Semirs Blick wanderte zwischen Decke und Veikko hin und her. Das Loch über ihnen wurde zwar immer größer, doch der Preis dafür schien dem erfahrenen Polizisten zu hoch. Veikko war am Ende seiner Kräfte. Der Schweiß durchnässte seine Kleidung und der ganze Körper zitterte vor Anstrengung. Veikkos verletztes Bein gab immer häufiger nach und der jüngere Kollege landete jedes Mal unsanft auf dem Boden, ehe er sich nach einigen Minuten wieder mit zittrigen Armen erhob und weitermachte. Seine Hände waren inzwischen von Dreck und blutigen Hautabschürfungen überzogen. „Veikko, bitte mach eine Pause!“, forderte Jenny. Sie hatte sich vor Veikko hingekniet, als dieser erneut zu Boden gegangen war und seinen Kopf in ihre Hände genommen. Sie konnte das Fieber unter ihren Fingerkuppen spüren. „Ich kann mich später ausruhen. Wir müssen das schaffen!“, gab der Schwarzhaarige mit zittriger Stimme Widerworte und wollte sich wieder erheben. Doch dieses Mal tat ihm sein Körper den Gefallen nicht. Veikko blieb schwer atmend auf der Erde hocken und pumpte wie ein Maikäfer Luft in seine Lungen. „Du wirst dich jetzt an die Seite setzen, ich mache alleine weiter!“, entschied Jenny mit fester Stimme.
Veikko hatte zunächst protestiert, doch nach einem Wortgefecht zwischen dem Paar lenkte er ein und setzte sich neben Semir an die Wand. Der junge Finne hustete hohl und leckte sich über die trockenen Lippen. „Sag Bescheid, wenn du fertig bist und ich dich hochhieven soll.“ Jenny nickte. „Ja, mache ich. Versuch zu schlafen.“ Veikko nickte müde und schloss die Augen, während sich Jenny der Decke zuwandte.
Es vergingen Stunden damit, dass Semir Jenny dabei beobachtete, wie sie das Loch an der Decke Schritt für Schritt vergrößerte. Noch war es nicht so groß, dass die Beamtin auch hindurchschlüpfen konnte, doch Semir war sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde. Der Blick nach links bestätigte ihn, dass es auch langsam Zeit wurde. Veikko war in eine Art Delirium gerutscht und nahm alles um sich herum nur noch am Rande wahr. Und urplötzlich fragte Semir sich, ob Veikko überhaupt im Stande war, Jenny hoch genug zu heben, dass sie es auch bis nach oben schaffen würde. „Er kann dich niemals so hoch heben“, äußerte er seinen Gedanken laut. Jenny sah zu Semir und dann Veikko. „Er wird es nicht müssen, ich werde einfach so viele Steine häufen, bis ich es ohne Räuberleiter schaffe!“, sagte sie und warf einen weiteren Stein zur Seite. „Das diese verdammten Steine auch so doof ineinander verkeilt sind. Ich dachte, es würden sich einige mehr lösen, aber Nein!“
Semir lächelte. „Ich würde dir ja gerne helfen, aber ich glaube, ich bin noch weniger eine Hilfe, als Veikko es war mit seinem kaputten Bein und Arm.“
„Untersteh dich! Mir reicht einer von euch am Rande seiner Kräfte.“ Unbewusst fiel ihr Blick wieder auf Veikko. „Wir müssen uns beeilen, Semir“, sagte sie dann nur und ging still ihrer einzigen Aufgabe nach. Jenny war selbst am Ende und würde sich zu gerne fallen lassen und schlafen, doch ihre Sorge um den Mann, den sie liebte, hielt sie davon ab. Veikko verließ sich darauf, dass sie es schaffen würde. Sie hatte ihm versprochen, dass sie es hinbekamen.
*
Ben lag auf den Rücksitz seines Mercedes und spürte die strengen und wachsamen Augen von Antti selbst ohne das er nach draußen sah. Es war nur wenige Minuten her, da hatte sein Kreislauf sich verabschiedet. Antti hatte ihn zu seinem Auto befördert und ließ ihm nun kein Entkommen aus seinen fürsorglichen Pranken.
„Willst du mich jetzt dazu zwingen zu schlafen?“, fragte er zynisch durch die offene Tür. „Ich bin mit Mikael fertig geworden, da kann ich dich schon lange händeln!“
„Ich habe aber keine Zeit hier herumzuliegen!“ Ben wollte sich wieder erheben, doch Anttis kräftige Hand drückte ihn sofort wieder in den Wagen. „Du hast Zeit, denn du machst doch ohnehin nichts, als zu warten!“
„Antti! Lass mich sof …“ Ben verstummte. Nicht wegen Anttis ernstem Gesichtsausdruck, sondern wegen der Person, die nun hinter Antti stand. Antti löste den Blick von ihm und drehte sich in die Richtung, wohin Ben starrte.
