23:30 Uhr
Das helle Licht blendete Jenny... sie wusste nicht, wo sie sich gerade befand. Alles um sie herum war dunkel, ihr Herz pochte so laut, dass sie es selbst hören und fühlen konnte, ohne die Hand auf die Brust zu legen. Die Dunkelheit um sie herum wurde nur von dem grellen, beißenden Lichterschein durchschnitten, der so unangenehm war, dass sie die Augen mit der Hand schützen musste. Es war kein natürliches Sonnenlicht, eher eine wahnsinnig helle Lampe oder ein Scheinwerfer, der jedoch nicht greifbar war und unbewegt blieb. Der Gang fiel ihr schwer, als sie versuchte zu ergründen, wo sie sich befand und es fühlte sich an, als wären zentnerschwere Betonsäcke an ihre Oberschenkel gebunden. Ausserdem dachte sie, sie trüge etwas vor sich, sie umfasste ihren Bauch, doch es fühlte sich normal an.
Der Polizistin wurde schwindelig, sie ballte die Hände zusammen als sie mit der Außenfläche der Hände an die metalähnliche, glatte Wand stieß, und sich daran abstützte. Es wirkte wie ein großer metallischer Raum, in dem sie war, der sich in sich selbst bewegte und zu drehen begann, so dass sie wieder langsam von der Wand wegtaumelte, um im nächsten Moment wieder dagegen zu fallen. Dieser Vorgang schien immer schneller zu passieren, bis ihre schweren Beine schließlich kapitulierten, und sie auf die Knie fiel.
Sie spürte, dass sie etwas in der Hand hielt und sah, als sie die Hand öffnete, das Pillendöschen. Ihr Atem beschleunigte... hatte sie die etwa genommen? War deshalb alles um sie herum so surreal und komisch? Oh Gott... sie konnte doch keine Drogen nehmen... sie war doch schwanger! Stöhnend drückte sie sich von der Wand weg und krabbelte ein Stück auf allen vieren, bis sie eine brennende Hitze in sich vernahm. Wie ein Blitz fuhr ihr diese Hitze vom Bauch in den Unterleib, und im Reflex fasste sich Jenny mit der Hand zwischen die Beine, als sie dort ein Feuchtigkeitsgefühl vernahm. In ihrem Bauch breitete sich dazu ein untrügerliches, in den letzten Tagen so oft bekanntes Übelkeitsgefühl aus, das von ihr Besitz ergriff, und sich steigerte, als sie auf ihre zitternde Hand blickte, die sie von ihrem Schritt wieder wegnahm... sie war blutdurchtränkt.
Jenny konnte nicht glauben was sie sah und bekam Panik. Ihr Magen krampfte sich zusammen, sie fiel wieder auf alle viere und kroch ein paar Schritte über den metallenen Boden, das Pillendöschen fest umklammert. Um sich herum nahm sie Schritte wahr, aber keine Stimme, kein Atmen, keinerlei Anzeichen menschlichen Lebens, dass sich eine andere Person bei ihr befand. Nur Schritte, die um sie herum zu gehen schienen, solange sie wie in Zeitlupe zitternd vorwärts kroch und sich dabei der Raum immer wieder drehte und der Boden schwankte. Das helle Licht war immer noch stechend scharf und trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wusste sich nicht aus dieser Welt zu befreien.
Plötzlich zog sich Jennys Magen zusammen, und sie begann zu erbrechen. Sie spuckte und würgte weißen Schaum aus, nichts was in irgendeiner Weise mit ihrem Abendessen zu tun hatte. Auch konnte die junge Polizistin das Erbrochene nicht riechen oder schmecken, lediglich spüren, als es auf ihre Hand tropfte, und sie letztlich völlig kollabierte und dabei in ihrem Erbrochenen zu liegen kam, sich dabei auf der linken Körperseite windete und krümmte, als hätte sie Schmerzen. In ihrem Kopf dröhnte es, die Schritte waren immer noch klar zu vernehmen und irgendwo konnte sie die Schreie eines Babys hören. Es schien, als sei jedes der Geräusch direkt in ihrem Kopf präsent, und wurde mit jedem Moment eindrücklicher und stärker.
Jenny spürte, dass sie das Pillendöschen immer noch in der Hand hielt, und jetzt endlich konnte sie erkennen, dass sich eine Person bei ihr befand. Sie blickte nach oben und konnte die Schemen sehen, die sich im gleißenden Licht abbildeten. Lange konnte sie jedoch nicht nach oben sehen, da das Licht, das sich links und rechts von der Person brach, in ihren Augen brannte. Sie erkannte die schwarzen Schuhe, die abgewetzte Jeans und konnte gerade noch die klimpernden Schnallen einer Lederjacke sehen. Obwohl sie das Gesicht nicht sah, nur die Schemen der abstehenden Haare im gleißenden Licht, als käme gerade ein Zug durch einen Tunnel gerast, ließ sie erkennen, wer neben ihr stand, und eine Mischung aus Hoffnung und Angst stieg in ihr auf.
