Mit klopfendem Herzen zog Ben seine Waffe aus dem Halfter und schlich, die Waffe entsichert und im Anschlag, leise die mit Teppich ausgelegten Stufen hinauf. Adrenalin durchflutete seinen Körper und schärfte seine Sinne. Er hatte keine Geräusche mehr gehört. Hatte er sich vielleicht alles nur eingebildet oder aber war auch er bemerkt worden? Inzwischen war er an der letzten Stufe der Treppe angelangt. Vorsichtig machte er den ersten Schritt in den Raum und schon passierte es! Jemand stürzte mit gezücktem Messer auf ihn zu und erwischte ihn am Arm. Durch den plötzlichen und unerwarteten Schmerz ließ er die Waffe fallen. Ehe er etwas unternehmen konnte, sauste das Messer bereits zum zweiten Mal auf ihn zu. Instinktiv hob Ben den Arm. Ein Fehler, wie sich nur unmittelbar darauf zeigte. Der Angreifer holte mit seiner anderen Hand aus und traf ihn mit der Faust an der Schläfe. Ben verlor für einen Moment die Besinnung. Er taumelte und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand, die er benommen herunterrutschte. Wie durch einen Schleicher nahm er verschwommen wahr, wie der Angreifer losrannte, mit hastigen Schritten die Treppe nahm und dann mit einem lauten Türknallen aus dem Haus verschwand.
Ben versuchte sich aufzurichten, doch als ihm schwindelig wurde, ließ er das Unterfangen für den Moment bleiben. Er schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. „Fuck“, grummelte er leise. Er hatte sich wie ein Anfänger benommen und war vollkommen überrumpelt gewesen. Er hätte auf Veikko hören sollen und nicht alleine hierher zurückkommen sollen, aber Ben war der festen Überzeugung gewesen, dass er sich nicht so überraschen lassen würde wie Veikko. Andererseits. Dass dieser Kerl schon wieder hier auftauchte hieß doch, dass er etwas suchte und es noch nicht gefunden hatte. Noch etwas benommen, zwang er sich die Augen wieder zu öffnen. Er griff nach seinem Handy und forderte ein weiteres Mal innerhalb von 24 Stunden die Spurensicherung zu dem Haus von Niemi an. Irgendwas musste es hier geben und dieses irgendwas wollte er finden. Als er wieder auflegte, betrachtete er seinen Arm. Blut quoll aus der Wunde heraus und durchtränkte seinen Pullover. Ben kämpfte sich mühselig in die aufrechte Position. Für einen Moment wurde ihm schwindelig, doch dann hörte die Welt um ihn herum auf sich zu drehen. Er setzte langsam und wackelig einen Fuß vor den anderen und begab sich in Richtung Auto. Dort angekommen, öffnete er eine der hinteren Türen und zog den Verbandskasten hervor. Er setzte sich auf die Rückbank, schaltete das Licht auf Dauerbetrieb und begann damit die Wunde zu verbinden. Als er mit seinem Werk zufrieden war, betrachtete er sich im Rückspiegel. An der Schläfe würde sich wohl eine ordentliche Beule bilden und auch die unsanfte Begegnung seines Hinterkopfes mit der Wand dürfte er wohl noch lange spüren. Bereits jetzt pochte es bei jeder kleinsten Bewegung in seinem Kopf unangenehm.
