Semir sah die Hauswand nach oben. Hinter einigen Fenstern war Licht zu erkennen. Sein Instinkt hatte Recht gehabt und Mikael war tatsächlich hierher gekommen. Eilig verschaffte er sich mit einem Ersatzschlüssel Zutritt zum Wohnungskomplex. Die Wohnungstür von Ben war nur leicht angelehnt und er schob sie langsam auf und trat herein. Es dauerte nicht lange und er vernahm ein leises Schluchzen aus dem Wohnzimmer. „Mikael?“, rief er, doch er erhielt keine Antwort. Als er das Zimmer betrat, stockte ihm der Atem. Mikael saß vor dem Regal. Sein Kopf hing herunter und er betrachtete ein Foto in einem Bilderrahmen, welches er mit der linken Hand fest umklammerte. Bei näherem Hinsehen sah Semir, dass die Hand voller Blut war. Der Bilderrahmen war kaputt und eine der Glasscherben bohrte sich in Mikaels Hand. Auch um Mikael herum waren zahlreiche Fotos verteilt. Seine andere Hand umklammerte krampfhaft eine Wodkaflasche, die zu einem Drittel geleert war. Semir machte weitere Schritte auf den jungen Mann zu und fasste ihn an die Schulter. „Mikael?“, sagte er behutsam. Der Angesprochene sah nicht auf und betrachtete weiterhin das Foto. „Ees ist alles meine Sschuld“, lallte er und drückte die Hand enger um das Foto. Blut tropfte von Mikaels Hand auf die Jeans des Finnen, die aber ohnehin schon an einigen Stellen mit Dreck und Wodka besudelt war. Semir kniete sich vor Mikael und griff nach dem Hals der Wodkaflasche, doch dieser umgriff sie sofort fester. Seine Augen starrten ihn an. „Das ist mmeins!“ „Mikael, du hattest genug. Bitte gib mir die Flasche“, sprach er ihm gut zu, doch der Finne schüttelte energisch den Kopf und drückte dabei die Flasche an sich, wie ein kleines Kind, was er beschützen musste. „Mikael, komm, dass bist du nicht. Gib mir bitte die Flasche. Du hast genug gehabt“, versuchte er es abermals, griff wieder nach der Flasche und zog sanft daran, doch er hatte keine Chance. Mikael zog die Flasche sofort wieder zurück. Seine blauen Augen funkelten ihn wütend an. „LLLASS MICH IN RUHE!“ „Du bist betrunken Mikael“, gab ihm Semir zu verstehen und gab sich Mühe seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, um Mikael nicht noch mehr in Rage zu bringen. Der Finne starrte ihn lange an, schien nicht zu begreifen worauf er hinauswollte. „Und?“, murmelte er schließlich. „Ich mache mir Sorgen, komm schon … gib mir die Flasche. Mach es nicht noch schlimmer.“
Mikael warf das Foto an die Wand, wo das Glas des Rahmens nun endgültig in kleine Einzelteile zersprang. „Lass mich!“, schrie er wütend. Semir wollte ihn an den Schultern packen, doch der Betrunkene entwickelte ungeahnte Kräfte und stieß ihn von sich. Er stolperte einige Schritte zurück und trat auf etwas, das am Boden lag. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er erkannte was es war. Eine Waffe lag in der unmittelbaren Nähe des verzweifelten Polizisten. „Mikael, was macht das hier?“, wollte er wissen und griff danach, ehe der Finne durch seinen vernebelten Verstand ihm zuvorkommen konnte und steckte sie in seinen Hosenbund. Mikael lachte und nahm einen großen Schluck aus der Flasche in seiner Hand. „Was denkst d-du? Ich … ich hätte nie zurückkommen … Ben …“, schluchzte er. „Sag so etwas nicht. Das stimmt nicht“, redete ihm Semir gut zu, doch er stieß auf taube Ohren. Mikael wollte ihm nicht zuhören. „Nnatürlich stimmt es!“, wütete Mikael. „Bitte gib mir die Flasche“, ermahnte er ihn abermals. Der Schwarzhaarige zog die Flasche enger an sich und lachte. „Nnein, dass ist meine … ich habe sie von meinem Geld b-bezahlt!“ „Mikael, du hattest genug!“, gab ihm Semir nun ungeduldig zu verstehen. Der Finne sah ihn verständnislos an. „Wer entscheidet das? DU?! DU BIST NICHT MEIN VATER, DER IST TOT!“ Er verfiel in ein Lachen. „Er ist tot, genau wie meine Mutter oder Joshua …“, das Lachen ebbte ab und veränderte sich in ein bitterliches Schluchzen. „Joshua ist tot“, murmelte er kaum hörbar, „tot.