"Kevin..." Jenny wollte schreien, sie wollte ihn anflehen, doch es kam kein Ton aus ihrem Mund. Sie hörte sich nicht selbst, und doch schien ihr Freund, der Vater ihres Kindes, ihr Flehen zu erhören. Er ergriff die Hand, die auf dem Boden lag, mitten in Jennys Erbrochenen, das Pillendöschen festumklammernd und für einen Moment dachte sie, er würde ihre Hand nehmen, um sie herauf zu ziehen, sie in die Arme zu nehmen und von diesem furchtbaren Ort wegtragen... sagen, dass alles gut wird und er wieder bei ihr war. Doch grausam fühlte sich die Enttäuschung an, als Kevin zwar für eine Sekunde ihre Hand fest umklammerte, um dann das Pillendöschen zu nehmen und ihre Hand zurück zu Boden fallen zu lassen. Die junge Frau konnte es nicht fassen, als die vorher noch gebeugten Beine sich wieder erhoben und fortgingen... Kraft, nochmal nach oben zu schauen, hatte sie nicht. Das Gesicht blieb sowieso im Dunkeln.
Jenny dachte, sie müsse sterben. Das Blut in ihrem Schritt konnte sie immer noch spüren, und plötzlich war ihr Bauch, in dem ihr Baby wuchs, auf eine beachtliche Größe gewachsen, so dass sie Panik bekam. Bittere Tränen drückten sich durch ihre Augen aus ihrem zitternden Körper heraus, als sie wieder die vertrauten Beine vor ihr sah. Kevin war zurück... er würde ihr doch helfen. Er beugte sich nach unten zu seiner Freundin, nahm ihre Hände zusammen und Jenny spürte auf einmal etwas hartes, metallähnliches... vertrautes. Das geriffelte Metall an der Handinnenfläche, ein Stück abgerundetes Metall am Zeigefinger. Angestrengt schaute sie durch die Dunkelheit und sah, wie Kevin ihr eine Waffe, die etwas länger schien als gewöhnlich, in die Hände legte, selbst seine Hände um Jennys Hände fasste und die Waffe auf ihren Bauch richtete. Sie merkte sofort, dass der Polizist die Mündung nicht zufällig auf ihren Bauch richtete, er schien sie zielgerichtet auf ihr Baby zu richten. Dann öffnete er seinen Griff wieder und streichelte mit einer Hand, während er aufstand, über ihre Körperseite nach oben, bis er Jennys Haare nochmal berührte, um dann wieder weg zu gehen. Ohne noch einen klaren Gedanken zu fassen, ohne überhaupt den eigenen Willen aufzubringen und eine Entscheidung selbst zu treffen, konnte Jenny nur noch fühlen, wie ihr Zeigefinger gegen den Abzughebel drückte, bis er mit einem Ruck nachgab.
Mit diesem Ruck fuhr Jenny aus ihrem Kissen. Ihr Atem rasselte, ihr Herz pumpte genauso laut gegen ihre Brust, wie eben im Traum. Sie sah in die Dunkelheit in ihrem Schlafzimmer, tastete irritiert nach dem Lichtschalter, fand ihn und war beruhigt, dass das Licht anging. Schon als Kind wusste sie, dass sie immer noch träumte, wenn in ihrem Zimmer das Licht nicht funktionierte. Doch die Lampe an der Decke wurde vom Strom durchflutet und verscheuchte Jennys schreckliche Traumwelt. Sofort sah sie neben sich, doch wo gewöhnlich Kevin lag und schlief war nur ein leeres, aufgewühltes Bett zu sehen. Er selbst war Tausende Kilometer von Jenny entfernt, die sich jetzt langsam beruhigte und mit der Hand durch die schweißdurchnässten Haare fuhr. Sie musste aufstehen, so wie Kevin es immer tat, wenn er Alpträume hatte... ins Bad, Wasser ins Gesicht, Klamotten wechseln.
Die Gedanken an ihren Freund hatten sie den ganzen Tag begleitet. Obwohl sie wusste, dass es ihm gut ging, machte es sie fertig, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Sie konnte sich vorstellen, dass er ihre Androhung ernst gemeint hatte, sie wollte ihn anrufen und hatte sich doch nicht dazu durchgerungen. Doch der schreckliche Alptraum zeigte ihr, dass es so nicht weiterging. Er musste einfach Bescheid wissen, er musste einfach wissen, dass er zurück kommen musste. Jenny nahm das Handy vom Nachtisch und wählte Kevins Nummer. Es klingelte... einmal, zweimal, dreimal... sonst ging er doch direkt an sein Handy. Erst als die Mailbox ranging, legte sie auf und probierte es nochmal. Kein Erfolg.
Jenny blickte auf die Uhr. Sie würde nicht mehr einschlafen können, wenn sie jetzt nichts tat. Ein Seufzen durchdrang die Stille im Zimmer, und sie stand mit dem Handy in der Hand aus dem Bett auf und tapste mit nackten Füßen durch die Wohnung und zum Küchentisch, wo ihr Geldbeutel lag. In diesem Geldbeutel befand sich das Ultraschallbild, das sie von ihrer Frauenärztin bekommen hatte. Sie legte es ins gedämmte Licht, machte ein Foto davon und wollte es Kevin schicken. Er musste es einfach erfahren... jetzt und gleich. Jenny konnte der Botschaft des Traumes einfach nicht glauben, dass Kevin im übertragenen Sinne gegen das gemeinsame Kind war. Sie musste es jetzt wissen. Und wenn er nicht an sein Handy ging, dann müsste es halt so gehen...
Als Jenny die Nachricht abgeschickt hatte, wartete sie bestimmt eine dreiviertel Stunde darauf, dass in dem Chatprogramm die Nachricht kam, dass Kevin ihre Nachricht gelesen hatte. Doch nichts geschah bis die junge Frau langsam wieder dem Schlaf verfiel...