Semirs Augen weiteten sich. Aus dem Nichts war Veikko einfach in sich zusammengefallen. Er hörte Tonteri unter sich lachen und drückte den Mann stärker zu Boden. Veikko hatte den Typen am Bein einen Streifschuss verpasst, das war jetzt sein Vorteil. Er wandte sich um, sah ein Auto, was auf der Motorhaube zerbeult war. Die Bremsgeräusche, das Hupen. Er hatte den Ursprung nicht sehen können, da eine Häuserecke ihm den Weg versperrt hatte, doch nun schienen sich die Puzzleteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Sorge stieg in ihm auf. Eine Frau hatte sich über den jungen Finnen gebeugt, ihn sanft geschüttelt, ohne eine Reaktion zu erhalten. „Geben Sie mir die Handschellen!“, schrie Semir sie an. Sie blickte auf, schaute ihn verwirrt an und wandte ihren Kopf wieder zu dem Verletzten. Semir überlegte fieberhaft. „I’m from the police. The handcuffs, please…i need the handcuffs“, versuchte er es nun auf Englisch. Endlich schien die Frau zu begreifen und reichte ihm, was er verlangte. Mit einem klicken, machte Semir den Mann um einen Laternenmast fest und hastete zu Veikko rüber. Er warf sich neben dem leblosen Körper auf die Knie und versetze ihm leichte Schläge gegen die Wangen. „Komm schon Veikko, wach bitte auf.“ Seine Finger fühlten den Puls und dem angstvollen Blick, wich Erleichterung. Er rüttelte ihn sanft. „Veikko Henrik Lindstöm, wach endlich wieder auf!“ Nach einigen Sekunden vernahm er ein leises Stöhnen und Veikko schlug die Augen auf. „Ich hab ganz kurz die Sterne gesehen“, brummte er und Semir lächelte. „Das habe ich gemerkt. Wie geht es dir?“ Erst jetzt fielen dem Deutschtürken die zahlreichen Schürfwunden unter Veikkos zerrissenem Pullover auf. Der Schwarzhaarige wollte sich aufrichten, ließ es jedoch bleiben, als Schmerzen sich erneut ihren Weg durch seinen Körper bahnten. „Ich glaube, meine Rippen haben was abbekommen“, stieß er keuchend hervor. „Ich kann kaum atmen….“ Er drückte seine Hand auf seine Seite, als könne er damit den Schmerz Einhalt gebieten. „Scheiße“, nuschelte er leise und schloss die Augen, „mein Kopf platzt.“
Semir zog sein Handy aus seiner Tasche und wählte eilig Anttis Nummer. Er brauchte ihn jetzt hier. Veikko musste dringend in ein Krankenhaus und irgendeiner musste sich um Tonteri kümmern. „Ja Antti…Semir hier“, meldete er sich und erkläre seinem Gesprächspartner kurz war vorgefallen war. Er konnte hören, dass Antti sich bei den Worten ‚Veikko wurde angefahren‘ in Bewegung setzte und zu seinem Auto hastete. Nur wenige Minuten später hielt der blaue Audi einige Meter von ihnen entfernt. Semir hatte es inzwischen geschafft den jungen Finnen von der Straße zu bugsieren. Er war kreidebleich und hatte die Augen geschlossen. Antti kam auf sie zugehastet. „Verdammt Veikko, was machst du für einen Scheiß“, schimpfe er und kniete sich zu seinem Partner runter. „Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Er kommt gleich…ich habe dir ja gesagt deine komische Sportart bringt dich noch einmal um.“ Semir sah ihn fragend an. „Du glaubst doch wohl nicht, dass wir eine solche Verbrecherverfolgung in der Ausbildung lernen. Freerunning nennt sich der Spaß.“ Veikko öffnete die Augen und zog die Luft scharf ein. „Ohne den Spaß, hätten wir sicher Tonteri nicht bekommen…und außerdem habe ich das Auto einfach übersehen, das Eine hatte mit dem anderen nichts zu tun“, presste er leise hervor und zog sich in die sitzende Position, wobei er mit einem Arm seine Rippengegend fest umklammerte. „Ihr solltet ihn euch vorknöpfen. Ich…komme hier schon irgendwie klar…“ „Veikko, beim besten Willen“, begann Antti, doch der junge Kommissar fuhr ihm dazwischen. „Nein. Ben und Eva zu finden hat Priorität. Ich bin jawohl alt genug, um auf einen Krankenwagen zu warten. Es ist okay, Antti, ich habe wirklich nicht viel abgekommen.“ Antti fuhr sich nachdenklich über das Kinn. „Gut, wie du meinst. Wir werden uns Tonteri vornehmen. Aber ich warne dich, wenn du nur einen Moment daran glaubst, gegen die Anweisung des Arztes zu handeln, dann lernst du mich kennen.“ „Jaja, Papa. Ich werde brav machen, was die Leute mir sagen.“
Hugo Tonteri saß regungslos da, starrte auf einen Punkt an der Wand. Antti, Semir und Kasper betrachteten ihn durch die Spiegelscheibe. Tonteri war bereits zwei Stunden alleine in dem Raum. Sein einziger Besuch war ein Doktor gewesen, der sich die Wunde am Bein angesehen war. Schließlich atmete Antti tief durch und betrat das Zimmer. Er ging um den Tisch herum und setze sich auf den gegenüberliegenden Stuhl.
