Diese Geschichte ist der fünfte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:
1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
3.Fall: Auf dünnem Eis
4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
5.Fall: -
6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
7.Fall: Vertrauen
8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
9. Fall: Kalter Abschied
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Die Sonne strahlte vom Himmel und blendete seine Augen, so dass Ben eine Hand schützend darüber halten musste. Das Juni-Wetter war in diesem Jahr durchwachsen, aber schien zumindest zum Fest-Tag seiner Schwester eine Ausnahme zu machen und präsentierte sich von der besseren Seite. Seine Schwester hatte vor zwei Monaten ihr erstes Kind bekommen. Für ihren Vater, war das, die perfekte Gelegenheit für ein großes Fest. Er sah sich um. Sein Vater hatte mal wieder alles aufgefahren. In Mitten des großen Jäger-Gartens stand ein weißer Festpavillon. Davor war eine kleine Bühne errichtet, auf der wohl zu späterer Stunde eine Band auftreten würde. Vermutlich Klassik, wie er seinen Vater kannte. Ben lächelte, als er Julia entdeckte und ging auf sie zu. Er drückte seine Schwester fest in seine Arme. „Du siehst gut aus Schwesterherz“, ließ er verlauten und lächelte, während er sich wieder von ihr löste.
Julia Jäger lachte und sah die Person an, die etwas weiter hinter Ben stand. „Du bist gekommen, Mikael.“ Der Angesprochene nickte und umarmte sie kurz. „Danke für die Einladung.“ Seine Hand griff nach der einer jungen blonden Frau, die einen Jungen im Alter 15 Monaten auf dem Arm trug. „Eva, meine Verlobte“, stellte er vor und die beiden Frauen schüttelten sich kurz die Hand.
„Verlobte also? Ich dachte immer, du würdest mich heiraten“, scherzte Julia.
„Nun, du warst dann leider schon vergriffen“, antworte Mikael und gab Julia einen Kuss auf die Wange. „Alles Gute für dich und die Kleine. Wie heißt sie denn?“
„Leonie“, antworte Bens jüngere Schwester mit einem stolzen Lächeln.
„Das ist ein toller Name!“, sagte nun Eva.
„Wenn du willst, dann zeige ich euch später ein paar Fotos von kurz nach der Geburt.“ Die Finnin nickte begeistert. „Ich bin schon ganz gespannt.“ Eva sah Mikael an. „Wenn Oskari ein Geschwisterchen bekommt, dann würde ich auch zu gerne ein Mädchen haben. Was man da alles kaufen kann!“
Mikael lachte. „So lange ich keine Kinderzimmer pink streichen muss!“
„Wir haben ja auch Oskaris Zimmer nicht blau gestrichen!“, widersprach Eva sofort.
„Im Grunde schon.“
Die Blonde zwickte ihren Freund in die Seite. „Das war aber doch nicht mit Absicht. Ein Zufall nichts weiter!“
„Haha. Jaja, dass glaube ich kaum“, fuhr Ben dazwischen. „Da war sicherlich tiefere Psychologie drin. Ich wette Mikael hat in irgendeinem schlauen Buch gelesen, dass sich Kinder in blaugestrichenen Räumen besser entwickeln oder so …“
Kurz darauf stand auch die Begrüßung seines Vaters an, vor der Ben sich eigentlich am heutigen Tag am meisten fürchtete. Er hoffte, dass sein Alter Herr Mikael nicht wieder irgendwelche Vorwürfe machen würde. Das würde sicherlich die ganze Stimmung versauen und immerhin wollte er, dass das Fest zu Ehren seiner Schwester in Ruhe verlief. Sein Vater kam auf sie zu und umarmte Ben kurz, ehe er Mikael die Hand schüttelte. Mehr als ein kaltes Hallo brachte Konrad Jäger allerdings nicht über die Lippen, ehe er sich wieder den anderen Gästen zuwandte. „Es tut mir leid. Er ist nicht fair zu dir“, entschuldigte sich Ben bei seinem Freund. Mikael lächelte gezwungen. „Es ist okay, du brauchst dich nicht für deinen Vater rechtfertigen.“
„Er sollte trotzdem langsam verstehen, dass du nicht wie dein Vater bist.“
„Die Situation ist nicht neu für mich, glaub mir“, sagte sein finnischer Freund und griff dabei nach Evas Hand. „Lass uns schauen, wo wir sitzen.“ Die blonde Frau nickte und Ben sah ihnen hinterher.