Es hatte nicht sehr lange gedauert und Ben sah den weißen Van der Spurensicherung vorfahren. Er stieg aus und grüßte die Kollegen, ehe diese sich akribisch auf die Suche nach Bens „irgendetwas“ machten. Doch auch dieses Mal war die Suche nicht mit Erfolg gekrönt. Es wurde auch nach stundenlanger Suche nichts gefunden und Ben entschloss sich schließlich die Männer in den Feierabend zu entlassen. Auch er selbst sah schnell ein, dass er an diesem Tag wohl zu nicht mehr viel fähig war und fuhr ebenfalls nach Hause. Er duschte unter kaltem Wasser und setzte sich dann noch für einen Augenblick ins Wohnzimmer. Er blickte auf sein Handy, das auf den Tisch lag, und verspürte für einen Augenblick den Drang Mikael anzurufen und ihn nach seiner Meinung zu fragen. Doch schließlich verkniff er sich dieses Vorhaben. Sein Freund wusste überhaupt nichts von diesem Fall und das aus gutem Grund. Aber er könnte auch einfach über andere Dinge plaudern. Die Kinder vielleicht? Eva? Mikael schien es noch zu beschäftigen, dass er derzeit nicht wusste, wie er mit ihnen umgehen sollte. Er hatte sich vor seiner Frau und den Kinder nie verstellen müssen und konnte er selbst sein. Dass er es nun wohl nicht mehr konnte, macht Ben Sorgen. Er hatte regelrecht Angst, dass Mikael dem Absturz erneut ungebremst entgegenraste. Er atmete tief durch, griff nach seinem Smartphone und wählte in den Kontakten Mikaels Namen aus. Niemand ging ran. Er seufzte und lehnte den Kopf gegen die Sofalehne. Er betrachtete die Decke. Er müsste Mikael überreden, dass er sich professionelle Hilfe nahm. So konnte es nicht weitergehen. Wenn er wieder Fuß fassen wollte, würde er es nicht alleine schaffen. Das hatten die letzten Wochen gezeigt. Ben löste den Blick von seiner Zimmerdecke und versuchte es ein weiteres Mal. Doch auch diesmal erreichte der deutsche Kommissar niemanden. Vermutlich war er schon schlafen, immerhin war es dort bereits nach 23 Uhr. Schließlich gab er auf, legte das Handy auf den Tisch und begab sich in Richtung Schlafzimmer, um sich schlafen zu legen.
Mikael senkte den Kopf ein Stück nach vorne und schüttelte mit den Fingerspitzen die Regentropfen aus seinen Haaren. Helsinki zeigte sich heute wieder einmal erbarmungslos und es regnete bereits den ganzen Vormittag ohne Pause. Sein Blick fiel nach oben. Katamaran stand in blauen Leuchtbuchstaben über der Tür, wobei das „K“ nicht mehr beleuchtet war, als würde es sich um einen schlechten Gangsterfilm handeln. Er holte ein letztes Mal tief Luft und betrat dann die Bar.
Es war genauso viel los, wie er erwartet hatte. Die meisten der kleinen Tische waren unbesetzt und die Gestalten, die daran saßen, hätten wohl dafür gesorgt, dass jeder Tourist schnell wieder das Weite gesucht hätte, wenn sich denn überhaupt ein Tourist in diese abgelegene Ecke der Stadt verlaufen würde. Er spürte sofort die beißenden Blicke, die seine Anwesenheit an diesem Ort auslösten. Die Luft war durch den Zigarettenqualm schneidend dick. Zumindest hier hielt man nicht viel von dem strengen Rauchverbot Finnlands und er war sich sicher, dass man bei den zuständigen Ämtern auch nicht wirklich darauf erpicht war, diesem Barbesitzer ans Bein zu pinkeln.
Unbeeindruckt von den Blicken der Männer hinter ihm, trat er an den Tresen der Bar. Die Tür zum Hinterzimmer öffnete sich knarrend, ein Mann trat heraus. Mitte vierzig, kurz rasiertes Haar. Er sah aus wie ein ehemaliger Militär, trug ein kurzärmliges Hemd und abgenutzte Jeans. Ein Tribal-Tattoo zierte seinen Oberarm.
„Was willst du?“, fragte er.
