Sie saßen in einem Warteraum, der für Angehörige von OP-Patienten hergerichtet worden war. Ben hatte Andrea an sich gedrückt und strich ihr sanft über den Rücken. Unmittelbar daneben saß Hartmut, dem der Schock der letzten Stunden ebenfalls noch tief in den Knochen saß. Viel erfahren hatten sie bisher noch nicht über den Gesundheitszustand von Semir. Mikael stand am Fenster und starrte ins Leere. Er hatte auf dem Weg ins Krankenhaus Eva angerufen und ihr das nötigste erklärt. Nur mit Mühe hatte sie sich davon abhalten lassen ebenfalls her zu kommen. Dass es kein Umfeld für ein kleines Kind war, hatte sie schließlich überzeugt. Die Anspannung, die in der Luft lag, schnürte ihm die Luft ab und er merkte, wie er langsam die Kontrolle über seinen Körper verlor. Seine Hände umgriffen das Fensterbrett, als ihm für einen Moment schwindelig wurde. Die Welt schien plötzlich in Schieflage zu geraten. In seinem Kopf begann es zu pochen und zu hämmern. Er fingerte in seiner Pullovertasche nach den Tabletten, doch er hatte sie zu Hause liegen lassen. Eva hatte sie bei ihrer Unternehmung am Vormittag in der Tasche gehabt.
Er musste hier raus! Er drehte sich um, setzte einen Fuß vor den anderen, obwohl alles um ihn verschwamm und wankte. „Ich geh mal auf die Toilette, ja?!“, presste er heraus. Ben sagte etwas, doch er winkte nur mit der Hand ab. Auf der Suche nach den Toiletten zog sich der Schwindel sich wie eine Schlinge um seinen Brustkorb und machte ihn zunehmend orientierungslos. Schwarze Punkte breiteten sich vor seinen Augen auf und er war mehr als froh, als er endlich den Raum gefunden hatte, den er verzweifelt gesucht hatte. Er öffnete die nächstbeste Kabine und übergab sich keuchend. Dann blieb er zitternd über die Kloschüssel gebeugt sitzen - umklammerte sie geradezu, um nicht zusammenzubrechen. Als sich sein Magen geleert hatte, ließ er sich erschöpft gegen die Fliesen sinken. Ihm war immer noch schlecht und sein Kopf dröhnte furchtbar. Er betastete für einen Moment den Verband um seinen Oberarm. Nichts, was lange zum Heilen brauchen würde. Mit noch leicht unsicherem Gang lief er in Richtung der Waschbecken. Er drehte den Hahn auf, wusch sich die Hände und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Sein Blick fiel in den Spiegel. Sein Gesicht war blass. Schon fast unnatürlich blass. Sein Blick matt und ausdruckslos. Er merkte, wie er zu zittern begann. Panik machte sich urplötzlich in ihm breit, nachdem er in den letzten Stunden irgendwie die Fassung gewahrt hatte. Er hatte das getan, was er am besten konnte: die Gefühle tief in seinem Körper vergraben. Er war es gewesen, der Andrea für Ben verständigt hatte. Er hatte sie abgeholt und hierher gefahren. Seine Hände fuhren wieder unter den Wasserhahn und er spritze sich erneut kaltes Wasser in das Gesicht. Er atmete tief ein und aus, ehe er seinen Körper wieder unter Kontrolle hatte. Erst als er sicher war, dass er es schaffen würde, verließ er die Toiletten und ging wieder in Richtung Warteraum. Das Bild hatte sich nicht geändert und weiterhin warteten alle gespannt auf positive Nachrichten. Stumm ging er wieder zum Fenster und sah heraus.
Ben der nur einige Meter von Mikael entfernt saß, bekam von alldem nichts mit. Der junge Hauptkommissar der Autobahnpolizei war in seine eigene Gedankenwelt vertieft. Das Bild, wie Semir so vor ihm gelegen hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf. Immer und immer wieder sah er es vor sich und manchmal, da glaubte er sogar, dass er das warme Blut an seinen Händen spüren konnte. Und wieder einmal schien es seine Schuld zu sein, dass ein Freund um sein Leben kämpfen musste. Er hatte Mikaels Unfall zu verantworten und er trug die Schuld an Semirs Stichverletzung. Er hätte Mikael nur von Beginn glauben müssen und dann hätten sie diesen Mann vielleicht schon vorher gefunden. Er schluckte schwer, um die Tränen zurückzuhalten. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Jetzt musste er für Andrea da sein. Dem Täter hatte sich Hauptkommissar Hoffmann von der Mordkommission angenommen. Er hatte versprochen, dass er ihn verständigte, wenn es Neuigkeiten gab, doch bisher schien der Mann nicht gesprochen zu haben. Er sah auf die Uhr und starrte den Zeiger an, der sich einfach nicht schneller drehen wollte, egal wie oft Ben sich das wünschte. Er brauchte endlich irgendwelche Nachrichten von seinem Kollegen. Irgendetwas, sonst würde er noch verrückt werden! In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein Arzt kam auf sie zu. Er lächelte und sorgte so dafür, dass sich eine riesige Last von Bens Körper löste. „Guten Tag sind sie Familienangehörige von Semir Gerkhan?“
Andrea sprang auf. „Ja.“
„Die Ehefrau?“
Sie nickte. „Bitte, was ist mit ihm?“
„Das Messer hat einige innere Organe verletzt, doch wir konnten den Schaden beheben. Im Augenblick ist ihr Mann stabil. Wir haben Herrn Gerkhan zumindest für den Augenblick ins künstliche Koma versetzten, damit sich sein Körper wieder erholen kann.“
Der Schock stand Andrea ins Gesicht geschrieben und Ben sprang auf und drückte sie beherzt an sich. „Das muss doch nichts Schlechtes sein, Andrea. Das ist ja nur, um Semir zu helfen“, beruhigte er sie.
Der Arzt lächelte ihm dankbar zu. „Genau Frau Gerkhan. Es ist alles nur zum Besten. Ihr Mann hat Kämpferwillen bewiesen. Es sieht gut aus, dass er es schafft.“