Dschungel - 12:30 Uhr
Kevin war voll mit Adrenalin. André hatte ihn damals in der Karateschule "kaltes Blut" gelehrt, in einem Kampf niemals dem Bauch Entscheidungen überlassen, sondern dem Kopf. Obwohl André selbst das in seiner Polizistenlaufbahn eher seltener angewendet hat, versuchte er es dem damals noch ungestümen Jungen zu vermitteln. Manchmal schaffte es der schweigsame Polizist, vor allem wenn er in Wortgefechten seine Ruhe und Wortkargheit zur Provokation einsetzte. Doch jetzt überließ er seinem Bauch die Entscheidung, Santos von Annie und Juan weg zu locken, ihm zu entkommen und dann auf den Flughafen nach zu kommen. Gerade fuhr der Kolumbianer an ihm vorbei, Annie sah noch mit verängstigten Augen aus dem Seitenfenster, als Kevin sich in den kleinen, leichteren Jeep sprang, um ihn in Windeseile kurzzuschließen.
Gerade als er den ersten Gang einlegte und beim Gas geben im Sand die Räder durchdrehen ließ, fuhr ein weiterer Wagen um die Kurve hinter ihm. Santos saß auf dem Beifahrersitz, seine markanten Gesichtszüge wie versteinert. "Da ist er.", sagte er nur zu seinem Fahrer, der alsbald die linke Gabelung nahm, in der Kevin verschwunden war. Beide Fahrzeuge sprangen und flogen über den Feldweg, kleinere Hügel und wirbelten jede Menge Staub auf, was es für Santos beinahe unmöglich machte, genau zu sehen, wo das Fahrzeug vor ihm sich befand.
Der junge Polizist hatte klare Sicht und zischte mit dem Geländewagen den Feldweg zwischen Palmen und anderen Bäumen entlang. Der alte Jeep quietschte und ächzte, er konnte vor Staub im Rückspiegel nicht erkennen, ob er Santos langsam loswurde. Erst als der Weg fester wurde, und der Dreck sich legte konnte er erkennen, dass Santos Fahrzeug ein gutes Stück kleiner im Rückspiegel geworden ist. Ein kurzes Lächeln legte sich über Kevins Gesicht, er konnte bereits die Brücke über den Rio Cauca erkennen, und dass die Straße dahinter frei geradeaus ging, und einigermaßen befestigt war. Die Brücke selbst war vielleicht 50 oder 100 Meter lang, hatte nur einen kniehohen Absatz rechts und links als Begrenzung, sowie einigen, vielleicht einen Meter hohen Säulen auf diesem Absatz, bevor es viele Meter nach unten in den Rio Cauca ging, der wegen der Regenzeit laut und wild war.
"Halt an.", sagte Santos zu seinem Fahrer, der sofort eine Vollbremsung machte, während sein Boss das Funkgerät griff. "Schalt ihn aus.", funkte er an seinen Scharfschützen, der Kevin eigentlich schon in Bogota auf dem Dach auflauern sollte. Jetzt saß er im Dickicht am Rande des Weges, unsichtbar für Kevin, der gerade an ihm vorbeifuhr. Der Drogenboss sah mit Genugtuung um auf das, immer kleiner werdende Heck des Jeeps, als plötzlich mit einem Knall der linke hintere Reifen zerfetzt, als die Gewehrkugel durch das Gummi eindrang. Das Fahrzeug wurde einige Male hin und her gerissen, bevor es mit dem Heck wuchtig an einer Palme hängen blieb, herumgerissen wurde und sich überschlug, bis er völlig verbogen auf dem Dach liegen blieb. "Los gehts, Männer."
Der Polizist wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er konnte das Auto nicht mehr halten, nachdem er den Knall wahrgenommen hatte, und nach dem fürchterlichen Schlag schmerzte sein ganzer Körper. Er wusste gar nicht, ob das Fahrzeug auf der Seite oder dem Dach lag, er wusste nur, dass er irgendwie am Boden lag und sich zunächst orientieren musste. Die Frontscheibe war völlig zersplittert, dadurch konnte er mit Mühe die Brücke erkennen, und es schien der schnellste Ausgang zu sein. Das Blut, das ihm von einer Platzwunde an der Schläfe und einem Schnitt unterm Auge bis nach unten über die Wange lief, sowie mehrere Schnitte in den Armen, spürte er kaum. Er musste raus, aber er war nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Nur, dass er den Revolver mitnehmen musste, daran dachte er noch.
