Diese Geschichte ist der sechste Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:
1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
3.Fall: Auf dünnem Eis
4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
5.Fall: Blackout
6.Fall: -
7.Fall: Vertrauen
8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
9. Fall: Kalter Abschied
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Ben saß unter den wachsamen Augen von Zar Alexander II. und blickte über die imposanten Freitreppen hinauf zum strahlend weißen Dom von Helsinki. Auf dem Platz wimmelte es nur so von Leuten. Einige rannten ihren Reiseführern hinterher, andere genossen die ruhigen Mittagstunden auf den Treppen vor dem wohl bekanntesten Bauwerk der Stadt und verfolgen wie er, wie der Seewind den leichten Puderschnee aufwirbelte.
Er sah auf, als ihm jemand ein Brötchen vor die Nase hielt. „Ist vom Markt drüben am Hafen. Ganz frisch“, sagte sein Gesprächspartner und lächelte dabei breit. Ben konnte nicht anders als das Lächeln zu erwidern. Er war froh, dass er es endlich mal wieder geschafft hatte, nach Finnland zu kommen, um Mikael zu besuchen. Mikael. Einen Freund aus Schultagen, den er tot geglaubt hatte, der dann aber vor knapp sechs Jahren vor seiner Haustür gestanden hatte. Seit dem hatten sie viel durchgemacht und all diese Erlebnisse hatten sie noch enger zusammengeschweißt. Vor allem ein Unfall seines Freundes vor drei Jahren hatte ihre Beziehung zueinander gestärkt. Nach einem Sturz hatte er sich eine schwere Schädelverletzung zugezogen, hatte mehrere Wochen im Koma gelegen und lange gebraucht, bis er wieder seine alte Stelle als Hauptkommissar der Mordkommission annehmen konnte. 20 Monate nach dem Zwischenfall hatte man ihm eine Stelle als Dozent in der Polizeiakademie angeboten, seit einem Jahr war er wieder in der Mordkommission. Inzwischen hatte er eine Frau und zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Eine Familie, die er zuweilen an seiner Seite sehr vermisste. Er scheitert bereits daran, die richtige Frau für dieses Projekt zu finden.
Ben nahm den ersten Bissen von seinem Brötchen, während sich Mikael neben ihm hinsetzte. „Entschuldige, dass ich so lange gebraucht habe. Einige Deutsche waren nicht fähig den Weg zum Dom zu finden.“ Er begann laut und ergiebig zu lachen, so dass einige der Umherstehenden sie überrascht anblickten. „Nicht dass die Helsingin tuomiokirkko vom Hafen aus zu übersehen wäre.“ Mikael lehnte sich zurück. „Worauf hast du heute Lust? Seurasaari, die Uspenski-Kathedrale, Suomenlinna oder das Sibelius-Monumentti?“ Der deutsche Kommissar zog eine Augenbraue hoch. „Ähh… ich habe eigentlich keine Ahnung, wovon du überhaupt redest.“ Mikael zeigte auf ein kleines unscheinbares Gebäude gegenüber von ihnen an einer Ecke des Platzes. „Wir könnten auch in das Sederholm-Haus. Das ist das älteste Steingebäude in der Innenstadt und jetzt ein kleines Museum. Ich war dort mal mit Oskari.“ Der Finne schüttelte leicht den Kopf. „Nein…wobei, das ist nichts für dich Ben. Du würdest dich langweilen und ich will ja nicht, dass sich mein Gast in dieser Stadt langweilt.“ Mikael war aufgestanden. „Komm, ich weiß genau das Richtige für dich. Wir nehmen am besten die Raitioliikenne …“ Er schien Bens fragenden Blick zu bemerken und korrigierte sich. „…die Straßenbahn. Die Haltestelle ist gleich da drüben, an der anderen Seite des Senaatintori.“ Mikael zeigte in einer Richtung und der Braunhaarige begann zu nicken. Er stand nun ebenfalls auf und folgte Mikael über den Platz. „Wie Sie meinen Herr Stadtführer. Ich folge Ihnen auf Schritt und Tritt!“
„Das will ich auch hoffen, bei deinem Finnisch wärst du ja ohne mich hoffnungslos verloren.“
„Ihr könnt ja zum Glück alle sehr gut Englisch“, konterte Ben und lachte. Es war lange her, dass sie einen solchen entspannten Tag genossen hatten.
