Arztpraxis - 17:00 Uhr
War dieser Boden noch real? War dieser Boden noch fest unter Jennys Füßen? Oder verwandelte er sich gerade zu Lava, zu Pudding oder zu irgendwelchem anderen, wackeligen, unsicheren Untergrund. So kam es der jungen Polizistin vor, als sie das mehrstöckige Gebäude in Kölns Innenstadt verließ und langsam in Richtung ihres Kleinwagens ging. Die Geräusche der Autos um sie herum kamen ihr dumpf und unwirklich vor, die Menschen die ihr in der Abenddämmerung begegneten waren nichts als dunkle Schemen ohne Gesichter. Ziel war nur das Auto, der Schlüssel in der Hand, dem Blicken der orangenen Lichter folgend, den Türgriff suchend. Als sei der Innenraum des Fahrzeugs ein sicherer Zuflucht, der sie schützen könnte, vor den drohenden Gefahren. Doch das schlechte Gefühl nahm sie, wortwörtlich, mit ins Auto hinein.
Ihr ging es nicht gut... der Unfall auf der Autobahn hatte sie aus den Gedanken gerissen. Arbeit, zu tun... doch kein Schreibtischdienst. Es war auf den ersten Blick furchtbar, als sich auf schneebedeckter Fahrbahn mehrere Autos und zwei LKW verhakt hatten. Zum Glück gab es nur Leichtverletzte und Blechschaden, aber eine Vollsperrung während der letzten Zuckungen des Berufsverkehrs am Morgen waren Streß pur. Jenny hielt durch, vergass währenddessen auch mal ihr Unwohlsein und ihre Sorgen.
Der Abschleppdienst verspätete sich, der Feuerwehr ging das Bindemittel aus... er schien, als hätte sich alles gegen die Autobahnpolizisten, die zu sechst und tapfer in Eiseskälte den Verkehr regelten und Protokolle schrieben. Jennys Schrift sah, vor Zittern ob der Kälte, furchtbar aus. Es dauerte fast 4 Stunden, bis man die Autobahn teilweise wieder freigeben konnte, erst gegen 14:30 Uhr waren sie wieder in der warmen Dienststelle. Dort sah Jenny auf ihr Handy, das auf dem Schreibtisch lag und las 5 Anrufe in Abwesenheit, jedes Mal Kevins Nummer. "Oh nein...", flüsterte sie leise und wählte sofort die Rückruftaste, doch Kevins Handy schien ausgeschaltet, denn sofort meldete sich die Mailbox. Auch ein Anruf auf Jennys Privattelefon in der Wohnung blieb ohne Antwort.
Auf dem Weg zum Frauenarzt probierte sie es noch zweimal mit dem gleichen Ergebnis. Sie wollte so gern mit ihm reden, wollte wissen, was er von ihr wollte... und wollte ihm von der Vorahnung erzählen, die sie hatte seit Andrea mit ihr geredet hatte. So gern hatte er sich gewünscht, dass ihr Freund an ihrer Seite saß, sollte sie jetzt gerade die unmöglichste Nachricht bekommen. Sie hatte Angst... Angst davor, dass es wirklich wahr ist... dass sie wirklich schwanger sein könnte. Sie fühlte sich nicht bereit, sie stand gerade vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens, wenn Kevin wirklich nach Kolumbien fliegen würde. War die Beziehung überhaupt noch zu retten? Und nun ein Kind, was für Jenny zu früh kam, für Kevin zu früh kam und allgemein für ihre Beziehung, selbst wenn alles okay war, zu früh kam?
Die Zeit im Wartezimmer fühlte sich elend lange an, bis Jenny von der Arzthelferin endlich ins Untersuchungszimmer gebracht wurde. Ihrer Ärztin des Vertrauens schilderte sie dann, dass sie in den letzten Tagen oft unter Übelkeit leide, und eine gute Freundin sie dann mit der Theorie der Schwangerschaft konfrontierte. "Na, haben sie denn ihre Periode nicht bekommen?", fragte die Frauenärztin, und Jenny rieb nervös die Hände aufeinander. "Ich nehme die Pille seit zweieinhalb Monaten durch." Ein Nicken der Ärztin, dann die Anweisung an Jenny den Bauch freizumachen und sich auf die Liege zu legen.
Das Gel für die Ultraschalluntersuchung ließ sie kurz erschaudern, denn es war eiskalt als das eigenartige Gerät ihre sanfte Haut berührte. Die junge Frau starrte an die Decke und schien in Gedanken die Anzahl der Quadrate zu zählen, die Zeit in der die Frau neben ihr mit dem Gerät über ihren Bauch strich kam ihr elendig lange vor. Sie wollte nicht den Kopf drehen, sie wollte nicht auf den Monitor starren mit diesem komisch grau-schwarz-weißen Bildern, von denen sie nichts verstand, in denen sie selbst nie etwas erkennen konnte und aus denen Ärzte die wundersamsten Diagnosen herauslesen konnte. Doch aus einer Einstellung, die die Ärztin mit einem Druck auf die Tastatur als Foto festhielt, hätte auch Jenny etwas erkannt.
