Als Sarah am Morgen erholt aufwachte, hatte sie schon fast vergessen, dass sie gestern einen kleinen Streit mit Ben gehabt hatte. Nach einer Nacht darüber schlafen war sie beinahe ein wenig beschämt, dass sie wegen einer Kleinigkeit so ein Fass aufgemacht hatte. Ben hatte Recht gehabt-sie ging normalerweise auch alleine zum Arzt, sie wäre gar nicht auf die Idee gekommen, außer in den Schwangerschaften zum Ultraschall, da ihren Mann mit zu schleifen-ganz abgesehen davon, dass der daran gar kein Interesse hätte. Und außerdem rechtfertigte die Tatsache dass sie Krankenschwester war ja nicht, dass sie sich um alle Belange, die Ben´s Körper angingen, kümmern musste. Auch er hatte ein Recht auf eine Privatsphäre und sie würde sich jetzt einfach entschuldigen und dann den gestrigen Tag aus ihrer Erinnerung streichen. Sie würde die Kinder jetzt auch gleich mitnehmen, dass Ben die wieder sah, denn gerade Tim hatte schon mehrmals gefragt, ob denn der Papa nicht bald käme und Sarah hatte ihm dann kindgerecht erklärt, dass der noch ein bisschen im Krankenhaus bleiben müsse, bevor er wieder nach Hause dürfe. Tim hatte den Urlaub gemeinsam mit der ganzen Familie sehr genossen, denn wenn der Papa arbeiten war, sah er ihn nur morgens und abends kurz und eben am Wochenende, wenn Ben da frei hatte. Dann allerdings beschäftigte der sich viel mit seinen Kindern-manchmal war er ja selber noch wie ein großes Kind, wie Sarah mit einem glücklichen Lächeln konstatierte und wenn er mit Tim mit Matchboxautos im Kinderzimmer auf dem Bauch am Boden liegend, Autobahn spielte, wusste sie manchmal nicht, welchem von ihren beiden dunkelhaarigen Männern das besser gefiel! Nein sie liebte ihn einfach von Herzen und würde jetzt schnellstmöglich die Unstimmigkeiten ausräumen und sich bei ihm entschuldigen! So machte am späten Vormittag sie die Kinder fertig und fuhr dann los in die Klinik.
Semir hatte wirklich fast den kompletten Nachmittag und die Nacht verschlafen. Am Morgen war er fieberfrei und sehnte sich nach einer Dusche, die ihm Andrea, nach einem prüfenden Blick aufs Thermometer, auch erlaubte. Er war zwar noch etwas wacklig auf den Beinen, aber er genoss die Dusche und als er sich danach wieder ein wenig hinlegte, hatte Andrea derweil sein verschwitztes Bett frisch bezogen. Im Laufe des Vormittags bekam er einen Bärenhunger und als er dann fürstlich gefrühstückt hatte, war er schon wieder ein anderer Mensch, obwohl er sich danach bereitwillig nochmals hinlegte und ein Ründchen schlief. Hartmut hatte ihn am gestrigen Tag von der KTU aus noch angerufen, dass Ben anscheinend keine Erinnerung an die Szenen in der Wohnung hatte und die ganze Zeit verpennt hatte. Semir wünschte ihm nichts mehr als das, denn er kannte seinen Freund und Partner und wusste, dass der anderenfalls an dieser Sache schwer zu knabbern hätte.
Ben wurde am Morgen wieder von den Schwestern in den Waschraum hinaus gefahren. Er schloss die Tür hinter sich und sperrte sogar zu, damit ihn auch niemand überraschte. Die Schwester im Zimmer, die derweil sein Bett machte, das Nachtkästchen desinfizierte und die Antibiotikainfusion herrichtete, musste lächeln. Man konnte die Tür sofort mithilfe einer Münze von außen öffnen, falls nötig und was meinten denn die Patienten-dass sie als Schwestern ihnen was wegschauen würden? Mann die wenn wüssten, was man im Laufe seines Berufsleben zu sehen bekam, ob man wollte oder nicht, dann wären sie nicht so genant, allerdings musste sie schon sagen, dass so ein knackiger, durchtrainierter Männerkörper schon was hatte-vor allem weil er im Krankenhaus doch eher die Ausnahme war, die große Mehrzahl der Patienten war eher älter und hatte eben einen nicht so tollen Körper, aber das war schließlich egal.
Ben hatte sich zuvor aus dem Schrank frische Wäsche geben lassen und die Pflegerin hatte das ein wenig verwundert konstatiert, sie hätte eigentlich gedacht, dass er sich erst frisch anziehen würde, wenn seine Frau da war und ihm half-alleine konnte er sicher noch nicht allzu viel machen mit seinen ganzen Verletzungen. Allerdings war das nicht ihr Bier und mehr als ihm Hilfe anzubieten, die er aber sofort ausschlug, konnte sie nicht machen. „Herr Jäger-denken sie bei der Visite auch mit dran, dass wir fragen, ob sie nicht mal duschen dürfen. Wir könnten Duschpflaster auf die OP-Wunden kleben, dann dürfte das klappen, aber der Arzt muss das nach einer Knochenoperation erlauben!“ rief sie noch durch die geschlossene Tür und Ben signalisierte seine Zustimmung. Ach wäre das schön, sich die ganzen Körperzellen von Estelle vom Leibe zu waschen. Er hatte inzwischen das Gefühl schon wie die zu riechen und ihn ekelte es vor sich selber. Irgendwie gelang es ihm nach dem Zähneputzen aus dem Gilchristverband zu schlüpfen, sein T-Shirt auszuziehen und sich, soweit er ran kam, zu waschen. Er schrubbte wie ein Wahnsinniger mit ganz viel Duschgel, aber es gab schmerzbedingt so viele Stellen, die er nicht erreichte und er hatte richtig das Gefühl, die würden zum Himmel stinken und die frisch gewaschenen Körperteile sofort wieder überwuchern!
