Einige Meter unter ihm lag Ben am Rande einer etwas größeren Pfütze, in der Eisbrocken schwammen. Ein Bein und eine Hand lagen halb im Wasser, das allerdings eine dunklere Färbung als normal angenommen hatte, vor allem um seinen Freund herum, denn aus dessen Leiste floss ein stetiger Strom und nun wusste Semir auch, was das Wasser dunkler färbte-es war Ben´s Blut. Er schrie voller Entsetzen: „Ben-was ist los-warte ich komme zu dir!“ denn es war noch kein Auto mit dem Höhlenschlüssel in Sicht, aber der dunkelhaarige Polizist reagierte nicht-war er etwa schon tot? Hektisch prüfte der kleine Türke die Möglichkeiten dort runter zu kommen und es war zwar ein wenig abenteuerlich, aber getrieben von der Sorge um seinen besten Freund, klemmte er sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und machte sich an den riskanten Abstieg. Wenn er abrutschte würde er mitten in dem kleinen, flachen See landen und sich sicher schwer verletzen, also durfte das einfach nicht geschehen. Die Dunkelheit, die nur durch den Strahl der Taschenlampe, der aber jetzt ganz woanders hin leuchtete, erhellt wurde, war gespenstisch und Semir tastete sich Stück für Stück durch den zerklüfteten Fels und kletterte flink wie ein Affe nach unten.
Endlich war er am Boden der Höhle angelangt und auch wenn er von seinem raschen Aufstieg und der Kletterpartie eigentlich erhitzt war, bemerkte er doch, dass die Temperatur in der Höhle eisig war, wie in einem Kühlschrank. Er nahm die Taschenlampe wieder in die Hand und war mit wenigen Schritten bei seinem Freund und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Das Blut strömte immer noch aus dessen Leiste, also lebte er wohl noch und als Semir jetzt die bleichen Wangen tätschelte und dabei den kalten, klebrigen Schweiß fühlte, der den ganzen Körper seines Freundes bedeckte und der sicherlich nicht davon kam, dass ihm so warm war, schlug er plötzlich unendlich müde die Augen auf, die in tiefen Höhlen lagen und dunkel umrändert waren. „Semir lass mich gehen!“ flüsterte er, aber der hatte schon sein langärmliges Shirt ausgezogen, das er über dem T-Shirt und der Jeans trug und drückte es nun mit Kraft auf die Leistenverletzung. Mit geübtem Polizistenblick hatte er auch erfasst, woher diese stark blutende Verletzung kam-neben Ben´s erschlaffter Hand lag ein blutiger scharfer Stein und die Wunde hatte keine sauberen Schnittränder, sondern sah aus, als hätte da jemand dilettantisch herum gesäbelt-verdammt, das war ein Selbstmordversuch gewesen, aber warum zum Teufel hatte Ben das gemacht? Außerdem musste das ganz schön weh getan haben, wie verzweifelt musste man sein, sich derart zu verletzen? Ben hatte doch wissen müssen, dass er als sein bester Freund alles stehen und liegen lassen und ihn suchen und finden würde. Und so schwer war es jetzt auch nicht gewesen, mit ein wenig Zeit hätten sie ihn vermutlich auch mit der systematischen Suche gefunden.
Semir musste schon ein wenig Kraft aufwenden, um die Blutung zum Stehen zu bringen, aber es gelang ihm und jetzt musste Ben so schnell wie möglich medizinisch versorgt werden. Der verzog auch keine Miene, dabei drückte Semir ziemlich fest und hatte im Licht der Taschenlampe, die er jetzt so neben sich gelegt hatte, dass sie den Körper seines Freundes beleuchtete, die anderen sichtbaren Verletzungen mit den Augen gescannt. Er hatte unter dem vormals blütenweißen Hemd, das jetzt schmutzig und an manchen Stellen blutig war, eine Verletzung an der Seite-vermutlich eine Schussverletzung, die aber nicht sonderlich schlimm zu sein schien und noch eine weitere am Oberarm. Die war zwar wohl tiefer und vielleicht hatte die Kugel auch den Knochen durchschlagen, aber mit Sicherheit hatte Ben schon wesentlich schwerere Verwundungen gehabt, die alle folgenlos ausgeheilt waren-warum zum Teufel hatte er dann versucht, sich umzubringen? Ben schlug nun erneut die Augen auf und flüsterte unendlich müde: „Semir hör auf-lass mich gehen-ich mag nicht mehr. Sarah soll keinen Krüppel im Haus haben, der ihr nur Arbeit und Sorgen macht!“ und nun traf es Semir wie ein Schlag und er wusste plötzlich warum Ben so überhaupt keine Schmerzen in der Leiste zu empfinden schien, warum seine Beine so schlaff da lagen und konnte jetzt auch verstehen, warum er versucht hatte, sich umzubringen-er hatte sich das Kreuz gebrochen!