„Wo sind sie?“ fragte er ohne Umschweife.
„Warum sollte ich Ihnen das sagen?“, gab Tonteri die Gegenfrage.
„Das Spiel ist aus. Sehen Sie das doch ein. Wo haben Sie Herrn Jäger und Frau Häkkinen versteckt?“
Tonteri starrte weiter auf den Punkt an der Wand. Antti lehnte sich in seinem Stuhl zurück, betrachtete den Mann vor sich. „Noch gibt es für Sie einen Ausweg Tonteri, wenn Sie uns jetzt helfen, dann könnte sich das positiv auf ihr Strafmaß auswirken.“
Hugo Tonteri erstarrte, löste seinen Blick von der Wand und sah Antti direkt in die Augen. „Wie geht es ihrem kleinen Kollegen. Er hat wohl nicht aufgepasst, als man ihm im Kindergarten beigebracht hat, wie man eine Straße überquert.“
„Hören Sie Tonteri. Sie kommen hier nicht raus, also hören Sie auf zu spielen. Sagen sie mir einfach, wo ich Herrn Jäger und Frau Häkkinen finde“, sagte Antti nun mit mehr Nachdruck.
„Man soll niemals nie sagen.“
„Wie?“
„Sie haben mich schon verstanden, Herr Heikkinen“, murmelte Tonteri und sah jetzt wieder auf die Wand.
„Ich möchte Edvin sprechen.“
„Wir sind hier nicht bei wünsch dir was.“
„Sie wollen ihre Kollegen finden. Holen Sie mir Edvin her.“
Antti erhob sich aus seinem Stuhl und bewegte sich zur Tür. „Gut ich werde sehen, was ich machen kann“, sagte er, ohne sich zu Tonteri umzusehen. Als er vor die Tür getreten war, erwarteten ihn Kasper und Semir. „Du willst ihm doch wohl nicht geben, was er verlangt“, fragte der deutsche Kollege und betrachtete den Verdächtigen durch das Spiegelfenster. Tonteri grinste selbstsicher in sich hinein. „Was soll ich deiner Meinung machen? Vielleicht kann Solheim ihn zum Reden bringen. Ein Versuch ist es wert, ich werde ihn herbestellen.“ Er machte eine Pause. „Habt ihr was von Veikko gehört?“ Seine Gesprächspartner schüttelten den Kopf.
„Sie haben mehrere Rippenprellungen, Schürfwunden und Hämatome am ganzen Körper und eine Gehirnerschütterung“, erklärte der Arzt. „Na dann kann ich ja jetzt gehen.“ Er setzte sich auf und sofort geriet seine Welt erneut in Schieflage. Ihm wurde übel und weiße Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. „Wohl eher nicht“, sagte der Arzt und legte seine Finger um seinen Arm. „Ich würde Sie gerne zur Beobachtung hierbehalten. Zumindest für eine Nacht.“ Er schüttelte den Kopf, bereute es jedoch sofort, als ein stechender Schmerz in sein Gehirn huschte. „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, protestierte er. „Herr Lindström, es ist nur zu ihrem Besten“, versuchte es der Arzt erneut. „Geben Sie mir einfach irgendwas gegen diese verdammten Schmerzen, aber ich werde nicht hierbleiben. Das ist unnötig!“ Der Mann gegenüber von ihm seufzte. „Gut, ich werde Ihrer Entlassung unter der Bedingung zustimmen, dass jemand in den nächsten zwölf Stunden bei Ihnen ist.“ „Jaja ich werde keine Minute unbeobachtet sein“, schimpfte er leise und verfolgte, wie der Arzt eine Notiz in seiner Akte machte. Er reichte ihm ein Rezept. „Ich habe ihnen ein Schmerzmittel aufgeschrieben. Sie werden es brauchen, mit Rippenprellungen ist nicht zu spaßen. Selbst die kleinste Atembewegung wird ihnen die nächsten Wochen Schmerzen bereiten.“ Veikko nickte genervt. Der Mann lächelte ihn an. Ein überlegenes Lächeln, was nichts Gutes verhieß. „Und ich bitte Sie, lassen Sie den Sport weg, bis die Schmerzen komplett nachgelassen haben.“
„Hugo.“ Edvin Solheim setzte sich gegenüber von seinem ehemaligen Freund. „Was willst du?“
Tonteri trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. „Ich habe gesehen, wie du immer wieder bei diesem Hansen warst“, sagte er.