Man hatte in der Nacht, als die Infusion durch gewesen war, diese abgestöpselt. Die Nachtschwester hatte ihm erklärt: „Herr Jäger, ab sofort bekommen sie nur noch ihre Antibiose intravenös. Sie können ja essen und trinken und wenn sie ein Schmerzmittel brauchen, bekommen sie das als Tropfen oder Tablette.“ Und er hatte genickt, auch wenn es ihm schon beim Anblick der Schmerztropfen übel würde und er Magenschmerzen bekam. Nachdem er mit allerlei Verrenkungen in seine frische Wäsche geschlüpft war, ließ er sich ins Zimmer zurück fahren und setzte sich selber an den Bettrand. Wenn er sich festhalten konnte ging das ganz gut und er wollte einfach nicht, dass eine Schwester ihn anfasste. Gott sei Dank half ihm ein junger Pflegepraktikant beim Anziehen des Schulterverbandes, das konnte er aushalten! Inzwischen stand sein Frühstück auf dem Nachtkästchen, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte einfach keinen Bissen hinunter bringen, nur den Kaffee trank er wieder, was ihm prompt heftige Magenkrämpfe bescherte. Er legte sich zurück und verkroch sich erneut unter seiner Decke und wartete, bis die vorbei gingen. Die Stationshilfe, die das Essenstablett abräumte, sah ihn merkwürdig an, aber dann verließ sie schulterzuckend den Raum-das war nicht ihr Bier, wenn die Patienten keinen Hunger hatten!
Man ließ die Antibiose in ihn hinein laufen und als die Schwester dazu nur ein wenig seinen Unterarm berührte, durchfuhren ihn heisse Schauer-er wollte einfach nicht angefasst werden, aber er hielt es aus, um sich nicht zum Gespött zu machen. Die Visite brachte keine neuen Erkenntnisse, nur dass die HIV-Prophylaxe jetzt abgeschlossen war, man später nochmals Blut abnehmen würde und es jetzt sehr wichtig wäre, dass er kräftig Krankengymnastik machte. Das Duschen wurde für den morgigen Tag erlaubt und Ben war sich sicher, das würde erstens das Highlight des Tages werden und zweitens würde es ihm danach besser gehen, wenn er alle Reste von Estelle von sich abgewaschen hatte. Im Halbdämmer in der Nacht hatte er geträumt, sie wäre wieder von den Toten auferstanden und würde langsam auf ihn zukommen, um ihm erneut schlimme Dinge anzutun. Er hatte das Licht anmachen, seinen aufgeregten Atem beruhigen und sich selber zur Ordnung rufen müssen. „Ben-jetzt beginnst du langsam zu spinnen, die ist tot und du hast ihre Leiche gesehen, die jetzt sicher bereits in der Gerichtsmedizin im Kühlfach liegt, Tote sind tot und damit basta!“ sagte er zu sich, allerdings hatte er danach das Licht brennen lassen.
Jetzt klopfte es an der Tür und als sich die öffnete, stand da Sarah mit Mia-Sophie auf dem Arm und Tim an der Hand und lächelte ihn an. Tim riss sich sofort los und rannte zu ihm. „Papa!“ rief er und war schon zu ihm ins Bett geklettert und hatte sich in seine Arme geworfen, soweit das mit den ganzen Verbänden möglich war. Obwohl es ihm weh tat, überzog ein glückliches Lächeln Ben´s Züge. „Na kleiner Kamikaze, wie geht’s dir denn und tut dein Arm noch sehr weh?“ erkundigte er sich und nun sah Tim erst auf seinen Verband-er hatte den anscheinend völlig vergessen. Sarah trat nun näher, legte das Baby ebenfalls auf dem Bett ab und beugte sich zu ihm herunter, um ihn zärtlich zu küssen. Ben hatte es wirklich nicht vor gehabt, aber unwillkürlich zuckte er zurück, so dass ihre Lippen ihn nur streiften und Sarah´s Miene versteinerte. Gerade hatte sie ansetzen wollen und sich entschuldigen, aber jetzt sah die Sache anders aus. Ben sah sie unglücklich an und sagte nur leise: „Es tut mir leid!“ woraufhin Sarah begann mit den Tränen zu kämpfen, ihre Kinder packte, was Tim lauthals protestieren ließ und aus dem Zimmer rauschte. Anscheinend wollte Ben wirklich nichts mehr mit ihr zu tun haben und gerade stürzte ihre Welt zusammen!
Der sank wie ein Häufchen Elend in seinem Bett zusammen, wenn er nicht schon gelegen wäre, wäre er jetzt zusammen gebrochen und begann bitterlich zu weinen-oh verdammt, er machte gerade alles verkehrt, was man nur verkehrt machen konnte-was sollte nur aus ihm und Sarah werden? Aber auf diese Frage wusste er keine Antwort.