„Ben-bleib bei mir, hörst du? Wir kriegen das. Auch wenn du querschnittgelähmt bist-es gibt heute so tolle Rollstühle, wir helfen dir alle und auch du wirst wieder glücklich sein, ich versprechs dir!“ sagte er und war sich nicht ganz sicher, ob er so wirklich an das glaubte, was er gerade sagte. Das hier war sozusagen der Supergau für einen sportlichen jungen Mann-vorbei der Beruf, die Selbstständigkeit, jede Möglichkeit das Leben alleine zu meistern, alles vorbei, vielleicht nie mehr Sex, aber trotzdem war dieses Leben zu kostbar, um es einfach weg zu werfen. Semir wusste auch sicher, dass Sarah in dieser Situation genau die richtige Frau an Ben´s Seite war-sie liebte ihn und würde ihn klaglos und professionell versorgen, solange sie selber körperlich dazu in der Lage war und außerdem hatte Ben die finanziellen Möglichkeiten die beste Pflege und die modernsten Therapien und Hilfsmittel zu bezahlen, es würde weiter gehen, aber jetzt mussten sie seinen Freund erst einmal aus der Höhle und in ein Krankenhaus bringen, nicht dass sein Vorhaben doch noch gelang.
Weil er keine Hand frei hatte und immer noch die Blutung stillte, rief er laut durch die geschlossene Tür, damit Josef ihn verstehen konnte. Es war nämlich auch sehr unwahrscheinlich, dass er hier drinnen Handyempfang hatte, aber draußen war das kein Problem. „Josef-verständige bitte die Rettung und die Feuerwehr, mein Freund ist schwer verletzt und blutet stark-die sollen sich beeilen!“ rief er und während sein Helfer den Notruf absetzte, meinte er auch schon, die Geräusche eine herannahenden Autos zu hören. Tatsächlich vernahm er, während er besorgt Ben´s verhärmtes Gesicht betrachtete und beobachtete wie sich der Brustkorb schnell hob und senkte, während der Pulsschlag rasend schnell gegen seine Finger pochte, wie sich jemand an der schweren Metalltür zu schaffen machte und wenig später das Tor aufschwang und die drei Einheimischen herein stürzten. Josef hatte fürsorglich eine Decke aus dem Wagen geholt und schlug vor, als er die beiden so nah am Wasser sah: „Ziehen wir ihn ein bisschen ins Trockene, er muss ja völlig ausgekühlt sein, oder noch besser, wir legen ihn in den Wagen, da ist es warm!“ aber Semir schüttelte den Kopf. „Wir dürfen ihn nicht bewegen-ich fürchte, er hat sich das Kreuz gebrochen!“ sagte er und nun herrschte betretenes Schweigen in der Höhle und die drei älteren Männer sahen mitleidsvoll auf den attraktiven jungen Mann am Boden. Was für eine Katastrophe-gerade hatten sie sich so gefreut, dass die Suche erfolgreich gewesen war. Sie hatten den Vorstand des Museumsvereins aus dem Bett geklingelt und der hatte ihnen verwundert, aber widerspruchslos den Schlüssel für die Eishöhle ausgehändigt. Jetzt aber schlug die Freude über die erfolgreiche Suche binnen Kurzem in großes Mitleid um und der eine oder andere dachte bei sich-vielleicht wäre es doch besser gewesen, sie hätten den jungen Mann nicht so schnell gefunden, denn das ganze Blut wies darauf hin, dass er nicht mehr sehr lange überlebt hätte.
So aber holte Josef einen Verbandskasten aus dem Wagen, man breitete die Decke über Ben´s Oberkörper und nachdem er fachmännisch, immerhin hatte er erst kürzlich einen frischen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, Einmalhandschuhe angezogen hatte, übernahm er nun mit einem sterilen Verbandpäckchen bewaffnet, die Blutstillung, so dass Semir seine bereits taub werdenden Arme auslockern konnte und sich nun ans Kopfende seines Freundes setzte und dem unendlich zärtlich eine verschwitzte, klebrige Haarsträhne aus dem Gesicht strich und mit einem Papiertaschentuch, das er in der Hosentasche gefunden hatte, die Tränenspuren abwischte. Die Retter hatten einen starken LED-Strahler in die Höhle gebracht, die nun hell erleuchtet war und der eine der beiden Rentner machte sich jetzt auf den Weg, um den Notarztwagen einzuweisen.
Ben der sehr schläfrig war und sich nun in sein Schicksal fügte, denn gegen Semir hatte er sowieso keine Chance, der würde ihn nicht sterben lassen, schlug nun wieder die dunklen Augen auf, er hatte die Berührung der warmen Hand genossen. „Wie geht es Corinna?“ wollte er wissen und Semir, den eine heiße Woge der Liebe und Freundschaft überfuhr-sogar dem Tode nahe machte sich Ben noch Sorgen um andere, sagte freundlich: „Die ist in Sicherheit-Sarah, die Kinder und sie sind seit letzter Nacht in Köln in einer Schutzwohnung, mach dir keine Sorgen!“ beruhigte er ihn und Ben nickte leicht, während man nun schon in der Ferne ein Martinshorn hörte.