Solheim zuckte mit den Schultern. „Du hast ihn erschießen wollen, Hugo und nun hast du seine Frau und Herrn Jäger in deiner Gewalt. Sag uns, wo wir Sie finden werden. Es ist nur zu deinem Besten.“
„Ich will Hansen und ihr bekommt die Beiden.“
„Du weißt, dass wir auf diesen Deal nicht eingehen werden“, antwortete Solheim und Tonteri lachte. „Ihr solltet auf diesen Deal eingehen.“
Solheim verschränkte die Arme vor der Brust. „Du lässt dein Handeln von deiner Rache vernebeln“, begann er. „Ich habe das auch gemacht und daher nicht gesehen, dass Mikael Häkkinen keinesfalls-“
„Hansen“, unterbrach ihn sein Gegenüber sofort. „Er heißt Hansen.“
„Dass Mikael Häkkinen keinesfalls an der Abhängigkeit meines Sohnes verantwortlich ist“, fuhr der Kommissar fort, ohne die Korrektur zu beachten.
„Wie hat er dich rumgekriegt?“, schimpfte Tonteri leise.
„Das warst du, als du auf den Jungen geschossen hast. Du hättest ihn fast umgebracht!“Der Verhaftete lachte auf.
„Das ist das Problem – fast.“
„Hugo, wo hast du seine Frau und Herrn Jäger versteckt?“
Tonteri blieb stumm, starrte wieder gegen die Wand. „Hugo“, sagte Solheim nun erneut. „Du solltest endlich kooperieren, du wirst so oder so hinter Gitter landen. Du hast schon so viele Menschen auf dem Gewissen.“
Der Mann sah ihn wieder an. „Wie viele sind heute im Park gestorben? Sag es mir.“ Seine Augen leuchteten.
„Darüber werde ich dir keine Auskunft geben“, sagte Solheim.
„Also einige. Ich sage dir Edvin, ich werde diese Stadt reinigen. Bald werden die Drogen hier ausgerottet sein! Diejenigen, die den Verfall dieser Stadt zugelassen haben, bestraft sein!“
„DU wirst überhaupt nichts, denn du wirst Helsinki für die nächsten Jahre nicht mehr sehen!“
Tonteri rollte mit den Augen. „Das glaubst du? Ich denke, dass ich schon sehr bald wieder rauskommen werde.“
Veeti Kinnunen sah, wie ein junger Mann über den Vorplatz des Präsidiums schritt. Sein Opfer lief langsam und bedacht. Er hatte gesehen, wie das Auto ihn umgenietet hatte, als er Hugo verfolgt hatte. Vermutlich bereitete ihm das Gehen Schmerzen. Dummerweise hatte er da seine Waffe im Auto liegen gelassen, so dass ihm keine andere Wahl blieb, als sich im Hintergrund zu halten und nun ihren ursprünglichen Plan zu ändern. Seine Anspannung wuchs und er streichelte über seine Waffe. Er atmete tief durch und trat aus dem Schatten des Baumes. Er entsicherte seine Schusswaffe. Es war Zeit, dass er Tonteri aus den Fängen der Polizei befreite.