„Nun, da hast du natürlich Rech …“
Mikael kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Kurz bevor sie die Haltestelle erreicht hatten, durchzog ein ohrenzerreißender Knall das vorherrschende Sprachenwirrwarr. Eine Explosion. Ben spürte, wie die Druckwelle seinen Körper durchzog und ihn schlagartig von den Füßen riss. Er wurde einige Meter durch die Luft geschleudert, bevor ich unsanft auf Kopfsteinpflaster aufschlug. Glassplitter und Metallfetzen flogen durch die brennende Luft. Schreie hallten über den Platz. Bens Ohren klingelten von der Explosion, er hatte furchtbare Kopfschmerzen. Die Hitze des Feuers brannte unangenehm auf der Haut. Er richtete sich mühsam hoch und sah sich um. Dicker, beißender Rauch war um ihn gehüllt. Es roch nach verbranntem Fleisch. Weit entfernt hörte er eine Stimme nach ihm rufen und wenig später saß Mikael vor ihm. „Ben? Bist du okay?!“ Ohne dass Ben es wirklich wahrgenommen hatte, hatte sein Freund ihn hochgezogen und ein paar Meter weiter entfernt wieder zu Boden gelassen. „Mikael“, brachte er leise heraus, ehe der beißende Qualm ihn zum Husten brachte. Er spürte, wie die Hände des Finnen ihn nach einer Verletzung absuchten. „Tut dir was weh?“, fragte er nach einer Weile erneut. Er versuchte, sich zu konzentrieren. „Mein Kopf und mein Arm“, murmelte er schließlich. Er vernahm ein Nicken. „Bleib hier ganz ruhig sitzen. Es wird sicherlich nicht mehr lange dauern, bis die ersten Rettungskräfte eintreffen.“ Kurz, nachdem sein Freund den Satz ausgesprochen hatte, war er auch schon wieder aufgesprungen und in den dichten Rauch verschwunden. Ben kniff die Augen zusammen und öffnete sie nach einer Zeit wieder. So langsam begriff er das Ausmaß der Situation. Einer der Touristenbusse schien explodiert zu sein und stand nun lichterloh in Flammen. Überall lagen Glassplitter von den Scheiben des explodierten Busses. Irgendwo in dem Durcheinander, vor ihm, konnte er Mikaels Stimme wahrnehmen. Er sprach mal finnisch, mal englisch, mal deutsch. Ab und an stützte er einen der Verletzten und ließ ihn nur unmittelbar neben Ben nieder. Dann vernahm der Deutsche einen kurzen prüfenden Blick auf seine Person, ehe Mikael wieder verschwand. Dabei war es doch eher seine Aufgabe den Überfürsorglichen zu spielen.
Ben wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, aber plötzlich wimmelte es auf den Platz von Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften. „Perkele“, hörte er eine bekannte Stimme durch das aufgeregte Stimmengewusel fluchen und wenig später hatte sich ein junger Mann mit auffälligen grünen Strähnen in dem sonst schwarzen Haar vor ihm niedergelassen. Veikko. Einer von Mikaels Kollegen bei der Mordkommission. Intelligent, begnadeter Techniker, der ohne Probleme mit Hartmut mithalten konnte und ebenfalls seit einigen Jahren ein guter Freund von ihm. Wie Mikael zuvor suchte er ihn nach einer schlimmeren Verletzung ab, ehe Ben seine Arme fest umgriff. „Das-das hat Mikael schon gemacht“, nuschelte er leise.
