sie musste bald den Urinbeutel ausleeren, der ansonsten geplatzt wäre, aber es kümmerte sie wenig, dass Ben´s Lippen inzwischen vor Trockenheit regelrecht in Fransen hingen. „Kann ich irgendwas zu trinken haben?“ fragte er leise, aber die Schwester schüttelte wortlos den Kopf und ging wieder aus dem Zimmer. „Semir-ich könnte einen ganzen See austrinken!“ stöhnte Ben und Semir erinnerte sich mit Sehnsucht an die Kölner Klinik. Dort hatte man zumindest den Mund ausgespült, Lippencreme und Mundpflegestäbchen oder künstlichen Speichel verwendet, um das Durstgefühl zu verringern, aber davon hatten die hier anscheinend noch nie etwas gehört.
Auch Semir hätte sich nach wie vor gerne frisch gemacht und die Erlaubnis des Arztes, dass er ebenfalls trinken durfte, hallte auch noch in seinen Ohren-aber niemand brachte ihm etwas, wobei er das jetzt nicht allzu dramatisch empfand, denn er hatte immerhin ausreichend Infusionen, was man von Ben nicht sagen konnte, dessen Flüssigkeitshaushalt inzwischen wieder in die andere Richtung kippte. Seine ansonsten gesunde Niere produzierte auf das Diuretikum wie verrückt Urin und nachdem nichts nachgefahren wurde, ging der Kreislauf immer mehr in die Knie, was man aber nur mit einer ständigen Erhöhung des Noradrenalins beantwortete. Ben´s Herzschlag beschleunigte sich infolge des Flüssigkeitsmangels, aber auch dagegen bekam er nur einen Betablocker gespritzt und fühlte sich fürchterlich schwach, zittrig und eben durstig. Und dann kamen die Schmerzen! Nach etwa sechs Stunden ließ die Spinale nach und wie der Operateur gesagt hatte, meldete er sich. Die Nachtschwester, die inzwischen die Versorgung der beiden neuen Patienten übernommen hatte, aber genau so mufflig und gestresst wie ihre Vorgängerin wirkte, versprach ihm zwar, ein Schmerzmittel zu bringen, aber dann kam es zu einem Notfall im Nebenzimmer und während dort reanimiert wurde, dachte keiner mehr daran, die restlichen Patienten ordentlich zu versorgen-sie fuhren aber auch in der Nacht mit dem absoluten Minimum an Personal und die Arbeit war tatsächlich eigentlich nicht zu schaffen.
So lag Ben, als das neue Jahr anbrach und sie aus dem Fenster den dunklen Nachthimmel sehen konnten, der von allerlei Feuerwerk erhellt wurde, meist mit geschlossenen Augen, die Hände vor Schmerz zu Fäusten geballt im Bett und obwohl er eigentlich hätte schwören können, dass er keinen Tropfen mehr in sich hatte, lief ihm dennoch der Schweiß in Strömen herunter. Semir lag voller Mitleid im Bett daneben, hatte die kleine Leselampe angeknipst und war schrecklich unglücklich und auch aufgebracht deswegen. Er hatte es versucht, ein Schmerzmittel für Ben zu organisieren, hatte geläutet und gerufen, aber niemand reagierte und als endlich gegen ein Uhr-das Feuerwerk war inzwischen beendet- die Schwester einen Perfusor mit Piritramid brachte und Ben eine Dosis zukommen ließ, war der soweit, dass er sich vor Qual am liebsten aus dem Fenster gestürzt hätte. Das Pflegepersonal hatte natürlich um Mitternacht auch erst einmal mit alkoholfreiem Sekt anstoßen müssen und dann hatte man zunächst die wichtigsten Routinearbeiten nachgeholt-so ein Notfall vor Mitternacht war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Endlich wurde es leichter mit den Schmerzen und als der zuständige Stationsarzt einen letzten Rundgang machte, ordnete er bei dem jungen Polizisten doch noch einen Liter Infusion an, um die Hämodynamik zu verbessern und so langsam wurde es auch leichter mit den Schmerzen, so dass Semir und Ben gegen drei endlich in einen unruhigen Schlaf fielen.