Kevin linste um das Wrack, das ihm zunächst noch als Deckung nutzte, weil es mit der Frontscheibe zum Fluss lag. Santos, zwei weitere Männer sowie der Scharfschütze aus dem Gebüsch kamen zu Fuß in Richtung des Unfallwagens. Sein Atem beschleunigte sich, er lehnte sich kurz an das Wrack und sah zum Himmel... verdammt, jetzt saß er fest. Jetzt war alles vorbei. Die dunklen Wolken verdichteten sich über ihm, als er den Revolver aufschnappen ließ... noch vier Kugeln, für vier Mann. Unrealistisch, mit jedem Schuss zu treffen. Dann sah er in den Wagen und zog eins der automatischen Gewehre heraus, das er den beiden Rebellen abgenommen hatte, und lud es durch.
Santos und seine Männer hatten nicht damit gerechnet, dass Kevin den Unfall überstehen würde. Relativ schutzlos waren sie dann auch, als der Polizist sich aus der Deckung raus wand, und das Gewehr antworten ließ. Vor Schmerz wurde ihm schwindelig, und viele Kugeln verpassten sein Ziel, nur den Scharfschützen konnte er im Oberschenkel treffen, der jammernd in die Knie ging. Die anderen beiden positionierten sich sofort vor Santos und schossen zurück, so dass Kevin wieder hinter der Deckung verschwinden musste. Als der Polizist nochmals schiessen wollte, gab die Waffe, die durch den Unfall verbogen wurde, den Geist auf. "Fuck!", rief er und warf das Gewehr zurück in den Unfallwagen. Es war vorbei... Er hatte verloren, und er wusste es jetzt endgültig. Nur eins musste er noch erledigen...
Kevin beugte sich nochmals aus der Deckung und schoss dreimal in Richtung der drei Männer, die sich langsam nochmal vom Wegesrand weg trauten. Alle drei Kugeln verpassten ihr Ziel, doch er erreichte immerhin, dass Santos nochmals versuchte, am Wegesrand Deckung zu finden und auf Spanisch fluchte. Dann rannte der Polizist. Er wandte sich von dem Autowrack ab und rannte, so schnell die Schmerzen, die sich über seinen Oberkörper und seinen Kopf verteilten, trugen. Er betete, dass Annie und Juan bereits weit genug weg waren, und er so immerhin Santos beschäftigen würde, bis die beiden am Flughafen waren.
Kevin hatte auf der Brücke gerade die zweite Säule, die auf dem Absatz aus Stein gefertigt waren, erreicht, als Santos und seine Männer das Feuer wieder eröffneten. Im letzten Moment verkroch er sich dahinter, kniete auf dem Absatz der Brücke hinter dem Pfeiler. Neben ihm sah er in die tiefe, sah tosendes Wasser, Felsbrocken die aus dem Wasser ragten und Stromschnellen. Juan hatte mit der Beschreibung des Flusses nicht übertrieben. "Komm raus! Wir kriegen dich eh!", rief Santos mit seiner autoritären Stimme und hatte seine Hand fest um den Griff seiner 9mm-Pistole. Er hob die Hand, als er die Brücke erreichte. "Ich hol ihn mir selbst.", sagte er auf Spanisch zu seinem Bodyguard. Der Kartellchef nahm die Sache persönlich, dass Kevin versucht hatte, ihn aufs Kreuz zu legen und Annie zu befreien. Sowas tat man mit einem Carlos Salazar Santos nicht. Die Waffe im Anschlag näherte er sich langsam dem zweiten Pfeiler, hinter den Kevin gekrochen war.