„Sie wirken glücklich, nicht?“ Er sah sich erschrocken um. „Julia! Schleich dich doch nicht so an!“, empörte er sich. „Was? Ich war die ganze Zeit über hier. Nur weil du wieder über Papa nachgrübelst, hast du es nicht mitbekommen.“
Er nickte. „Ja, sie sind glücklich. Die letzten Monate waren für beide hart, aber sie haben es hinbekommen.“
„Es war ja auch eine schwere Zeit. Ich hätte ihn zu gerne in der Reha-Klinik besucht.“
„Du hattest ganz andere Dinge um die Ohren. Mikael hat das verstanden.“
Seine Schwester nickte und sah zu Mikael und Eva. „Und streitet ihr immer noch so oft wie damals?“
„Wie? Wir haben doch nie gestritten!“
Julia kicherte. „Nein? Da kann ich mich aber an ganz andere Dinge erinnern. Ihr seid euch regelmäßig fast an die Gurgel gesprungen!“
Ben wollte etwas antworten, doch dann ertönte die Stimme ihres Vaters und die beiden Geschwister begaben sich mit einem Seufzer zum Tisch. Was nun folgen würde, war eine ausführliche Rede von Konrad Jäger. Schon kurz nachdem sein Vater begonnen hatte, hatte Ben auf seinem Platz aufgehört dem Inhalt zu folgen. Wahrscheinlich war es ohnehin nicht besonders spannend. Er musterte die Gäste. Einige schienen tatsächlich interessiert zuzuhören, andere taten zumindest so. Irgendwann blieb sein Blick auf Mikael haften. Er war ziemlich blass und hatte die Stirn in Falten gelegt. Kurz darauf stand er leise auf und verschwand aus dem Zelt, welches im Hinterhof des Anwesens errichtet worden war. Am liebsten wäre er ihm sofort hinterher, doch er saß natürlich in der Nähe seines Vaters und wollte ihn nicht unnötig verärgern und so harrte er mit zappeligen Beinen aus, bis Konrad Jäger endlich seine Lobrede auf die Familie beendet hatte und stand dann schnell auf, während die restlichen Gäste sich am Buffet bedienten.
Er ging zu Eva und beugte sich von hinten zu ihr herunter. „Was ist mit ihm?“, fragte er leise.
„Ihm war nicht gut“, antwortete die blonde Frau ihm. „Er sagte, dass er etwas Ruhe haben möchte.“
Er nickte. „Ich werde dennoch mal nach ihm sehen.“
Es dauerte nicht lange und Ben hatte seinen Freund vor der Villa auf einer weißen Bank gefunden. Er sah weiterhin fürchterlich blass aus und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. Seine Gesichtszüge waren verzogen, als hätte er Schmerzen. „Ist es immer noch so schlimm?“, fragte Ben und setzte sich nun neben Mikael hin. Er bekam ein seichtes Nicken als Antwort. „Soll ich dir was zu trinken holen oder Tabletten?“
„Ich habe schon eine genommen“, nuschelte der Schwarzhaarige leise. Ben nickte. 10 Monate war es nur her, seit diesem schweren Unfall. Mikael war bei einer Routinefestnahme einen Abhang hinuntergestürzt und hatte sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen. Anschließend hatte er fast drei Wochen im Koma gelegen, danach hatte er alles neu lernen müssen und der schwere Weg zurück ins Leben war auch nach all diesen Monaten noch nicht beendet. Kopfschmerzen waren zum ständigen Begleiter seines Freundes geworden, dazu kamen Schwindelanfälle. Außerdem war es so fürchterlich schnell vollkommen erschöpft, egal ob er körperliche oder geistige Tätigkeiten verübte. Dennoch, trotz diesem schweren Weg und all den Rückschlägen in den letzten Monaten hatte Mikael niemals aufgegeben. Er kämpfte. Er quälte sich jeden Tag durch seine Übungen, egal wie groß die Kopfschmerzen waren. Die Fortschritte erschienen Ben manchmal langsam, doch sie waren da und alleine das, ließ ihn glauben, dass die Zeit vielleicht doch diesen schrecklichen Unfall vergessen machen konnte, den sein Freund fast mit dem Leben bezahlt hatte.
„Soll ich dich nach Hause fahren? Ich bin mir sicher, dass Julia es verstehen wird.“
„Ich schaffe es schon irgendwie“, murmelte sein Nebenmann.
„Irgendwie. Das klingt nicht besonders überzeugend“, konterte Ben und lächelte.
„Immerhin ist es jetzt nicht mehr so anstrengen diese langweiligen ….“ Mikael stockte. „Keskustelut ... nein ... ajatustenvaihto.“ Sein Freund verstummte wieder. „Gespräche, ja genau, Gespräche zu filtern. Mein Kopf lässt ohnehin nicht zu, dass ich mich lange darauf konzentrieren kann oder irgendwas behalte.“
Ben lehnte sich zurück und sah in den von nur wenigen Wolken bespickten Himmel. „Es geht um Geld, da gibt es nicht viel zu behalten.“
„Na dann.“
Der Braunhaarige löste seinen Blick wieder vom Himmel und sah Mikael an. „Habe ich dir eigentlich gesagt, wie sehr ich dich bewundere?“
Mikael sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Wofür sollte man mich bewundern?“
„Wie du das alles machst. Du gibst einfach nicht auf und lässt dich von diesem Unfall nicht unterkriegen. Das meine ich!“
Ben nahm Mikaels verwirrten Blick wahr. „Klar, du hattest Glück, dass du keine schweren Behinderungen davongetragen hast, aber trotzdem. Was du alles geschafft hast. Darauf kannst du wirklich stolz sein!“
Der Jüngere lächelte. „Noch ist es zu früh aufzugeben, oder nicht?“
„Natürlich.“
„Ich bin dir übrigens dankbar, dass du in dieser Zeit da warst. Es muss viel Kraft gekostet haben dauernd nach Finnland zu fliegen“, sagte Mikael.
