Solheims Augen weiteten sich, als er die Informationen über Brantkvist las. Das konnte alles kein Zufall sein! Eilig griff er nach seinem Telefon und wählte die Nummer von Antti Heikkinen. Seine Füße zappelten ungeduldig über den Fußboden. „Heikkinen, ich hab hier was, dass vielleicht für dich interessant sein könnte.“ Unruhig berichtete er seinem Gesprächspartner, dass seine Leiche einmal einer von Hansens Leuten war. „Weißt du, was das bedeutet? Mikael kannte diesen Mann, und soviel ich herausfinden konnte, ist Brantkvist im Viertel derjenige, der dir eine Waffe besorgt“, sprach er nervös in den Hörer.
Antti klappte sein Handy zu und bemerkte, dass alle Augen im Raum auf ihn gerichtet waren. „Solheim glaubt, er weiß, bei wem Mikael die Waffe geholt hat.“ Bens Augen begannen zu leuchten. „Und warum schaust du dann so betrübt? Das sind doch tolle Nachrichten!“ Antti schüttelte den Kopf. „Nein, leider überhaupt nicht … der Mann ist tot. Er wurde erschossen. Er kann uns nichts mehr sagen.“ Der deutsche Jungkommissar verstummte. „Wie erschossen?“, murmelte er ungläubig. Nein, dass konnte nicht sein. Ihr einziger Hinweis führte ins Leere. „Man hat ihn heute gefunden … es ist vermutlich vor zwei Tagen passiert.“ Antti setzte sich hin und massierte sich die Schläfen. „Das ist egal“, durchbrach Veikko die aufkommende Stille. „Wir gehen einfach davon aus, dass Brantkvist unser Mann ist und Mikael von ihm die Waffe hat. Er hätte uns sicherlich ohnehin nichts erzählt.“ „Und?“, fuhr ihm Kasper ins Wort, „das hilft uns, weil?“ „Unser Kernproblem ist doch, wie kommt die Mordwaffe in Mikaels Hände?“ Der junge Finne lief nervös in Richtung Tür, verschwand, um wenig später mit einem Haufen Notizen wieder durch die Tür zu stürmen. „Ich habe da doch irgendwo“, murmelte er und wühlte in seinen Papieren. „Ahh…ja hier!“ Ben trommelte mit den Fingern auf seinem Bein. Veikko wusste wirklich, wie man Spannung aufbaut. „An der Tatwaffe waren keine Fingerabdrücke.“ Ben entglitten alle Gesichtszüge und er stöhnte auf. „Das hilft uns nicht weiter, Veikko!“, schimpfte er. „Du machst so einen Wind für eine nutzlose Info.“ „Sie ist nicht nutzlos! Keine Fingerabdrücke? Das stinkt! Semir?...“ Veikko wandte sich zu dem Deutschtürken. „Hatte Mikael Handschuhe an, als er bei uns in der Wohnung war?“ Semir schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Er hatte keine an.“ Ben grinste, als er verstand, worauf der Finne hinaus wollte. „Du meinst, sie haben die Waffe erst im nachhinein ausgetauscht?“, harkte er nach. „Jep, genau! Irgendwer spielt ein doppeltes Spiel.“
