Innenstadt - 18:30 Uhr
Ben schlug den Kragen seiner Lederjacke ein wenig nach oben, als er aus dem warm aufgeheizten Auto ausstieg und mit der eiskalten klaren Luft in Berührung kam. Die Straße war stumpf und trocken im Dunkeln, sollte der angekündigte Schnee heute Nacht wirklich kommen, würde wohl jede einzelne Flocke liegen bleiben, denn der Asphalt war eiskalt und der Boden in den Parks, Gärten und auf den Feldern stockgefroren. Der Polizist blies in seine Handflächen und rieb diese aneinander, eine Angewohnheit aus der Kindheit sich zu aufzuwärmen, was rein gar nichts brachte. Er schaute an der Häuserfront herauf auf einige Fenster im zweiten Stock, die dort hell erleuchtet waren und kämpfte gegen seine eigene Unsicherheit. War das richtig oder falsch, was er hier machte? War es sein Arbeitseifer, war es Mitleid oder war es der Eigennutz? Der Gedanke an letzteres hielt ihn noch zurück.
Der Name "Bachmann" prangte an allen drei Klingeln des Hauses, vor dem Ben jetzt stand und zögerte. Er fühlte sich unwohl, fühlte sich unentschlossen dessen, was er hier wollte. Er konnte selbst nicht genau das Gefühl definieren, das ihn hierher trieb, dass ihn dazu antrieb jetzt auf die Klingel zu drücken, den Summer abzuwarten und dann in den Flur des Mehrfamilienhauses treten. Er hatte die Hände in den Taschen versunken und stieg die ersten Stufen nach oben, als er die Wohnungstür im zweiten Stock aufgehen hörte.
"Wer ist da?", hörte er die leise, etwas verschreckt klingende Stimme von Carina Bachmann im Flur. "Hallo... hier ist Ben Jäger, von der Kripo Autobahn.", sagte Ben sofort, um die Frau nicht zu verschrecken. Sie stand am Geländer und sah ins Treppenhaus herab, und schien erleichtert als sie das Gesicht des Mannes erkannte. "Oh... guten Abend. Ich hatte nicht mehr mit Besuch gerechnet.", sagte sie beinahe entschuldigend, denn sie hatte Hausschuhe an und die Haare zu einem einfachen Zopf zurückgebunden. "Ja, entschuldigen sie die späte Störung.", meinte Ben lächelnd und hob kurz die Schultern, als er im zweiten Stock angekommen war. "Aber... ähm... ich wollte... ich wollte mal sehen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist."
Er hätte sich ohrfeigen können. Was für eine billige und plumpe Rechtfertigung eines unangekündigen Besuchs. Was interessierte es den einen Polizisten, wie es dem Angehörigen eines Mordopfers ging? Wenn er kein persönliches Interesse hätte und alle gleich behandeln würde, müsste er viele Witwen und Witwer besuchen gehen und fragen, wie es ihnen geht. Der Blick von Carina schwankte ebenfalls zwischen leicht überrascht und doch in gewisser Weise dankbar. "Es geht schon. Es wird besser.", sagte sie leise und trat vor der Tür zur Seite. "Wollen sie reinkommen?" Höflicherweise hätte Ben abgelehnt, die junge Frau jetzt zu stören... aber Verflucht, er war ja nicht nur gekommen, um zu fragen wie es ihr geht. Er war gekommen, um Beistand zu leisten, um zu helfen, weil er sich auf sonderbare Art und Weise zu Carina hingezogen fühlte, weil er ein Gefühl hatte, dass er zuletzt bei Jenny hatte, als er sie tröstete... nur noch stärker.
"Gerne, danke.", nickte er und Carina ließ dem Polizisten den Vortritt. Er schaute ins Wohnzimmer, wo Carinas Mutter auf dem Sofa am Fernsehen saß und scheinbar vollkommen fokussiert und interessiert einer Tiersendung lauschte. "Guten Abend.", sagte Ben höflich und die alte Frau sah kurz auf. "N'abend, junger Mann.", sagte sie und schien an Ben gerade völlig desinteressiert. "Wollen sie etwas trinken? Einen Kaffee, oder Tee?" "Einen... Tee trinke ich gern." Er folgte Carina in die kleine Küche und setzte sich dort an den Küchentisch, wo sie auch schon gestern schon saßen als sie die Todesnachricht ihres Bruders überbrachten. "Sind sie noch im Dienst um diese Zeit?", fragte die junge Frau, während sie den Wasserkocher unter die Spüle hielt. "Ähm... ja, kann man so sagen.", meinte der Polizist und fuhr sich mit den Fingern über den Mund. Der sonst so schlagfertige, um keinen lustigen Spruch verlegene Ben spürte Nervosität, seine Lockerheit, die er normalerweise bei Frauen immer hatte, war wie weggeblasen.
"Wir... wir waren in der Firma ihres Bruders und haben uns dort umgehört. Die... die haben ihnen Hilfe versprochen, meinte der Chef dort.", erzählte er und hoffte, Carina damit ein wenig die Sorgen vom Gemüt zu nehmen, doch diese Sorgen waren bei der jungen Frau momentan nicht finanzieller Natur. "Das ist nett.", sagte sie nur und klang dabei leicht abweisend, was Ben eher auf die Firma als auf sich selbst bezog. Mit leisem Zischen und Blubbern begann der Wasserkocher seine Arbeit.