Als die Frühschicht übernahm, wurden Semir und Ben von einem jungen Pfleger betreut, der zwar ein wenig netter war, als seine Vorgängerinnen, aber leider genauso überarbeitet. So bekam Ben zwar wieder ein Schmerzmittel, das ihn vor sich hindämmern ließ, aber ansonsten köchelte er sozusagen immer noch in seinem eigenen Saft vor sich hin. Semir wartete vergeblich darauf, dass jemand zu seinem Freund zum Waschen kam, statt dessen wurde ein dringendes Intensivbett für eine Alkoholleiche gebraucht, die völlig ohne Schutzreflexe und total unterkühlt in der Innsbrucker Altstadt aufgefunden worden war. So hörte der Stationsarzt Semir kurz ab, nickte zufrieden und sagte: „Wir können sie sofort entlassen, Herr Gerkhan. Sie können sich anziehen und ich schreibe nachher noch einen kurzen Entlassbrief. Warten sie bitte draußen in der Sitzecke, ich bringe ihnen den dann raus-alles Gute!“ und damit war Semir´s Intensivaufenthalt beendet. Zögernd schlüpfte er-schmutzig und hungrig wie er immer noch war- in seine verschwitzten Skiklamotten. Was sollte er nur machen-er konnte Ben doch nicht einfach alleine bei diesen Drachen lassen? Aber ihm blieb nichts anderes übrig als nach einer kurzen Verabschiedung zu gehen, denn man hatte sein Bett bereits weg gerissen, war nachlässig mit einem Desinfektionstuch über den Monitor und die Kabel gefahren und dann nötigte man ihn nach draußen. „Ben –alles Gute-ich hol dich hier raus und versuche zusammen mit Sarah deine Verlegung nach Köln zu organisieren!“ flüsterte er ihm zum Abschied ins Ohr und Ben nickte völlig erledigt kurz mit dem Kopf.
So stand Semir morgens um sieben vor der Innsbrucker Uniklinik und versuchte Andrea´s Handynummer im Kopf zu rekonstruieren. Verdammt-die hatte erst eine Neue gekriegt, die konnte er sich einfach noch nicht merken und so bat er den Pförtner, ihn kurz zunächst nach Deutschland telefonieren zu lassen und hatte wenig später Susanne in der PASt am Telefon, die Neujahrsfrühdienst hatte. „Susanne-kannst du mir bitte Andrea´s neue Handynummer durchgeben?“ bat er und verwundert machte sie das. „Semir alles in Ordnung bei euch? Ich habe eure Handys gestern zu orten versucht, aber seitdem nichts mehr weiter gehört-ich freue mich deine Stimme zu hören, wie geht es Ben und warum wart ihr verschollen?“ fragte sie, allerdings fertigte Semir sie nun kurzerhand ab: „Susanne, das ist eine lange Geschichte-du erfährst sie in Kürze persönlich, aber ich blockiere hier anscheinend ne wichtige Telefonleitung-ciao, ciao!“ sagte er rasch, weil ihm der Pförtner bereits böse Blicke zuwarf und wählte dann Andrea´s Handynummer.
„Schatz-ich bin soeben entlassen worden und stehe völlig mittellos vor dem Haupteingang der Uniklinik-kannst du mir bitte sagen, wo ich hinkommen soll?“ fragte er und Andrea schoss nun regelrecht in ihre Kleider und machte sich eilig auf den Weg zu ihrem Mann und holte den ab. Sie wollte ein Taxi nehmen, aber Semir winkte ab, als er erfuhr, dass es nur eine kurze Strecke zu laufen war. So stand er wenig später, erfreut begrüßt von seinen Töchtern, die gerade erst wach geworden waren, in der Dusche der Hotelsuite, wusch sich Ruß und Schweiß ab und als sie wenig später gemeinsam beim fürstlichen Frühstücksbuffet des Hotels saßen, erzählte er, was die letzten Tage geschehen war und vor allem wie es Ben ging.