„Woher wusste er, welche Waffe Mikael bei sich tragen würde?“, warf nun Kasper ein und fuhr sich über die Haare. „Nun, es war jemand, der das Viertel kannte, der wusste wer Brantkvist war und der auch wusste, dass Mikael bei ihm auftauchen würde. Ein bisschen Geld und er dreht ihm die gleiche Waffe an, die du für einen Mord benutzt.“ Ben nickte nachdenklich. „Aber all das können wir nun nicht mehr beweisen, da dieser Brantkvist eine Kugel in der Brust hat.“ „Wir sollten die Staatsanwaltschaft trotzdem mit der Tatsache konfrontieren, dass aus irgendeinem Grund keine Fingerabdrücke an der Tatwaffe waren“, ertönte Anttis Stimme und der Blonde griff nach dem Telefon. „Veikko, Kasper … ich will das ihr in dieses Viertel fahrt und euch noch einmal umhört. Vielleicht ist den Leuten dort ja jemand von außerhalb aufgefallen und ich bin mir sicher, dort fällt jemand auf, der nicht da hingehört.“ Ben erhob sich ebenfalls, wurde jedoch von Semir zurückgehalten. „Das ist kein Ort, wo du mitgehen solltest, Partner“, beteuerte er. „Aber!“ Semir lächelte. „Nichts aber, setz dich wieder hin…“ Ben verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich denke, ich kann auf mich aufpassen. Lass mich mitgehen!“ „Benimm dich nicht, wie ein trotziges Kind … du wirst hierbleiben.“ „Wir werden auf ihn aufpassen“, mischte sich Veikko ein. „Es ist nicht so, als würde man dort auf der Straße erschossen werden.“ „Siehst du Semir … du übertreibst mal wieder!“
*
Hugo Tonteri sah auf die Uhr, welche an der Wand hing, seine Augen folgten dem Zeiger Minute für Minute. Sein Blick löste sich erst, als ein Mann Mitte 30 durch die Tür trat und sich neben ihn setzte. Er bestellte zwei Wodkas. „Hansen wird da nicht so schnell rauskommen, Hugo“, begann der Mann zu berichten. Tonteri lächelte in sich hinein. Es war doch tatsächlich alles so gelaufen, wie er es geplant hatte. Nachdem er gemeinsam mit Veeti geflüchtet war, hatte sein Partner kalte Füße bekommen, als er gehört hatte, dass der kleine Hansen sie suchen würde. Er wollte zur Polizei gehen. Da war der perfekte Plan in ihm gereift. Was war besser, als ihn die Strafe eines Mörders tatsächlich absitzen zu lassen? Es war schade um Veeti, aber er war sich sicher im Nachhinein hatte sein Freund dieses Opfer sicher gerne begangen. „Was ist mit seinen Freunden? Schöpfen die Verdacht?“ Der Mann neben ihm lächelte. „Sie suchen verzweifelt, finden aber nichts …“ Er lachte. „Das ist gut. Sehr gut!“ Er nahm das Glas in die Hand und schwenkte es vor seiner Nase. Er wünschte, dass er den kleinen Hansen im Knast sehen konnte. Vielleicht konnte er jemanden in die U-Haft schleusen, der dem Jungen den Aufenthalt noch etwas spaßiger machen würde? Es war auf jeden Fall wert, darüber nachzudenken.
Er stellte das Glas wieder hin. Zunächst hatte er noch andere Pläne, die er verwirklichen wollte. Tonteri stand auf. „Kommst du, wir haben noch etwas zu erledigen. Das Verbrechen schläft nicht und es wird Zeit eine Keimzelle des Bösen aus dem Weg zu räumen.“ Sein Gesprächspartner nickte und folgte ihm aus der Tür. Er lächelte in sich hinein. Wie leicht es doch gewesen war, Veeti zu ersetzen.