Der wiederrum hatte sein Handy gezogen. Beinahe wie in Trance, das Rauschen des Wassers und die drohende Gefahr Santos ganz weit weg, starrte er auf ein Bild. Das Bild zeigte ihn und Jenny... in der gleichen Pose, wie er vor 13 Jahren ein Bild mit seiner Schwester gemacht hatte. Sie im Vordergrund, glücklich und befreiend auflachend, Kevin dahinter, die Arme schützend um Jenny gelegt, die Augen hellwach und sein Mund zu einem Lächeln geformt. Der Polizist biss auf die Zähne als einige Tropfen Blut seiner Stirn auf das Display fielen, küsste das Bild und nutzte dann die letzte Kugel seines Revolvers, um sie durch das Display des Handys zu schiessen, und das Gerät damit unbrauchbar zu machen. Würde Santos es in die Hände bekommen, wären Jenny und ihr gemeinsames Kind in höchster Gefahr. Das zerschmetterte Handy schleuderte er zu guter Letzt auch noch über die Brücke in den Fluß.
Santos war bei dem Knall nochmal kurz in Deckung gegangen, doch jetzt sah er, wie mit einem Klackern der leere Revolver auf den Steinboden der Brücke geworfen wurde. Langsam kam der Besitzer des Revolvers hinter der Deckung hervor, im Gesicht blutverschmiert, schwer atmend und mit einem, beinahe mechanisch emotionslosen Gesichtsausdruck. Der Kartellchef richtete seine Waffe auf den jungen Polizisten, ging auf ihn zu, bis er dicht vor ihm stand, Kevin mit dem Rücken zum niedrigen Absatz. Das Rauschen des Flusses konnte er noch hinter sich hören, seine Haare, die sonst immer in alle Richtungen standen, waren zwar zerzaust, aber sie hatten nichts mit dem Kevin gemein, der er sonst war. Der Dämon hatte wieder gesiegt. Zwar hatte Kevin die Schlacht um Annie gegen ihn gewonnen, und es geschafft diesmal einen Menschen, der ihm nahestand, zu retten... doch dafür schlug der Dämon ihm ein Schnippchen und gewann den Krieg, in dem Jenny nun mit ihrem Kind alleine blieb. Der Polizist fühlte sich auf einmal unglaublich leer, und jeglicher Wille ging verloren. Hinter ihm der Abgrund, der den sicheren Tod bedeutete, vor ihm der eiskalte Drogenboss, für den es etwas Alltägliches war, einen Menschen zu töten. "Weiß der Teufel, was dich geritten hat, dich wegen einer kleinen H.ure mit mir anzulegen.", sagte Santos, der seine Waffe nicht mal einen Meter von Kevins Brust entfernt hielt. Der Polizist wiederrum hob nicht die Hände, er fiel nicht vor Santos auf die Knie, er blickte den Verbrecher aus seinen kalten Augen an. Er dachte an Semir, der ihn niederschlug... das Letzte, was er von ihm in Erinnerung hatte. Bens fassungsloses Gesicht, als er merkte, dass Kevin Semir hinterging. Jennys Tränen in den Augen, als er die Wohnung für immer verließ... alle letzten Erinnerungen in seinem Kopf waren negativ behaftet. "Ja genau... der Teufel...", sagte er nur leise.
Sein Herz schlug gegen seinen Brustkorb unter dem Shirt und dem offenen Hemd, das ebenfalls einige rote Spuren von herunter tropfendem Blut aufwies. Dann dachte er an Janine... würde sie ihn jetzt sehen? Er dachte an ihr Lachen, ihr befreites Lachen, das sofort ansteckte. An ihre Unbekümmertheit, wenn sie ihrem großen Bruder von ihren Träumen erzählte, die für Kevin damals immer Träume bleiben sollten. Er dachte nicht an die Mordnacht... nein, wenigstens von Janine würde er seine letzte Erinnerung positiv behalten. "Hast du noch was zu sagen?" Der Polizist blickte Santos noch einmal in die Augen und sah dann nach oben in den blauen Himmel, als könne er dort Janines Antlitz sehen. "Ich komme, Janine..."