„Mikael, was machst du denn hier?“, entkam es ihm überrascht.
Der Angesprochene hatte seine Hände in den Taschen seines Kapuzenpullovers vergraben und kniff die Augen zusammen. „Was denkt ihr? Dass ich es nicht schaffe?!“, begann Mikael mit bedrohlichem Unterton. „Das ich hier vor euren Augen zusammenklappe! Ihr tut immer so, als müsstet ihr mich vor allem beschützen. Was denkst du Antti? Dass ich es nicht merke? Dass mir, gerade MIR nicht auffällt, dass ihr euch alle so komisch benehmt.“
Mikaels rechte Hand löste sich aus der Tasche seines Pullovers und tippte nun auf Anttis Brust. „Hier ist eine Information für dich. Ich bin keine Porzellanpuppe! Ich werde schon nicht zerbrechen, weil es hier um das Leben eines Freundes geht.“
„Mikael, Antti meinte es doch nur gut“, setzte Ben vorsichtig an.
Die eisblauen Augen seines Freundes lösten sich von Antti und schienen nun ihn zu durchbohren. „Misch dich nicht ein, du bist nicht viel besser!“
„Wirklich, wir wollten nur nicht, dass du …“, versuchte es Ben abermals, doch Mikaels Blick ließ ihn sofort verstummen.
„Es sollte euch nicht entgangen sein, dass es mir inzwischen wieder ganz gut geht, oder? Ihr habt kein Recht für mich Entscheidungen zu treffen!“
Antti wollte seine Hand auf Mikaels Schulter legen, doch dieser schlug sie weg. „Lass mich einfach, okay!“, zeterte er und löste sich dann von ihnen. Er ging mit schnellen Schritten in Richtung des Fahrzeuges der Einsatzleitung. „Was hast du vor?“, rief Ben ihm hinterher und war inzwischen wieder aus seinem Auto geklettert. Ein Fehler, denn sofort begann sich die Welt um ihn herum zu drehen und er spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben.
Antti griff beherzt zu, doch dennoch schien es auch Mikael nicht entgangen zu sein. Der Schwarzhaarige stand inzwischen wieder vor ihnen. Seiner Wut war Sorge gewichen. „Was ist? Was ist mit dir?“
Ben winkte ab und setzte sich wieder auf die Polster. „Nichts … es ist okay.“
„Okay sieht anders aus“, erwiderte Mikael und verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper.
Ben lächelte. „Gerade du solltest doch wissen, wie es ist, wenn sich die Welt dreht, nur weil man es übertreibt.“
„Der Herr Hauptkommissar dachte, er könnte das alles durchstehen ohne Essen, Trinken und vor allem Schlaf“, wies Antti den Braunhaarigen zurecht.
„Kannst du dich mal bei Frau Salminen erkundigen, was es Neues gibt? Und ich will eine Karte von der Höhle“, sprach Mikael in Richtung Antti. Der Blonde zögerte kurz, setzte sich dann aber doch in Bewegung.
Mikael lehnte sich neben die offene Fahrertür an das Auto. „Du solltest versuchen zumindest ein paar Stunden zu schlafen“, begann er nach einer Weile.
„Ich kann nicht. Ich finde einfach keine Ruhe.“
„Wir können derzeit ohnehin nichts tun, also versuche es noch einmal.“
Ben lehnte sich etwas aus dem Auto heraus und beobachtete Mikaels Gesichtszüge. „Sicher, du bist nach Deutschland gekommen, weil du ohnehin nichts tun kannst? Dafür bist du nicht der Typ.“
„Menschen ändern sich.“
„Menschen, aber nicht Mikael Häkkinen.“
Der Finne begann zu lächeln und spielte mit seinem Armband. „Ich habe nichts vor Ben. Ich versuche mir nur einen Überblick zu verschaffen, deshalb bin ich hier. Weil ich ein Kontroll-Freak bin.“
„Das soll ich dir glauben?“
Mikael zuckte mit den Schultern. „Es ist mir egal, was du glaubst.“
Ben wollte etwas erwidern, doch dann sah er, wie Antti wieder auf sie zukam. Er reichte Mikael eine Karte. „Du warst schon bei Lone“, sagte er nur und Mikael lächelte. „Ja, ich wollte nur kurz mit Ben alleine reden. Er wird sich jetzt hinlegen. Ich passe auf. Du solltest nämlich auch schlafen, Antti.“
„Ich denke, das kann ich selbst entscheiden.“
Mikael verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Ben auch und dennoch hast du ihm bei dieser Entscheidung geholfen.“ Der ältere Kollege stöhnte. „Gut, ich lege mich für ein paar Stunden hin. Du hast ja nicht ganz Unrecht. Aber sobald sich etwas tut, wirst du mir Bescheid geben.“ Mikael nickte. „Jepp, werde ich tun.“ Danach sah er zu, wie sich Antti zurückzog und in einen der kleinen Container verschwand.
