Einige Stunden zuvor
Zwei der Männer hatten Ben in Konrads altes Arbeitszimmer in den 1. Stock geschafft. In mitten des Raumes befand sich ein weiß gestrichener Stützbalken. Einer der Kerle drückte Ben rücklings dagegen, während der andere ihm die Hände dahinter mit einem dünnen Kabelbinder fesselte. Ben lies es ohne Gegenwehr geschehen. Zu sehr hatte er noch mit den Folgen des letzten Schlages zu kämpfen und wenn er nicht mit dem Rücken angelehnt gestanden hätte, hätte er sich vermutlich noch gar nicht auf den Beinen halten können. Nur am Rande bekam er mit wie sich der eine von Winklers Handlangern zurückzog, während der andere es sich auf dem Zweisitzer am hinteren Ende des Raumes bequem machte und damm beobachtete wie noch ein schmächtiges Kerlchen den Raum betrat und das Kästchen, in dem sich Bens Dienstwaffe befand, auf dem Schreibtisch gegenüber der Tür abstellte.
Erst als Winkler und Konrad später ebenfalls nach oben kam, hatte Ben sich soweit erholt, dass er wieder aufnahmefähig war. Schon von weitem hörte er sie miteinander sprechen und wie sein Vater mit lauter Stimme fragte ob Winkler nun einige seiner Leute weggeschickt hatte. Winkler bejahte die Frage und zählte auf, dass außer ihnen beiden nur noch Iwanow und der Junge anwesend seien. Ben horchte auf. Iwanow war doch der Killer, der Semir und ihn im Wohnzimmer der Gerkhans überfallen hatte. Und wieso fragte sein Vater das gerade jetzt? Hatte er es absichtlich getan, damit Ben wusste dass sich die Zahl der Angreifer nun deutlich verringert hatte?
"Du musst mir schon recht geben, dass es verdächtig gewesen wäre, wenn die Polizei hier eintrifft und es überall von deinen Leuten wimmelt.", sagte Konrad gerade als er mit Winkler das Arbeitszimmer betrat.
Der Angesprochene erwiderte darauf hin nichts. Er schien sichtlich genervt und sah sich kurz in dem Raum um wo sein Blick schließlich an Ben hängen blieb. „Iwanow!...", herrschte Winkler den Russen an, der sich wieder von dem Zweisitzer erhoben hatte "...sorg dafür dass er ruhig bleibt!"
Ben spannte sich direkt an, als er hörte wie der Kerl von hinten auf ihn zukam. Doch der erwartete Schlag blieb aus. Stattdessen wurde sein Mund mit einem Streifen Klebeband zugeklebt. Iwanow zwinkerte Ben noch zu ehe er sich neben das Kästchen auf den Schreibtisch setzte.
„So Konrad, jetzt mach endlich deinen Job und ruf die verdammten Bullen an!“, wandte sich Winkler ungeduldig an Bens Vater, neben dem der schmächtige Kerl seine Stellung bezogen hatte.
Ben starrte in das Gesicht seines Vaters. Würde er ihn jetzt ein weiteres Mal verraten? Konrad hob den Kopf und sah zu ihm herüber. Als sich ihre Blicke trafen, fiel Ben sofort die Veränderung an ihm auf. Er konnte in den Gesichtszügen seines Vaters nichts mehr von Angst und Hilflosigkeit erkennen, im Gegenteil, jetzt wirkte er entschlossen und gefasst. Fragend schaute Ben ihn an. Was hatte er vor?
Plötzlich zerriss das laute Klingen eines Handys die kurz entstandene Stille und ab da überschlugen sich die Ereignisse:
Winkler, der Konrad zuvor ein Handy gereicht hatte, zog nun ein weiteres Smartphone aus seiner Tasche und starrte kurz auf das Display, bevor er sich von Konrad abwandte und das Gespräch entgegen nahm. Konrad sah wie Winkler, der ihm den Rücken zugedreht hatte während er telefonierte, sich nun auch noch einige Schritte von ihm entfernte. Er witterte seine Chance und handelte ohne darüber nachzudenken. Bens Vater entriss dem jungen Kerl neben ihm das Schnellfeuergewehr und zielte damit auf Winkler. Doch Konrad hatte noch nie zuvor jemanden getötet. Er zögerte einen Augenblick zu lange und die Gelegenheit verstrich unwiederbringlich. Denn von ihm unbemerkt hatte Iwanow unterdessen Bens Waffe an sich genommen und auf den Bauunternehmer angelegt. Ben, der die Gefahr sofort erkannte, wollte seinen Vater warnen, doch er hatte keine Chance. Seine Schreie wurden durch den Knebel erstickt und er konnte nur hilflos zusehen wie die Kugeln ungehindert ihr Ziel trafen als der Russe zweimal hintereinander abdrückte. Konrad stürzte zu Boden wo er sich vor Schmerzen krümmte. Das Schnellfeuergewehr war seinen Händen entglitten und lag nun nutzlos neben ihm.
Obwohl die Beziehung zu seinem Vater auf dem untersten Tiefpunkt angelangt war, konnte Ben nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Mit aller Gewalt versuchte er sich von dem Kabelbinder zu befreien. Er musste zu seinem Vater! Er musste ihm helfen!
Doch es ging nicht, er kam nicht los. Winkler war herumgewirbelt und starrte erst ungläubig auf die Szene die sich ihm bot und dann auf Iwanow. „Bist du irre?", schrie er ihn an. "Verdammt nochmal, du hattest nicht den Befehl zu schießen!", tickte er aus und stürzte auf den Russen zu. Im Affekt entriss er ihm die noch geladene Pistole und drückte ab. Die Kugel traf den überraschten Mann mitten ins Herz. Er war sofort tot.
