Für Semir hatte der Montagmorgen gut angefangen. Nach dem gemeinsamen Frühstück mit seiner Familie, hatte er seine beiden Töchter in die Schule und den Kindergarten gebracht, da Andrea an diesem morgen einen Termin beim Zahnarzt hatte. Nun war er auf dem Weg zur Arbeit. Die Sonne strahlte am Himmel und im Radio lief gerade eines seiner Lieblingslieder. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er schon etwas spät dran war. Ben würde diesmal höchstwahrscheinlich vor ihm in der PAST sein. Semir wusste was das bedeutete. Sein Partner würde ihn dann wochenlang damit aufziehen, dass er es vor ihm ins Büro geschafft hatte. Mit einem Grinsen im Gesicht beschleunigte Semir den silbernen BMW, drehte das Radio lauter und zog auf der Überholspur an mehreren Autos vorbei.
Etwa 10 Minuten später kam Semir auf dem Parkplatz der Autobahnpolizei an. Er reihte seinen Dienstwagen rücklings zwischen den Streifenwagen der Kollegen vor dem Gebäude ein. Beim Aussteigen aus dem Auto hatte er mit geübtem Blick den Parkplatz gescannt. Semir stutzte als er weder Bens Motorrad noch seinen Dienstwagen, den silbernen Mercedes entdecken konnte. Sollte sein Partner etwa noch später als er selbst kommen?! Mit Schwung schlug Semir die Autotür zu und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg ins Gebäude. Er grüßte zwei Kollegen am Eingang und kramte, als er seinen Weg ins Büro fortsetzte, sein Handy aus der Tasche seiner Lederjacke. Er würde Ben anrufen und an sein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis erinnern. Das er selbst eben erst angekommen war, musste er ihm ja nicht unbedingt unter die Nase reiben. Doch nachdem die Nummer gewählt war, ertönte wider Erwarten kein Freizeichen sondern direkt die Mailbox. Semir hinterließ seinem Kollegen eine kurze Nachricht und legte dann das Handy griffbereit auf seinen Schreibtisch, falls Ben zurückrufen sollte. Nachdenklich setze er sich auf seinen Bürostuhl. Es war ungewöhnlich für Ben, dass er sein Handy ausgeschaltet hatte. Semir konnte nicht verhindern, dass ein ungutes Gefühl in ihm aufstieg und fragte sich, ob bei seinem Partner alles in Ordnung war. Doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Wahrscheinlich hatte Ben am Wochenende einfach zu viel gefeiert, hatte heute Morgen den Wecker überhört und lag jetzt noch selig schlafend im Bett. Der Hauptkommissar nahm sich eine Mappe mit Unterlagen von dem Stapel auf seinem Schreibtisch und öffnete am PC den dazugehörigen Fall. Sein Bericht über den letzten Einsatz stand noch aus.
Semir hatte gerade erst ein paar Zeilen geschrieben, als die Tür hinter ihm aufschwang und Kim Krüger sein Büro betrat.
„Gerkan! Kommen Sie in mein Büro! Es gibt einen neuen Fall.“
„Wollen wir nicht warten bis Ben da ist?“, fragte Semir mit einem kurzen Blick auf den leeren Bürostuhl seines Kollegen.
„Herr Jäger wird heute nicht kommen. Sein Vater hat angerufen und ihn krank gemeldet.“
„Was?“ Semir schaute seine Chefin irritiert an. „Sein Vater hat ihn krank gemeldet? Warum hat Ben denn nicht selber angerufen?“
„Sein Vater wollte sich nicht genau dazu äußern.“, Frau Krüger wich Semirs Blick für einen Moment aus. „Er hat nur gesagt, dass Ben eventuell länger ausfällt.“
„Was heißt das, er wollte sich nicht dazu äußern?“ In Semirs Kopf begannen die ersten Alarmglocken zu schrillen. „Er muss doch irgendetwas gesagt haben?!“
„Herr Jäger ist nicht verpflichtet genaue Angaben über die Erkrankung von seinem Sohn gegenüber uns als Arbeitgeber zu machen. Natürlich wäre es mir auch lieber gewesen, wenn er etwas gesagt hätte. Aber so müssen wir erstmal abwarten.“
„Abwarten?!“ Semir war von seinem Stuhl aufgesprungen und stand seiner Chefin nun direkt gegenüber. „Frau Krüger, da stimmt doch irgendetwas nicht!“ „Ben war am Freitagabend nach Feierabend bei mir zuhause, da war er noch kerngesund. Was sollte er denn jetzt einfach mal so übers Wochenende kriegen, dass er gleich länger ausfällt? Außerdem hätte er sich dann gemeldet, wenn irgendwas nicht in Ordnung gewesen wäre.“ Semir merkte erst jetzt, dass er die letzten Worte beinahe geschrien hatte. Die Sorge um seinen Partner lies sein Temperament mit ihm durchgehen.
„Herr Gerkan, jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Herr Jäger hat gesagt, dass er sich in den nächsten Tagen noch einmal meldet, wenn er nähere Infos zu seinem Sohn machen kann. Bis dahin müssen wir uns eben gedulden. Und jetzt kommen Sie bitte in mein Büro, der Fall klärt sich schließlich nicht von alleine auf.“ Mit diesen Worten lies Frau Krüger ihn einfach stehen.
Bevor Semir ihr folgte nahm er sein Handy, drückte die Kurzwahltaste, auf der Bens Nummer eingespeichert war und sprach ihm noch einmal auf die Mailbox:
„Ben, ich bin’s nochmal. Mensch, was ist denn los bei dir? Meld dich bitte ja?! Ich mach mir Sorgen.“
Es dauerte recht lange bis Ben aufwachte. Als er die Augen öffnete war seine Sicht zuerst leicht verschwommen, doch nachdem er ein paar Mal geblinzelt hatte wurde sein Blick klarer. Vorsichtig hob er den Kopf um sich zu orientieren. Was er sah lies ihn stutzen. Er lag auf dem Rücken in einem Bett, aber es war nicht sein Bett, er war nicht zu hause. Es war ein fremdes Zimmer, in dem er sich befand. An der gegenüberliegenden Wand standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Der Raum war eher klein, alles war in sterilem weiß gehalten. „Krankenhaus“ schoss es ihm durch den Kopf und Ben lies sich wieder zurück in das Kissen fallen und schloss die Augen. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und sich ins Gedächtnis zu rufen was passiert war. Es war ja nicht das erste Mal, dass er nach einem Einsatz im Krankenhaus wieder aufwachte. Nur konnte er sich diesmal gar nicht an einen Einsatz erinnern. Er konnte sich irgendwie gerade an überhaupt nichts erinnern. Es kam ihm so vor als schien ihn irgendetwas in seinem Kopf davon abzuhalten klar denken zu können. Was war nur los mit ihm? Ben setzte sich und sah prüfend an sich herunter. Verletzungen konnte er keine erkennen und bis auf die leichten Kopfschmerzen schien er in Ordnung zu sein. Seltsam. Noch nicht mal einen Tropf hatte man ihm angehängt, wie es doch normalerweise bei stationären Aufnahmen gehandhabt wurde. Ein alarmierendes Gefühl stieg in ihm auf und ohne dass er es verhindern konnte breitete sich eine ungewohnte Nervosität in ihm aus.
Als er sich noch einmal in dem kleinen Zimmer umsah und sein Blick an dem vergitterten Fenster hängen blieb, bestätigte sich seine Vorahnung, dass hier irgendetwas ganz gewaltig nicht stimmte.