„Oscar?“
„Wer will das wissen?“ Mikaels Mundwinkel zog sich zu einem hämischen Grinsen nach oben. „Ist das eine Fangfrage?“
Der Mann hinter dem Tresen füllte ein Glas mit Wodka und stellte es ihm hin, ehe er ihn anschließend von oben bis unten musterte. Mikael wusste, er braucht diesem Mann nicht zu sagen, wer er war. Er ähnelte seinem Vater ungemein und so würden einige Größen der Helsinkier Unterwelt den Zusammenhang schnell herstellen. „Was treibt den Sohn von Andreas Hansen in diese Bar?“, fragte Mäenpää nun.
Mikael beugte sich nach vorne. „Ich habe einen Deal für dich Oscar … du holst mir Kuznetsov ran und ich lasse im Gegenzug deine kleinen Geschäfte hier nicht auffliegen.“
In Oscar Mäenpää Gesicht zeigte sich Verachtung. „Jungchen, glaubst du tatsächlich, du kannst mir drohen? Du überschätzt dich. Du magst zwar Hansens Sohn sein, aber deshalb hast du noch lange keine Narrenfreiheit!“
Der junge Kommissar begann zu lachen. „Nein Oscar, ich fürchte eher, du unterschätzt mich. Ich gebe dir bis morgen Mittag die Möglichkeit Kuznetsov zu liefern … wenn du es nicht tust, dann bist du dran.“ Danach legte er einen 50er auf den Tresen, ehe er sich umdrehte und die Bar wieder verließ. Alles wofür er hergekommen war, hatte er erledigt.
Er hatte nicht einmal das Ende der Straße erreicht, da zeigte sich, dass seine Rechnung aufgegangen war. „Du hast Mut. Hier aufzutauchen war dein Todesurteil“, ertönte eine raue Stimme nur wenige Meter von ihm entfernt. Mikael drehte sich um und blickte geradewegs in ein grünblaues Augenpaar. Der Mann, der ihn all die Jahre über in seinen Albträumen verfolgt hatte, stand nun direkt vor ihm.
„Erkennst du mich wieder? Sag!“
Der junge Kommissar steckte die Hände in seine Pullovertaschen. „Wie könnte ich diese Visage vergessen. Du hast Galina umgebracht und dafür wirst du hinter Gitter gehen. Es ist gut, dass du mir die Sache erleichterst und selbst aus deinem Loch gekrochen kommst!“
„Du hast wirklich Mumm. Aber ich muss dich enttäuschen. Ich werde nicht hinter Gitter gehen, sondern mir gleich einen weiteren Mord gutschreiben lassen – an dir!“
Er zuckte mit den Schultern. „Seit damals hat sich viel verändert. Ich bin nicht mehr der kleine Junge, den du mit deinen Drogen vollpumpen kannst“, sagte er mit ruhiger Stimme.
Sein Gegenüber warf ihm einen kleinen Zettel hin, den er allerdings nicht aufhob. Wozu auch. Er hatte ihn selbst vor wenigen Minuten in der Bar platziert. Offensichtlich, damit er gefunden wurde.
„Du hast etwas getan, was du besser nicht hättest tun sollen. Niemand droht dem Boss!“, kam es in einem bissigen Ton.
„Ich habe ihn nur daran erinnert, dass ich ihn ans Messer liefern kann. Die Zeiten haben sich geändert. Nun bin ich Polizist, wie ihm nicht entgangen sein sollte. Meine Aussage ist nicht mehr die eines Junkies, sondern eines treuen Staatsdieners. Man wird mir glauben, dass ich Kuznetsov gesehen habe in dieser Fabrikhalle und dann geht er unter und du gleich mit“, antwortete Mikael gleichgültig. „Aber wie gesagt, ich bin bereit für einen Deal. Ich kann diese Sache für etwas Kohle sicherlich unter den Tisch fallen lassen und auch die Tatsache, dass Kuznetsov sich überhaupt nicht in St. Petersburg befindet. Sag ist es schwer jemanden zu schmieren, damit es so aussieht, als würde er Finnland seit Jahren nicht betreten haben?“
Sein Gegenüber lachte und trat nun näher, umkreiste ihn, wie seine Beute. „Man merkt, dass du Hansens Sohn bist. Du siehst nicht nur aus wie er, du weißt auch was du willst.“
„Das ist manchmal nicht so schlecht, oder? Ich möchte etwas Geld und dafür werde ich vergessen, dass ich ihn in der Halle gesehen habe … und natürlich, dass ich weiß, wo man ihn findet und was er als nächstes vorhat.“ Der Narbige blieb stehen und nun traf sich ihr Blick. Mikael konnte sehen, wie er versuchte, abzuwägen, ob er gerade in eine Falle lief, oder es mit einem korrupten Polizisten zu tun hat.