Der Schwarzhaarige setzte sich auf den Fahrersitz von Bens Mercedes und breitete die Karte vor sich aus, während er über sich das Licht einschaltete. „Wozu brauchst du die Karte?“, kam es von hinten und Ben schielte über seine Schulter. „Ich will nur etwas nachsehen, geh schlafen“, murmelte Mikael genervt und senkte seinen Blick wieder auf das Papierstück.
„Nachsehen?“
„Nachsehen! Geh schlafen Ben.“
„Warum nur glaube ich dir das nicht?“, erwiderte Ben nach einiger Zeit.
„Weil du ein Vertrauensproblem hast, vielleicht?“
Auch wenn Ben sich auf Grund des doch eher freundlichen Tons bewusst war, dass Mikael nicht auf die letzten Monate ansprach, verstummte er augenblicklich. Er hatte Mikael damals nicht vertraut und damit ihre ganze Freundschaft in Frage gestellt.
„Du hast Recht, ich sollte schlafen“, sagte er mit dünner Stimme und legte sich auf die Rückbank, wobei er sich von Mikael wegdrehte, damit dieser sein Gesicht nicht im Rückspiegel sehen konnte.
Ein paar Stunden später, es war noch völlig dunkel, fuhr Ben nach einem kurzen aber sehr tiefen Schlaf hoch. Sein Blick fiel nach vorne. Mikael war verschwunden. Er sah sich auf dem großen Gelände um, konnte seinen Freund aber nirgends sehen. Langsam erhob sich Ben und merkte, wie die paar Stunden Schlaf ihm tatsächlich gut getan hatten. Er fühlte sich deutlich sicherer auf seinen Beinen. Er sah zunächst im Container der Einsatzleitung nach, als er dort Mikael aber nicht fand, streifte er weiter über das Gelände. Nach etwas zehn Minuten entdeckte er Mikaels Wuschelkopf am Rande des Waldes. Er sah immer wieder auf die Karte und dann zwischen die Bäume, als würde er dort eine Antwort auf die Frage finden, die ihn gerade beschäftigte.
„Was machst du?“, fragte Ben und Mikael drehte sich zu ihm herum.
„Es gibt einige Abzweigungen, von denen Teile dicht unter der Erde liegen“, antwortete Mikael ihm und sah dabei wieder auf die Karte.
Ben begann zu lächeln und in ihm breitete sich Hoffnung aus. „Du bist ein Genie! Vielleicht ist das unsere Chance sie zu finden!“ Ben wollte in den Wald stürmen, doch Mikael hielt ihn zurück. „Ist dir klar, was das bedeutet?“
„Wie? Natürlich, dass wir eine Chance haben sie zu finden! Also warum stehst du hier noch so rum!“
Mikael atmete tief ein und fuhr sich mit dem Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. „Ben. Die Tatsache, dass die Stollen nicht tief liegen, bedeutet auch, dass sie instabil sind. Sie könnten einstürzen, wenn wir drübergehen! Nicht umsonst hat dich Antti so dermaßen im Auge und passt auf, dass du nicht blind darein rennst!“
„Es ist dennoch unsere einzige Möglichkeit!“, widersprach Ben sofort.
„Ich will nicht schuld sein, dass du wieder im Krankenhaus landest“, äußerte Mikael jetzt.
Der deutsche Kommissar sah seinen Freund verständnislos an. „Du machst dir darum Gedanken, wo Semir, Veikko und Jenny auf ihre Rettung warten!“
Mikaels Hände ballten sich zu Fäusten. „Ja verdammt! Darüber mache ich mir Gedanken! Ich kann es nicht einfach so ausschalten! Denkst du, ich hätte es dann nicht schon lange getan! Ich hätte nicht so lange zögern sollen und alleine in den Wald!“
„Mikael, ich … sorry, ich wollte dich nicht so anfahren.“
Sein Freund atmete einige Male hektisch ein und aus. „Lass mich einfach für einen Augenblick, okay?“ Ben nickte und verfolgte, wie Mikael für ein paar Sekunden die Augen schloss und seine Atmung beruhigte. Als er sie wieder öffnete, sah er wieder in den Wald hinein.
„Du hast Recht, es ist unsere einzige Möglichkeit“, sagte er. Ben nickte und setzte sich in Bewegung. Nur wenige Meter hinter ihm folgte Mikael.