“ Mikael wollte die Wodkaflasche abermals an seine Lippen setzen, doch diesmal wusste er es zu verhindern. Er griff danach und nahm die Flasche trotz massiver Gegenwehr an sich. „Wirklich Mikael. Es reicht jetzt! Du hattest schon viel zu viel von dem Mistzeug“, sagte er mit bestimmter Stimme. Der Deutschtürke stand auf und begab sich in Richtung Küche und schüttete dort den verbliebenen Inhalt der Flasche demonstrativ in den Abfluss. Er hörte, wie Mikael hinter ihm herstolperte, jedoch nach wenigen Metern das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel und nun aufgebracht auf Finnisch fluchte, ehe er begann bitterlich zu weinen. Semir drehte sich um und fand Mikael auf allen Vieren auf dem Eichenparkett wieder. „Nnein, ich bbrauche sie doch!“, schrie er aufgebracht und schlug mit der Faust wütend auf den Fußboden. Immer und immer wieder traf die Faust auf das massive Holz. Tränen liefen über seine Wangen und tropften von seinem Kinn auf den Boden. „Bben …“, schluchzte der Schwarzhaarige leise hervor. Langsam ging er auf den Finnen zu und hob ihn ein Stückchen hoch, bis er vor ihm hockte und zog ihn an sich. „Alles wird gut Mikael. Es wird wieder in Ordnung kommen“, redete er ihm gut zu. Mikael wehrte sich, kämpfte gegen ihn an und drückte ihn von sich. „LASS MICH!“, schrie er wütend und hievte sich auf die Beine, fiel jedoch nach einigen wackeligen Schritten wieder auf die Erde, um erneut in einen Weinkrampf zu verfallen. „Bitte, du musst dich beruhigen.“ All sein Zureden fand keinen Adressaten mehr. Der Finne schien vollkommen weggetreten zu sein. Alle seine Sinne waren vom Alkohol vernebelt.
Urplötzlich hielt Mikael inne, blieb lange ruhig. Seine rotunterlaufenen, glasigen Augen blickten ihn an. „M...mir ist schlecht“, würgte er leise hervor. Sofort schrillten alle Alarmglocken bei Semir. Doch er reagierte nicht schnell genug. Noch ehe er Mikael hochziehen und in Richtung Bad ziehen konnte, krampfte sich der Körper des Schwarzhaarigen zusammen und er erbrach sich auf den Boden. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn und die Arme, mit denen sich der Finne am Fußboden abstützte, zitterten. Semir wartete, bis der erste Schwall vorüber war und half ihm dann sich aufzurichten. Mikael klammerte sich unbeholfen an ihm fest. „Der Boden … be-bewegt sich … m-mir ist übel …“ „Ich bring dich ins Bad“, erzählte Semir ihm mit ruhiger Stimme und zog Mikael, der nur schwerfällig einen Fuß vor den anderen setzte, mit sich. Mikael konnte sich kaum auf den Beinen halten und übergab sich immer wieder auf den Fußboden. Als sie endlich im Bad angekommen waren, ließ Semir ihn vor der Kloschüssel nieder. Mikael kniete davor und erbrach sich stöhnend, während die Hände die Toilette zitternd umklammerten. Alarmiert beobachtete Semir, wie sich die Augen des finnischen Kommissars immer wieder für einen Moment schlossen, bis er erneut brechen musste. Er musste darauf achten, dass er nicht einschlief oder womöglich sogar das Bewusstsein verlor. Das wäre in diesem Zustand fatal. Es dauerte einige Minuten, bis Mikael seinen Kopf erschöpft auf den Rand des Klos legte ohne darauf zu achten, ob er geradewegs in Erbrochenem landen würde. „Hey, nicht einschlafen hörst du!“ Semir zog Mikael hoch und tätschelte ihm sanft die Wangen. Die Lider des Schwarzhaarigen flatterten kurz, ehe sie sich erneut schlossen. „Nein, nein du bleibst wach. Du wirst jetzt nicht einschlafen!“ Er rüttelte ihn sanft. Mikael sah ihn erschöpft an, beugte sich dann abermals über die Kloschüssel und erbrach sich erneut. Schweiß tropfte von der Stirn und alle Farbe war aus dem Gesicht des jungen Mannes gewichen. Schließlich schien es vorüber zu sein. Semir wartete noch einige Minuten ab, ehe er nach einem Handtuch griff und es über den Waschbecken mit warmem Wasser befeuchtete. Er kniete sich vor Mikael hin, der weiterhin nur noch mit großer Mühe seine Augen offen behielt und wischte mit dem nassen Handtuch das Erbrochene aus seinem Gesicht und von der Jacke. Sein Blick fiel auf die Kloschüssel. Auch dort fanden sich einige stinkende Reste, sowie verschmiertes Blut von Mikaels Hand. Er sah kurz auf Mikael und entschied sich dafür sich erst einmal um ihn zu kümmern. Die hinterlassene Sauerei konnte erst einmal warten. Er hob ihn vorsichtig an und bugsierte ihn in Richtung des Sofas im Wohnzimmer, wo er ihn hinsetzte. Danach verschwand