Verhör
Dieter Bonrath übernahm die erkennungsdienstliche Behandlung von Fabian Hartmann, während Semir sich schnell einen Kaffee aus der Teeküche und die Akte zu Sophie Ziegler aus seinem Büro holte. Der großgewachsene Kommissar in Uniform musste bei der Abnahme der Fingerabdrücke daran denken, dass es wohl das letzte Mal in seiner dienstlichen Laufbahn sein würde, dass er jemanden in die Kartei aufnahm, und das ließ er Fabian Hartmann auch gleich wissen. „Na, schön für Sie, dieses letzte Erlebnis hätte ich Ihnen gerne erspart“, meinte dieser nur dazu.
Dann saßen sich Semir und Fabian Hartmann im Verhörraum gegenüber, Semir mit seinem Kaffeebecher und der geschlossenen Akte vor sich, Hartmann mit den immer noch gefesselten Händen auf dem Tisch.
„Ich habe Sophie nicht umgebracht, das müssen Sie mir glauben“, beteuerte er gleich zu Beginn.
„Sie kennen Sophie Ziegler von ihrem Praktikum in der Apotheke. Ihre Wohnung liegt nicht weit von der Bushaltestelle, an der Sophie zum letzten Mal gesehen wurde. Ihre Frau war Freitagnacht nicht zuhause.“ Semir trank einen großen Schluck, beobachtet von Hartmann, der nur wiederholte: „Ich habe Sie nicht umgebracht!“ Er sah dem Hauptkommissar an, verfolgte dessen Kaffeebecher mit den Augen.
Unbeeindruckt fuhr Semir fort: „Sie haben Zugang zum Wagen von Ralf Kreisel, sowie zu dessen Tiefgarage. Der Passat hat gestern einen Unfall auf der A3 verursacht. Und in seinem Kofferraum haben wir die Leiche von Sophie Ziegler gefunden. Der Fahrer hat das Weite gesucht.“
„Ich habe Sie wirklich nicht umgebracht!“ – „Sie wiederholen sich, Herr Hartmann. Wir haben am Unfallort ein Stück Stoff und Abdrücke von Turnschuhen der Marke Adifix gefunden“, ein weiterer Schluck Kaffee fand den Weg durch Semirs Kehle in seinen Magen. „Wollen Sie uns nicht die Arbeit ersparen, den Stoff mit Ihrer Jacke abzugleichen? Und Ihre Schuhe mit den Abdrücken? Ich stelle jetzt einfach mal die Behauptung auf, dass Sie -“
Bonrath unterbrach das Verhör und steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Was ist denn, Dieter?“ Bonrath streckte seinen Daumen nach oben. „Positiv, Semir. Er ist der Fahrer.“ Semir verzog seinen Mund zu einem Lächeln, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte seine Arme vor seiner Brust. „Danke, Dieter.“
Dann wandte er sich wieder dem Verdächtigten zu und richtete sich in seinem Stuhl auf. „Herr Hartmann, ich muss mich korrigieren. Ich behaupte nicht, sondern ich kann Ihnen jetzt sogar beweisen, dass Sie den Wagen mit Sophies Leiche gefahren sind. Wir haben Ihre Fingerabdrücke und Ihr Blut im Wagen gefunden. Und – welch Zufall – Sie haben eine Wunde am Kopf, die exzellent zum Unfallhergang passt. Und nun kommen Sie, und wollen mir immer wieder erzählen-“
„Ich habe Sie weggefahren, aber ich habe sie nicht umgebracht.“
„Dann erzählen Sie mir doch bitte mal, was zwischen Freitag, 22:00 Uhr, und Montag, 12:00 Uhr, vorgefallen ist. Wir werden übrigens auch ein Team in Ihre Wohnung schicken, so gut können Sie gar nicht geputzt haben, dass wir nicht doch noch eine Spur von Sophie Ziegler finden werden, um zu beweisen, dass sie bei Ihnen war. Sie sollten vielleicht doch über einen Anwalt nachdenken, oder?“
„Okay“, gab Hartmann klein bei, „ich werde Ihnen alles erzählen.“
„Aha, jetzt kommen wir der Sache näher!“ Semir lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. „Möchten Sie vielleicht auch einen Kaffee?“
Geständnis
„Also, ich höre!“, forderte Semir Hartmann auf.
„Kennen Sie Scopolamin?“ – „Scopo- was?“ – „Scopolamin. Scopolamin ist ein Wirkstoff, der in Nachtschattengewächsen, wie z.B. dem Stechapfel oder der Engelstrompete enthalten ist“, erklärte Hartmann ruhig. „Das sind Giftpflanzen“, stellte Semir fest, „wollen Sie mir etwa sagen, Sophie Ziegler wurde vergiftet?“
Fabian Hartmann ging nicht darauf ein, sondern erklärte weiter: „Scopolamin kommt in verschiedenen Medikamenten vor, weil es eine beruhigende Wirkung auf den Verdauungstrakt hat und den Brechreiz unterdrücken kann. Tabletten gegen die Reisekrankheit können den Wirkstoff enthalten. Es wirkt pupillenerweiternd, weshalb es auch Augenärzte in Tropfenform einsetzen. Ja, Sie haben recht, Scopolamin ist giftig, aber bei geringer Dosierung durchaus nützlich, wie nahezu alle Medikamente erst bei Überdosierung eher eine ungewünschte Wirkung entfalten.“
Er legte eine kurze Pause ein, fuhr dann aber, als von Semir keine Zwischenfrage kam, mit seinen Ausführungen fort: „Sophie hat letzte Woche ihr Praktikum bei uns in der Apotheke begonnen. Sie war sehr lernbegierig, aufmerksam und hat mich regelrecht ausgefragt. Die Zusammenarbeit mit ihr hat mir Spaß gemacht, es war anders als mit den Lehrlingen, für die der Job lediglich ein notwendiges Übel ist, um an Geld zu kommen. Sophie blieb gerne länger als nötig, half mir bei der Zubereitung von Salben und Tropfen, die wir bei uns selbst herstellen. Als ich ihr von den Wirkungen der Bestandteile erzählte, wollte sie mehr wissen und hat nicht locker gelassen. Sie müssen wissen, Herr Gerkan, zwischen der beruhigenden und der giftigen Wirkung von Scopolamin liegt noch einiges mehr. Richtig dosiert ist Scopolamin eine Droge, die einen Rausch hervorrufen kann, Halluzinationen, die einem so real vorkommen, dass man sich mit ihnen unterhalten möchte.“
„Haben Sie Sophie Ziegler überredet, die Droge zu testen?“ – „Andersrum, Sie hat mich überredet, geradezu bequatscht, bis ich schließlich okay sagte. Ich dachte, wenn das Mädchen einmal einen Rausch gehabt hätte, würde sie sich schon wieder beruhigen. Und besser, sie hätte ihn bei mir, als auf der Straße. Ich kenne mich mit der Dosierung aus, es ist sauberes Zeug und sie könnte solange bei mir bleiben, bis die Wirkung wieder nachgelassen hat. Sie ließ nicht locker. Ja, ich habe Sophie Zugang zu Scopolamin verschafft, aber ich habe sie nicht umgebracht.“ Semir bemerkte, dass sich Tränen in Hartmanns Augen zu sammeln begannen. Er reichte ihm ein Taschentuch, welches dieser mit einem Nicken entgegen nahm.