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Veikko drücke ihm einen Schlüssel in die Hand. Er sah verwirrt auf den Gegenstand in seinen Fingern. „Was?“ Der junge Finne zeigte auf ein Haus hinter ihnen. „Dritter Stock, links…“ „Und? Was ist da? Ich verstehe immer noch nicht, was der werte Herr von mir möchte?“ Veikko lehnte sich an das Haus. „Hansens alte Wohnung. Mikael bezahlt immer noch die Miete, also schaust du nach, ob du da was findest. Irgendwo muss er gesteckt haben, als er verschwunden war. Wir befragen ein paar Leute.“ „Erst befreist du mich aus Semirs Klauen, um mich dann auszuschließen oder wie? Ich bin mir sicher, dass ihr die Wohnung schon lange gecheckt habt.“ Seine Stimme bebte vor Empörung. Er wollte richtig helfen und nicht alte Wohnungen durchstöbern! „Sinä et puhu suomea!“, antwortete ihm Veikko. Ben sah ihn fragend an, legte die Stirn in Falten. „Och komm, der Diskussion mit Finnisch aus dem Weg gehen. Was denkst du denn?“ „Das war die Antwort auf deine Frage…“, sagte Veikko und nickte Kasper zu. „Du Wohnung, wir finnische Menschen. Jetzt verstanden?“ So langsam sickerte es zu Ben durch, was Veikko mit dem finnischen Satz andeuten wollte. Er seufzte auf. „Jaja ich habe kapiert, dass ich nicht helfen kann.“
Während die beiden Kommissare die Straße hochliefen, betrat Ben das Haus vor sich und stiefelte die steinernen Treppen herauf, bis er im dritten Stock angekommen war. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehe ihn zur Seite und zog die Wohnungstür vor sich auf und trat in die kleine Wohnung. Dafür das Hansen in Köln ein dickes Anwesen gehabt hatte, war das hier eine Bruchbude. Was war passiert? Der Mann hatte genug Geld gehabt, warum lebte er also dennoch auf so kleinsten Raum? Vielleicht wollte er unerkannt bleiben? Hier, wo man unter sich ist und niemand über den anderen ein Wort an die Polizei verliert? Er ging weiter in die Wohnung und glitt mit den Fingern über die hölzerne Kommode. Seltsamerweise fand er keinen Krümel Staub vor. Sein Blick blieb an einem Bild haften. Es zeigte Mikael und seine Eltern. Man könnte denken, dass es eine normale Familie war, wenn man es nicht besser wüsste. Er lief weiter und landete in Mikaels altem Zimmer, der einzige Raum, der fast komplett leergeräumt war. Einzig ein Bett und ein Schreibtisch standen noch drin. An der Wand hingen Poster von Eishockey-Stars. Auf dem Tisch lagen Fotos verteilt. Auf einem das ganz oben lag, erkannte er seinen Vater im Alter von vielleicht 25. Neugierig schob er das Foto das darüber lag zur Seite. Er brauchte einige Zeit, bis er verstand, das der Mann der neben seinem Vater in die Kamera grinste, nicht Mikael war, sondern Andreas Hansen. Sie sahen glücklich aus. Er legte das Bild wieder zurück und schob einige andere Bilder auf dem Schreibtisch hin und her. Den Großteil der abgebildeten Menschen kannte er nicht. Einzig Joshua, den er bei ihrem ersten gemeinsamen Fall kennengelernt hatte, konnte er auf den älteren Aufnahmen, auf denen Mikael vielleicht 16/17 war ausmachen. Ab und an meinte er auf Gruppenfotos der Polizeiakademie Veikko, Eva oder Kasper zu erkennen.
Er löste sich von dem Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Helsinki wirkte von hier aus im Winter sogar noch trostloser, als ohnehin schon. Grau in Grau präsentieren sich die Häuser um ihn herum. Es war unübersehbar, dass Mikael diese Wohnung selbst putze oder putzen ließ. Was zur Hölle brachte ihn dazu, dieses schäbige Ding überhaupt noch zu behalten? Er schüttelte den Kopf. Mikael war manchmal wirklich nicht zu verstehen. In dem einen Augenblick hasste er alles, was mit seiner Vergangenheit zutun hatte, in dem anderen behielt er die alte Wohnung seiner Eltern.