er kurz und durchwühlte Bens Medizinschrank nach etwas Verbandszeug. „Komm, zeig mal deine Hand“, gab er Mikael mit fester Stimme zu verstehen. Die glasigen Augen starrten ihn an, ohne dass er seinem Wunsch nachkam. Schließlich griff Semir selbst nach der Hand. Er warf einen genauen Blick auf die Wunde. Sie war ziemlich tief. Vorsichtig wickelte er die Hand ein. Mikaels Kopf war inzwischen nach vorne gefallen, lehnte an seiner Schulter, was es nicht wirklich einfacher machte, sich um die verletzte Hand zu kümmern. Als er fertig war, löste er den schlaffen Körper langsam von sich und hob die Beine des Finnen auf das Sofa und legte ihn vorsichtig hin, ohne dass er aufwachte. Der Deutschtürke suchte einige Decken zusammen, die er über Mikael legte. Danach griff er schnell nach seinem Handy und benachrichtigte Andrea, was passiert war, wenn er auch das ein oder andere Detail ausließ. Als er das Gespräch beendet hatte, legte er das Handy auf den Tisch und betrachte Mikael. Er wusste, dass er ihn die nächsten Stunden besser nicht aus den Augen lassen sollte. Wenn er sich in diesem Zustand erbrach, konnte er daran ersticken. Die Flasche war fast leer gewesen, vielleicht war er sogar an der Schwelle zu einer schweren Alkoholvergiftung. In den letzten Minuten hatte Semir mehrmals überlegt, ob es nicht besser war einen Krankenwagen zu rufen, aber er wollte ihm einfach diese peinliche Situation ersparen und jetzt schien es, als wäre alles in einem Rahmen, wo es nicht gefährlich war. Er beobachte einige Minuten, wie die Brust des Finnen sich regelmäßig hob und senkte, ehe er das Zimmer scannte. Mikael hatte ein komplettes Chaos hinterlassen. Fotos lagen überall zerstreut. Der kleine Glastisch war in seine Einzelteile zersprungen, ebenso der Bilderrahmen. Sein Blick blieb auf der Pfütze von Erbrochenem hängen. Es seufzte und erhob sich, um den Fußboden zu reinigen. Der säuerliche Gestank sorgte dafür, dass Semir für einen kurzen Moment davor war sich ebenfalls zu erbrechen, doch es gelang ihm seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Immer wieder warf er einen prüfenden Blick auf Mikael. Ihm durfte keine Änderung am Zustand des Betrunkenen entgehen. Als er den Wischer wieder weggestellt hatte, fielen seine Augen abermals auf das Durcheinander, was Mikael angerichtet hatte. Kurzerhand entschloss er sich dazu, zumindest die Fotos wieder zusammenzuräumen. Er lächelte, als er einige Bilder sah, wo Mikael und Ben als Jugendliche abgebildet waren. Die beiden Jungs grinsten breit in die Kamera, als gäbe es auf dieser Welt keine Sorgen. Er atmete schwer auf und packte die Bilder schnell in die Schachtel, die er schließlich wieder ins Regal stellte. Danach setzte er sich wieder auf den Sessel und beobachtete Mikael. Er fühlte sich, als hätte er einmal mehr versagt. Er hatte nicht mitbekommen, dass Mikael so nahe am Abgrund gestanden hatte. Er hatte geglaubt, dass er nur unter Schock stand, in ein paar Tagen wieder in Ordnung kommen würde. So war es immer gewesen. Mikael hatte all diese Dinge so schnell weggesteckt. Zu schnell, wie sich jetzt herausstellte. Er erinnerte sich an Mikaels Worte auf dem Hof. Ich habe Angst mich zu verlieren. Ihm wurde immer klarer, dass das keine leeren Worte waren. Mikael war dabei sich zu verlieren und die Sache mit Ben hatte diesen Prozess um ein vielfaches beschleunigt.
Auf dem Tisch vibrierte sein Smartphone. Er wollte es ignorieren, doch dann erschien Anttis Name auf dem Display. Er hatte vollkommen vergessen, ihn zu benachrichtigen. „Ja“, meldete er sich. „Hast du ihn gefunden? Geht es ihm gut? … Er ist doch in Ordnung?“, wollte sein Gegenüber wissen und Semir kam nicht umher zu bemerken, wie die Stimme des Anrufers bebte. „Ja, er war in Bens Wohnung“, er machte eine Pause. „Er war betrunken Antti und nicht er selbst. Ich mache mir Sorgen … im Moment schläft er.“ Er vernahm ein Seufzen von der anderen Seite der Leitung. „Ich bin auf dem Weg zum Flughafen und werde den nächstbesten Flieger nehmen. Hast du ihn solange im Auge?“ „Ja. Ich werde ihn im Blick behalten.“ Antti bedankte sich und legte dann auf. Semir war wieder alleine mit seinen Gedanken.