Die Waffe schien aus dem Nichts zu erscheinen, ihr kalter Lauf presste sich in seine Seite und er stöhnte leise auf, als seinen Körper eine Schmerzwelle erfasste. Jemand zog seinen Kopf an den Haaren nach hinten. Eine heisere Stimme flüsterte: „Guten Tag, Herr Lindström. Es tut mir leid, aber Sie sind jetzt Hugos Fahrkarte nach draußen.“ Die Stimme wurde lauter und richtete sich nun an zwei Uniformierte, die vor ihm gelaufen waren und nun hektisch ihre Waffen gezogen hatten. „Runter damit oder ich werde ihren Kollegen auf der Stelle erschießen!“ „Hören Sie, Sie sind nicht dumm“, versuchte Veikko den Mann zu beruhigen. „Sie wissen, dass sie hier nicht wegkommen werden.“ Der Lauf der Waffe bohrte sich tiefer in sein Fleisch und er musste sich Mühe geben, nicht erneut vor Schmerzen aufzuheulen. ‚Gott muss mich hassen. Was für ein Scheißtag!‘, dachte er bei sich. Der Mann hinter ihm lachte leise. „Lass das mal meine Sorge sein“, zischte er, ehe er sein Wort wieder an die beiden Uniformierten richtete. „Ich sag es ein letztes Mal: Runter mit den Waffen!“ Die beiden Männer vor ihm ließen die Waffe verschüchtert auf den Boden gleiten und entfernten sich einige Meter.
„Antti“, Eetu Karjanen kam in den Vorraum des Vehörzimmers gerannt. Er stützte beide Hände auf seine Knie ab und rang schwer japsend nach Luft. „…Veikko er, er…“, Eetu schnaufte einige Male schwer, „…jemand hat ihn vor dem Präsidium als Geisel genommen. Er ruft nach dir!“ Sobald der junge Kollege die Worte ausgesprochen hatte, entglitten dem Kommissar alle Gesichtszüge. Er rannte in den Konferenzraum, dessen Fenster zum Vorplatz gingen. Dicht hinter ihm hörte er Kasper mit Semir reden. Er vermutete, dass Eetu in seiner Panik Finnisch gesprochen hatte und Semir keine Ahnung hatte, was hier vorging. Er selbst hatte nicht darauf geachtet, in welcher Sprache der junge Kollege sie angesprochen hatte. Für ihn war es egal. „Fuck“, entfuhr es Antti. Dort stand ein großgewachsener, kräftiger Mann mit einer Waffe, die er in Veikkos Seite bohrte. „Antti Heikkinen, ich habe ihren Partner. Kommen Sie und ich stelle meine Forderungen“, hörte er den Mann immer wieder schreien. Er hörte Schritte hinter sich. „Was geht hier vor, Antti“, ertönte es nach wenigen Augenblicken. Rautianen stand hinter ihm. „Ich weiß es nicht…ich habe gerade erst davon erfahren.“ Er drehte sich vom Fenster weg und hechtete zum Fahrstuhl. „Kasper, ich vertraue darauf, dass du hier oben das Kommando übernimmst.“ Semir sah nervös durch das Fenster. Veikko war im Schwitzkasten dieses Mannes. Er vermutete, dass es der Komplize von Tonteri war. Sein Aussehen passte zu den Daten, die der junge Kommissar ihm am morgen noch gegeben hatte. „Er wird verlangen, dass wir Hugo Tonteri gehen lassen“, murmelte Kasper neben ihm und machte damit deutlich, dass er exakt das Gleiche dachte, wie Semir. Er stützte den Arm gegen den Fensterrahmen und stöhnte auf. „Was für eine Kacke!“ Der Deutschtürke verfolgte, wie Antti an den Mann herantrat und etwas zu ihm sagte. Kurz darauf rammte der Mann seine Waffe Veikko kraftvoll in die Seite. Er hörte den Schrei, der aus der Kehle des jungen Kommissars entwich. Veikko war auf die Knie zusammengesunken, drückte seinen Arm um seine Rippen. Der Geiselnehmer hatte ihn kurz danach wieder an den Haaren nach oben gerissen, hielt ihm die Waffe an die Schläfe und schrie etwas in Anttis Richtung. So laut, dass wohl das ganze Präsidium mithören konnte. „Was sagt er?“, fragte Semir in den Raum, mit der Hoffnung, dass ihm irgendwer antworten würde. „Er sagt, dass wir zehn Minuten haben Tonteri gehen zu lassen, ansonsten könne er für das Leben von Veikko nicht garantieren“, antworte ihm Kasper mit tonloser Stimme. Semir nickte und verfolgte, wie Antti einige Schritte zurück ging und sein Handy ans Ohr drückte. Dem Deutschtürken war klar, dass Antti der Forderung nachkommen würde, aber ihm war auch klar, dass die Leute über ihm es nicht zulassen würden. „Mäkinen wird seiner Bitte nicht nachkommen“, murmelte Kasper leise. „Wir sind am Arsch.“