"Herzlichen Glückwunsch, Frau Dorn...", sagte die Ärztin und lächelte, während es sich für Jenny wie ein Schubser vor einem Abgrund anfühlte. "Ich schätze, sie sind ungefähr in der 4 oder 5. Schwangerschaftswoche. Man kann schon einiges erkennen.", sagte sie und zeigte mit dem Finger auf einige Umrisse, die entfernt einem menschlichen Körper glichen. Nur langsam, mit zitternder Unterlippe, ohne Lächeln sah Jenny zu dem Monitor auf diese abstrakte unwirkliche Gesalt. Nur langsam schleppend war ein Kopfschütteln zu erkennen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste gar nicht, warum sie die Traurigkeit und das Entsetzen auf einmal befiel... weil das Kind völlig ungeplant und ihrer Lebensplanung zu früh kam, oder weil sie nur einige Stunden vorher Kevin vor eine fatale Wahl gestellt hatte.
Die erfahrene Frauenärztin kannte so manche Reaktion auf eine Schwangerschaftsdiagnose. Unglaubliche Freude, aber auch Schock, Trauer und Entsetzen waren keine Seltenheit. Sie spürte sofort, dass die junge Frau auf der Liege weder glücklich mit dem Befund, noch wirklich darauf einstellt war. Sie nahm Papiertücher und rieb Jenny das Geld von ihrem, noch unbemerkt flachen Bauch weg. "Ziehen sie sich mal wieder an, und dann setzen sie sich zu mir.", sagte sie mit beruhigend wirkender Stimme.
Einige der gesammelten Tränen kullerten Jennys Gesicht herunter, als sie sich von der Liege wieder aufrichtete, Top und Pullover wieder über den Kopf zog. Mit langsamen Schritten setzte sie sich in einen der Stühle gegenüber der Ärztin. "Wissen sie denn, wer der Vater ist?", fragte die Ärztin, denn aus Erfahrung wusste sie, dass die meisten Gründe für eine negative Reaktion auf eine Schwangerschaft meist die waren, dass die Schwangerschaft aus einem One-Night-Stand entsprangen, aus einer gerade gescheiterten Beziehung oder, noch schlimmer, aus einer Vergewaltigung. Aber Jenny nickte zunächst. "Und... sind sie mit dem Vater zusammen?" Was sollte sie antworten? Ja, nein, vielleicht? Sie hatte Kevin gesagt, dass sie so nicht weiter mit ihm leben könne. Er war ihr eine Antwort schuldig geblieben und ging seit zwei Stunden nicht ans Telefon. "Das ist schwierig zur Zeit.", sagte die junge Polizistin tonlos. "Haben sie denn gemeinsam ein Kind geplant, bevor die Beziehung... schwierig wurde?" Ein stummes Kopfschütteln von Jenny, nachdem sie ihren Blick zum Boden richtete.
Die erfahrene Frauenärztin ist für psychologische Gespräche nicht ausgebildet. Sie möchte Jenny zu nichts im Bezug auf ihre zwischenmenschliche Beziehung raten, ausser dass ein gemeinsames Kind eine tolle Chance ist, eine vielleicht schlingernde Beziehung zu retten. Auf keinen Fall würde die Medizinerin das Wort "Abtreibung" auch nur in den Mund nehmen, stattdessen erklärte sie Jenny, wie die Behandlung weitergeht, mit was sie nun rechnen müsste und klärt Vorerkrankungen.
An Jenny fliegt das Gespräch vorbei. Als sie das Ärztehaus verlässt, ist es draussen schon am Dunkeln, nur der Schnee macht den Abend heller als sonst. Die Geräusche sind dumpf um sie herum, als sie sich in ihren Wagen rettet... und dabei trägt sie vor sich den Verursacher des unguten Gefühls. In ihr drin wächst ein Kind... ihr Kind, Kevins Kind. Zu früh für ihre Planung, was ihr Leben anging, die Arbeit, die Beziehung mit Kevin. Na klar sollte irgendwann geheiratat werden, ein oder zwei Kinder kommen. Mit dem richtigen Mann, der durchaus auch Kevin hätte sein können. Aber gerade dessen Zustand, dessen Aktion von gestern seine Freunde zu hintergehen, stellte alles in Frage... und nun trug Jenny sein Kind im Bauch.
Fast versöhnlich legte sie die Hände um ihren Bauch, legte sie auf die warme Winterjacke, die Jenny dicker erscheinen ließen, als sie eigentlich war. Als wollte sie das Kind schützen, dass sich nach aussen weder in Jennys Figur noch nach innen durch Bewegung bemerkbar machte. Als sie Kevins melanchonisch wirkende Stimme am Handy hörte, als sich erneut seine Mailbox-Nachricht meldete, rollten wieder Tränen über ihr Gesicht.