„Du wusstest nichts hiervon?“ Ben fuhr erschrocken rum. Kasper stand nur wenige Meter hinter ihm. Er schüttelte den Kopf. „Vielleicht fiel es ihm schwer, dir davon zu erzählen, nach all dem was sein Vater dir angetan hat.“ Der deutsche Kommissar nickte. „Vielleicht.“ „Er hat mir mal gesagt, dass es eine Art Mahnmal ist. An eine Zeit, in der alles begann auseinanderzufallen.“ Ben sah auf und blickte in Kaspers Augen. „Es sieht nicht so aus. Es sieht vielmehr danach aus, als wäre es eine Zeit, in der er glücklich gewesen war … diese Fotos. Das Porträt im Flur…“ Er schluckte und sah wieder aus dem Fenster. Er hörte das Klicken eines Feuerzeuges hinter sich. „Sag das bloß nicht Mikael“, murmelte Kasper leise und wenig später roch es nach Zigarettenqualm. „Weißt du Ben, als meine kleine Schwester starb, kurz danach hatten wir ein Fotoshooting, weil mein Vater irgendeinen tollen Richterposten bekam.“ „Und?“ „Es war heuchlerisch. Wir haben nett in die Kamera gegrinst, obwohl wir viel lieber geweint hätten. Ein Foto zeigt oft die Wirklichkeit, wie wir sie gerne hätten.“ Er trat näher an Ben heran. „Ich bin sicherlich nicht der Richtige hierfür, ich kenne Mikael dafür noch nicht lange genug, aber ich kann dir sagen, dass er sich in keiner Minute seines Lebens an diese Zeit zurücksehnt. Vielleicht an die Zeit, wo sein Vater wirklich ein Vater war, aber nicht an die Zeit, in der er ihm alles genommen hat.“
„Ich weiß überhaupt nicht, was der alte Kram uns helfen soll Mikael zu entlasten!“, schimpfte Ben und drehte sich vom Fenster weg. Diese Wohnung erdrückte ihn, gab Rätsel auf, die er nicht lösen konnte. Ließ ihn daran zweifeln, ob er seinen Freund überhaupt richtig kannte. Er wollte aus dem Raum stürmen, krachte jedoch mit Veikko zusammen, der laut aufstöhnte. Der Finne krümmte sich leicht zusammen und schnappte nach Luft. „Himmel…was ist denn los?! Schau doch nach vorne…Scheiße…“ „Lasst mich einfach, okay!“ Er rannte weiter und flüchtete auf die Straße. Er zog die kalte Luft ein und schloss die Augen. Warum war auch alles immer so kompliziert? „Arrghh!“ Er ließ sich auf den Bordstein fallen und bettete den Kopf in seinen Händen. „Ben?“ Veikko setzte sich neben ihm. „Was ist los?“ „Nichts.“ „Sicher … nichts“, wiederholte der Finne mit sarkastischem Unterton. „Ich bin mir einfach nicht mehr sicher, ob ich wirklich weiß, wer Mikael ist … das ganze hier. Er kennt Leute, von denen ich nie gedacht habe, dass er sie kennt. Er hat eine Wohnung in einem der kriminellsten Viertel von Helsinki. Er … du hast ihn nicht gesehen, als er auf Tonteri los ist, als er dachte, dass Eva …“, seine Stimme stockte und er schüttelte nur den Kopf. „Das ist alles?“, fragte Veikko leicht irritiert. „Dir macht das also nichts!?“ Ben sprang auf und funkelte Veikko wütend an. „Er benimmt sich, als wäre er sein Vater!“ Der Finne schien von seinem Wutanfall unbeeindruckt. „Du steigerst dich in etwas rein Ben … all diese Sachen denkst du nur, weil du ihm gerade nicht helfen kannst…“ „Ach ja!? Dann erklär es mir!“ Veikko lächelte. „Natürlich kennt er solche Leute, sieh dich um Ben…dieses Viertel ist voll von solchen Menschen. Das kannst du nicht einfach so hinter dir lassen mit einem Fingerschnipsen. Die Wohnung hat Mikaels Tante bezahlt, bis er 18 war, danach hat er selbst darin gewohnt, bis wir die Polizeiakademie abgeschlossen hatten. Das ist ein billiges Viertel und mehr konnte er sich nun einmal auch nicht leisten und ja, Mikael rastet schnell aus, aber das kannst du kaum seinem Vater zuschreiben.“ Der Braunhaarige blieb stumm und nickte. Dann jedoch erweckte eine Erwähnung seine Aufmerksamkeit. „Mikaels Tante? Ich dachte er hat zu seiner Familie keinen Kontakt mehr…?“ „Hat er auch nicht mehr … keine Angst, er hat dich nicht belogen.“ Veikko hielt ihm die Hand hin. „Und nun, komm hoch, sonst holst du dir noch was.“ Ben stand auf und sah die Fassade hoch. „Kannst du mich zu Eva bringen … ich denke ich bin heute keine wirklich große Hilfe mehr.“ Veikko lächelte. „Sicher, sobald Kasper fertig ist, bringen wir dich zu ihr.“