Als Winkler seinen Lebensretter erschoss, war Ben unwillkürlich erstarrt. Er rechnete fest damit dass er selbst als nächstes an der Reihe war. Und er wusste wie schlecht es um ihn stand und wie einfach es doch für seinen Gegner war ihn zu töten. Ben konnte sich weder wehren noch ausweichen. Er kam hier nicht weg! Er konnte nichts tun! Wenn Winkler jetzt die Waffe auf ihn richtete war alles aus - aus und vorbei.
Doch es kam anders. Winkler stieß einen animalischen Schrei aus und schleuderte die Pistole von sich. Als er den schockierten Blick des Jungen bemerkte, fuhr er ihn kalt an: "Was ist? Sei froh, einer weniger, mit dem wir den Gewinn an unseren Geschäften teilen müssen!" Dann hielt er sich sein Handy ans Ohr und verließ den Raum wo er sein unterbrochenes Telefonat wieder aufnahm. Der Junge, kreidebleich im Gesicht, folgte ihm verunsichert.
Ben konnte selbst noch nicht richtig begreifen was sich da gerade abgespielt hatte. Erschüttert löste er sich aus seiner Starre. Er hatte überlebt, fürs Erste jedenfalls. Doch was jetzt?
Ben schaute zu seinem Vater. "Hilf mir...", flehte Konrad ihn an. Seine Stimme war ein kaum hörbares Flüstern.
„JA, WIE DENN?“, hätte Ben ihn am liebsten angeschrien. Verzweifelt versuchte er wieder sich zu befreien, aber je stärker er an dem verdammten Kabelbinder riss desto tiefer grub sich das scharfkantige Plastik unter seine Haut. Es schien aussichtslos. Ben gab auf und schloss die Augen. Sein Vater würde sterben, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
NEIN! Alles in ihm wehrte sich gegen diese Vorstellung. Nein, verdammt!! Noch war es nicht vorbei!!
Noch mehr Adrenalin durchflutete ihn und Ben begann erneut sich mit aller Gewalt von den Fesseln zu befreien. Ohne Rücksicht auf Verluste zog und zerrte er wie von Sinnen - und fiel plötzlich vornüber. Der Kabelbinder war gerissen. Endlich! Eilig entfernte Ben den Knebel von seinem Mund und stürzte zu seinem Vater.
„Mein Sohn...", hauchte Konrad leise, als er Ben neben sich erkannte. "...es tut mir so leid. Ich.... ich... hab das.... nicht.... gewollt. Bitte..... verzeih mir.“, stieß er mühsam hervor.
„Schscht, nicht sprechen.“, versuchte Ben seinen Vater zu beruhigen. Dort wo ihn die Kugeln getroffen hatten, hatte sich sein Hemd bereits großflächig dunkelrot gefärbt. Mit fahrigen Fingern tastete Ben am Hals seines Vaters nach dessen Puls. Dabei sah er auch das Blut an seinen eigenen Händen. Bevor der Kabelbinder gerissen war, hatte er ihm die Handgelenke fast bis auf die Knochen aufgescheuert. Doch Ben hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denn im gleichen Moment drangen noch drei weitere Dinge in sein Bewusstsein. Die Panik, weil er den Puls seines Vaters nicht fühlen konnte und er die Augen schlossen hatte, das Handy, mit dem er die Rettung rufen musste und das Geräusch, das von der Tür gekommen war.
Ben schaute auf und sah dort den Jungen stehen. Er konnte deutlich sehen wie sich die Augen des Kerlchens entsetzt weiteten, als er ihn bei seinem Vater knien sah. Sofort hatte er sich die Pistole vom Gürtel gerissen, entsicherte sie und richtete sie auf Ben.
"Nimm die Hände hoch!!!", schrie er. "Du sollst sofort die Hände hochnehmen!! Los nehm die Hände hoch!!! Ich hab gesagt du sollst die Hände hochnehmen!!", brüllte er ununterbrochen. In Bens Kopf gingen sämtliche Alarmglocken an. Die Stimme des Jungen klang so schrill und hysterisch und die Art wie er die Waffe mit seinen zittrigen Händen umklammerte ließ ihm keinen Zweifel, dass der Junge mit der Situation völlig überfordert war.
Doch Ben war trotzdem nicht in der Lage sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Zwar schrie jede Faser seines Körpers danach der Aufforderung des Jungen nachzukommen um der tödlichen Gefahr zu entgehen. Aber da war noch etwas anderes - etwas das ihn daran hinderte sofort zu reagieren.
Die rechte Hand immer noch am Hals seines Vaters, spürte er plötzlich doch dessen unregelmäßigen Puls und ein Funken Hoffnung überkam Ben.
Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Plötzlich fühlte er einen brennenden Schmerz an der linken Schläfe und wie etwas durch sein Haar pflügte. Fast zeitgleich hörte er den lauten Knall, der mitten in seinem Kopf zu explodieren schien. Und dann kam der Schmerz, der so heftig über ihn hereinbrach, dass er die Kontrolle über seinen Körper verlor.
Doch das bekam Ben gar nicht mehr richtig mit, denn als er neben seinem Vater zusammenbrach war es schon dunkel um ihn geworden und als Winkler wenig später zurück in den Raum stürzte, war er schonnicht mehr bei Bewusstsein.