„Du bist mein Freund. Es war keine anstrengende Pflichtaufgabe. Es war gut, dass ich es getan habe. Ich habe es auch für mich getan.“
Mikael nickte. „Trotzdem, danke.“
„Möchtest du etwas essen? Ich kann etwas holen, wenn du magst.“
„Nein, es ist alles gut.“
Ben verstummte und sie saßen für einige Zeit still nebeneinander. Das einzige Geräusch, was ertönte, waren ferne Stimmen aus dem Garten. „Ich habe gehört, dass Veikko jetzt wieder als Kommissar arbeitet.“
Mikael sah ihn kurz an, sah dann aber wieder weg. „Ja, er hat die Stelle von einem Kollegen eingenommen, der in den Ruhestand ist. Vielleicht denkt er, dass er sie mir warmhalten kann. Es ist dumm. Selbst wenn ich zurückkomme, dauert es noch. Derzeit bestehe ich sicherlich keinen medizinischen Test.“
„Du meinst die Schwindelanfälle?“
„Nicht nur. Antti war vor ein paar Tagen mit Kramsu da. Er wollte meine Meinung zu etwas, aber ich konnte mich schon nach 10 Seiten nicht mehr richtig konzentrieren.“
„Du wirst sehen, auch das wird irgendwann besser“, sprach Ben seinem Freund Mut zu.
Mikael seufzte. „Ich weiß, ich sollte dankbar sein und ich bin es auch, aber ich vermisse etwas tun zu können. Ich hatte einen Vollzeitjob. Jetzt bin ich einer.“
„Das verstehe ich. Wenn ich mir vorstelle, plötzlich so aus dem Leben gerissen zu werden.“
„Aus dem Leben gerissen?“ Der Schwarzhaarige lachte leise. „Das hört sich an, als wäre ich gestorben!“
Ben schluckte. „Als du da so lagst … da dachte ich wirklich, dass du es wärst.“
„Mhm.“ Mikael legte die Ellenbogen auf seine Knie und bettete den Kopf darin.
„Aber du bist es ja nicht!“ Der Braunhaarige drückte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Und darüber bin ich mehr als froh. Ich habe mir in den Wochen wirklich sehr viele Sorgen gemacht.“
Es war später Abend, als Ben von der Feier seiner kleinen Nichte nach Hause aufbrach. Mikael und Eva waren bereits vor einigen Stunden gefahren, sogar noch vor dem Kaffee, da es Mikael doch nicht „irgendwie“ ausgehalten hatte. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden und als ihm dann noch schwindelig wurde, hatte Eva die Notbremse gezogen und Ben darum gebeten, dass er dem Fahrdienst Bescheid gab. Diesen hatte seine Schwester extra engagiert, damit die Gäste sich keine Gedanken darum machen brauchten, wer das Auto auf der Heimfahrt lenkte.
Als Ben die Tür zu seiner Wohnung öffnete, konnte er Mikaels Stimme aus dem Gästezimmer hören. Er las seinem Sohn etwas vor. Eine Geschichte, die auch Ben aus seiner Kindheit nur zu gut kannte. Ben legte seinen Schlüssel leise auf die Kommode und ging dann zu der Tür zum Zimmer und lehnte sich an den Rahmen. Mikael saß mit seinem Sohn auf dem kleinen Gästebett und der Junge zeigte vergnügt auf die Bilder in dem Buch, während er den Text dazu las. „Am Montag fraß sie sich durch einen Apfel. Aber satt war sie noch immer nicht.“ Man konnte sehen, dass er diese Zeit mit Oskari genoss. Bei den kleinen, einfachen Texten hatte Mikael weniger Probleme und sein Lesefluss stockte nicht. Als sie fertig waren, gab er seinem Sohn einen zarten Kuss auf die Stirn und deckte ihn liebevoll zu. Er zog die Mundwinkel nach oben, als er in der Tür sah.
„Es war wohl ziemlich aufregend bei deiner Schwester. Er war total aufgekratzt als wir nach Hause gekommen sind“, flüsterte er leise.
„Ist Eva im Wohnzimmer?“, wolle Ben wissen.
Mikael nickte und sie gingen gemeinsam rüber in den anderen Raum. „Und schläft er?“, fragte Eva, als sie hereinkamen. Mikael gab ihr einen Kuss, ehe er sich neben sie in das Sofa lümmelte. „Ja. Tief und fest.“