"Sagen sie... hat ihr Bruder mal ein Sportartikelgeschäft in Holland erwähnt? Im Zusammenhang mit seiner Arbeit vielleicht?", fragte Ben vorsichtig nach einigen Minuten, als sich Carina mit der dampfenden Tasse Tee ebenfalls an den Tisch setzte und etwas verwirrt blickte. "Hmm... nein, nicht dass ich wüsste. Er hat generell nicht viel über seine Arbeit erzählt." Sie lächelte etwas. "Ist ja auch nicht besonders interessant... Versicherungen zu verkaufen. In ihrem Beruf hat man sicher mehr zu erzählen." Ben ließ sich von dem Lächeln der Frau, was in seinen Augen unglaublich ermutigend erschien, sofort anstecken. "Ach... tagelang nur die Autobahn rauf und runter zu fahren kann auch manchmal langweilig sein.", meinte er scherzhaft und bedankte sich für den Tee, den er vorsichtig antrunk. "Ich bin übrigens Ben.", bot er der Frau dann das "Du" indirekt an. Ihr Lächeln drückte Zustimmung aus. "Carina."
Ihr tat es durchaus gut, ein wenig abgelenkt zu sein, ein wenig wieder mit jemandem reden, der in ihrer Sprache sprach. Doch diese kurze Zweisamkeit wurde von der Stimme ihrer Mutter unterbrochen, die aus dem Wohnzimmer sah und auf den Flur hinausrief: "Mama?" Sie tapste langsam den Flur entlang in Richtung des Schlafzimmers, steckte dort den Kopf hinein um den Ruf nach ihrer Mutter zu wiederholen. Carina seufzte kurz und stand vom Tisch auf: "Entschuldige mich kurz.", bevor sie auf den Flur ging und ihre Mutter sanft an die Hand nahm. "Die Mama ist nicht hier...", sagte sie mit ruhiger Stimme und wollte ihre Mutter wieder zurück zum Wohnzimmer bewegen. "Wo ist sie denn? Sie wollte doch nur kurz raus. Wer weiß, was da wieder passiert ist.", sagte Frau Bachmann beharrlich und voller Sorge. Ben hörte die Stimmen in der Küche, konnte sich natürlich vorstellen dass Carinas Oma in Wirklichkeit längst tot war und die Mutter das in diesem Moment vergaß.
"Na, dann gehen wir ihr einfach entgegen, hmm?", sagte Carina aufmunternd. Solange ihre Mutter halbwegs gut zu Fuß war, auch wenn sie nur langsam ging, ging sie so oft es geht mit ihr an die frische Luft. Und gerade, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte wie jetzt und keine Ruhe gab, war es eine willkommene Abwechslung, um sie wieder von dem Gedanken abzubringen. Hermine nickte zustimmend: "Ja, das machen wir. Ich gehe mich anziehen.", sagte sie entschlossen und ging in Richtung ihres Schlafzimmers, während die junge Frau zur Küche zurückkehrte. "Möchtest du mit uns eine Runde um den Block gehen? Danach hat sie das mit ihrer Mutter meistens vergessen.", fragte sie in Bens Richtung. Der Polizist nickte und Carina setzte sich wieder an den Tisch.
"Das muss schlimm sein, wenn man nicht mehr genau weiß, ob die eigene Mutter lebt oder nicht.", sagte er nachdenklich und hielt sich an seiner warmen Tasse Tee fest. Carina wog den Kopf hin und her. "Ich bin ja mittlerweile so manches gewohnt. Und es ist für die Angehörigen wie mich oder meinen Bruder..." sie stockte für einen Moment... "also, für mich ist das meist noch schlimmer als für sie. Sie weiß es halt einfach nicht und hat es in einer Viertelstunde wieder vergessen. Sie ist dann irgendwo in einer Zwischenwelt, wo sie nicht herausfindet. Aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran." Ben empfand in diesem Moment die junge Frau, die zierlich, zerbrechlich und schüchtern wirkte, als unglaublich stark...
Eine Viertelstunde später stand Hermine Bachmann dick eingepackt in der Küche. Carina nahm ihren Wintermantel und die drei Erwachsenen zogen in langsamen Schritten, so schnell die alte Frau gehen konnte, einmal um den Block. Sie redeten überhaupt nicht über den Fall oder die Krankheit der Mutter, sondern darüber, dass es kalt war, dass Weihnachten sehr schön war und Hermine erzählte eine Geschichte, die sich an Weihnachten in den 60er Jahren zugetragen hatte. Sie wusste das Jahr nicht genau, aber sie konnte genau aufzählen, warum ihrer Mutter der Festbraten am 1. Weihnachtstag völlig misslang.
Später, als sich Ben von Carina verabschiedete, umarmte die junge Frau den Polizisten kurz und schüchtern... und sagte dankbar, dass sie sich sehr freuen würde, wenn sie sich bald wiedersehen würden...