„Ein Bulle will Geld?“, fragte er hämisch nach.
Mikael zuckte nur mit den Schultern. „Ach komm, tu nicht so als wäre das etwas Neues in deiner Branche. Gut und Böse, Weiß und Schwarz. Das sind doch Bilder, die du schon nach dem ersten Jahr auf der Polizeiakademie in die Tonne haust.“
Er wartete einige Sekunden. „Also, bringst du mich jetzt zu Kuznetsov?“
Er bekam ein Lachen als Antwort. „Warum sollte ich so etwas tun? Ich reiche dir also nicht aus?“
„Ein Hansen verhandelt nur mit dem Boss. Altes Leitbild der Familie, an dem ich nicht vorhabe zu rütteln“, antwortete er mit gelassener Stimme.
Der Mann musterte ihn kritisch, wog den Kopf kaum merklich hin und her. „Und wenn es mir egal ist, was für eine Familientradition du hast, Jungchen?“
„Es sollte dir besser nicht egal sein. Wie gesagt, ich kann Kuznetsov untergehen lassen. Ich weiß vieles. Wo die neue Lieferung hingeht, wer die gekauften Bullen sind. Ich würde nicht den Fehler machen und mich unterschätzen.“
Der Mann sah ihn lange an, griff dann nach seinem Handy und telefonierte auf Russisch.
Als er wieder auflegte, lächelte er. „Gut, Kuznetsov ist bereit dich zu treffen.“
Der Russe machte eine Handbewegung und er setzte sich in die Richtung in Bewegung, die er ihm anwies. Mikael lief bedacht. Nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Er hatte all seine Sinne geschärft und so entging ihm nichts. Er wartete angespannt auf den einen Moment, den Augenblick. Da war er! Das Schnappen eines Klappmessers ertönte und er drehte sich blitzschnell rum, packte den Arm des Russen unterhalb des Handgelenks. Er grinste hämisch. „Ich würde mich vorher informieren, ob dein Gegner deine Sprache spricht, sonst macht es keinen Sinn seine Ermordung offen anzukündigen.“ Er verdrehte den Arm des Mannes auf den Rücken, bis dieser vor Schmerzen aufjaulte und das Messer fallen ließ, dann versetzte er ihm einen Stoß in die Kniekehlen. Sein Gegner fiel auf die Knie. Mikael rammte ihm seinen Fuß zwischen die Schulterblätter und kniete sich dann auf den Russen, der unter ihm darum kämpfte, wieder die Oberhand zu gewinnen, griff nach dem Messer und hielt es an die Kehle des Mannes unter ihm. „Ich würde ganz still sein, sonst könnte ich aus Versehen eine wichtige Ader treffen“, zischte er leise und merkte, wie sein Gegner in seiner Bewegung erstarrte.
Nun zog Mikael seinem Gegner das Handy aus der Tasche und rief die zuletzt gewählte Nummer an. „Habe ich dich jetzt überzeugt, dass ich gefährlich genug bin, dass man mich ernst nimmt?“, sagte er auf Russisch. „Gut … ich freue mich.“ Er steckte das Handy in seine Hosentasche und zog den Mann vor sich hoch. „Du sollst mich hinbringen, aber da ich dir kein Stück über den Weg traue, gehst du vor!“