„Wie geht’s dir Ben? Wo ist Mikael?“
„Ich weiß nicht, er-er ist irgendwo da drüben. Hilft den Verletzten…mein Kopf dröhnt. Meine Schulter tut weh und es rauscht fürchterlich in den Ohren.“
Veikko lächelte unsicher und rief etwas auf Finnisch durch das Chaos des Platzes. „Keine Sorge. Es kommt gleich ein Sanitäter und guckt sich das an.“ Wenig später hatte sich eine weitere Person neben dem jungen Kommissar niedergelassen und Ben verfolgte, wie er einige Worte mit Veikko wechselte, ehe er sich zu ihm wandte. Nur wenig später löste er seine Hände wieder und redete erneut mit Veikko. Er konnte ein Nicken des Finnen vernehmen. „Er sagt, du hast wahrscheinlich ein paar Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Sie werden dich auf jeden Fall mit zu einer Untersuchung mit ins Krankenhaus nehmen“, richtete er sich nun wieder an Ben. „Ich soll was? Ich…wenn es nur das ist, brauch ich nicht in ein Krankenhaus.“ Veikko zog eine Augenbraue hoch. „Ben, du solltest dich wirklich untersuchen lassen. Der Sanitäter hat nur einen kleinen Check gemacht. Er kann nicht ausschließen, dass du noch schlimmere Verletzungen hast.“ Der deutsche Kommissar blieb zunächst stumm. „Okay, wenn es denn sein muss“, schimpfte er schließlich und gab sich geschlagen, immerhin pochte es doch schon ganz schön in seinem Schädel.
„Ich möchte, dass ihr den Platz großräumig absperrt“, orderte Mikael einige der Polizisten an. „Sorgt mir dafür, dass keiner der lästigen Journalisten innerhalb der Absperrung auftaucht. Er zeigte auf einige der Uniformierten. „Du, du und du, ihr übernehmt die Befragung der ansprechbaren Zeugen.“ Er wandte seinen Blick über den Platz. Die Panik und Angst, die in der Luft lag, war noch spürbar. Das Chaos hatte sich seit dem Knall kaum gelegt und es war schwer sich überhaupt einen Überblick zu verschaffen. Beißender Rauch hatte sich in seinen Lungen festgesetzt. Sein Kopf dreht sich zu der Stelle, wo er Ben niedergelassen hatte. Er atmete auf. Veikko war bei ihm, und wie es schien, war Ben zumindest so weit in Ordnung, dass er bereits über irgendetwas diskutieren konnte. „Ist das dein Blut oder das der ganzen Leute?“, holte ihn eine Stimme zurück ins Hier und Jetzt. Vor ihm hatte sich sein Kollege, Antti Heikkinen, aufgebaut. Seine blauen Augen schienen ihn regelrecht zu durchbohren. Mikael blickte zum ersten Mal an sich herunter. Seine Klamotten waren an einigen Stellen zerrissen und man konnte einige tiefe Schnittwunden erahnen. Erst jetzt bemerkte er den ziehenden Schmerz und ließ seine linke Hand über seine rechte Seite gleiten. Das Blut sickerte langsam durch seine Finger. „Es ist also deins“, antworte Antti selbst, ohne auf seine Antwort zu warten. „Du solltest das untersuchen lassen.“ „Es geht mir gut“, sprach er leise. „Das ist das Adrenalin. Wenn das vergeht, kippst du um. Geh es untersuchen, ehe du noch mehr Blut verlierst.“ Er wollte erneut Gegenwehr leisten, doch Antti hatte nicht lange gezögert und ihn zu einem der Krankenwagen gezerrt. „Keine Widerrede. Das ist eine Anweisung von deinem Vorgesetzten.“ Antti blickte zu einem der Sanitäter. „Schau dir das an und wenn es schlimm ist, lass ihn ja nicht wieder laufen.“