Alte Villa - 0:00 Uhr
Totenstille herrschte in den Gemäuer der alten Villa am Stadtrand von Köln, die umgeben war von prächtigen Parkanlagen. Hier wohnten Menschen noch im Abstand von mehreren hundert Metern, und für die Gartenpflege benötigte man Personal. Die Häuser waren Altbauvillen aus dem 17ten und 18ten Jahrhundert, wunderschön verziert mit allerlei baulichen Besonderheiten dieser Zeit. Türmen, Erkern, große hohe Decken und riesige Zimmer. Wer hier wohnte, hatte sich entweder nach einem sehr guten Berufsleben zur Ruhe gesetzt, oder war eine bekannte Größe in zwielichtigen Geschäften.
Nur bei einer Villa wusste die breite Nachbarschaft überhaupt nichts über den Besitzer. Er wurde so gut wie nie auf seinem Grundstück, das zusehends zuwuchs mit Sträuchern, Hecken und hohem Gras, gesehen, niemand kannte seinen Namen, sein Auto, sein Aussehen. Post und Zeitungen wurden täglich entfernt, aber scheinbar nachts... und nur nachts schien so etwas wie Leben in der Villa zu herrschen.
Der größte Raum der alten Villa war in flackerndes Licht getaucht. Gabriel, mit weißer Hose und weißem Hemd gekleidet wie ein Arzt, schaute auf die Gemeinschaft an Anhänger, die sich vor ihm versammelte... Menschen, die sich von seiner Kunst des Redens fangen ließen. "Gemeinschaft der Engel" nannten sie sich, und sie waren nicht die einzige Gruppe in Deutschland, in Europa, auf der Welt. Ein Netzwerk an fanatischen Engelsanbeter, die an ihre eigene Auslegung der Bibel glaubten, und dem Menschen eine völlig andere Rolle zukommen ließen, als die ursprüngliche Fassung eigentlich gedacht. Wie in einer Kirche hatten die Leute in dem großen Raum auf Stühlen Platz genommen, die Stille war zum Greifen als Gabriel nach vorne trat.
"Liebe Brüder und Schwester... ich möchte euch in der heiligen Messe herzlich begrüßen.", sagte er wie ein Pfarrer beim Sonntags-Gottesdienst, doch die Gemeinde vor ihm blieb still. Alle schauten auf den Boden vor sich und hatten die gefalteten Hände in den Schoß gelegt. Was in diesem Raum passierte, hatte mit einem Gottesdienst wenig zu tun. Es gab keine Musik, keine festen Rituale... nur Gabriel als eine Art Sprecher, der den Gläubigen vom Hass erzählte, und dabei bewegungslos an einem Tisch stehen blieb.
"Wir sind Gottes treueste Diener. Dann hat er den Menschen erschaffen...", sagte der Mann mit beschwörender Stimme, und es schien als würden die Leute auf den Stühlen gebannt, beinahe wie in Trance zuhören. "Das war ein Fehler, meine Brüder und Schwestern." Nun kam Bewegung in den Mann. Langsam schritt er von einem Ende ans andere Ende des Raums, ging um das Quadrat aus Stühlen herum, und sprach dabei immer lauter, immer entfesselnder, langsam und eindringlich. "Er hat ein Raubtier erschaffen, das die Erde zerstört und ausbeutet. Das Gottes Gebote mit Füßen tritt. Das weder Nächstenliebe noch Zurückhaltung kennt." Zwischen seinen lauten Sätzen erfüllte jedes mal eine unheimliche Stille den Raum.
"Gott ist schwach geworden. Die Menschen sind seines liebsten Kind, obwohl alleine wir... die Engel Gottes... seit Erschaffung der Erde ihm treu gedient haben. Doch das... ist jetzt vorbei." Gabriel war wieder am Pult angekommen und stützte die Hände auf der Tischplatte ab und sah mit funkelnden Augen auf die Menschen, die stumm und gebannt zuhörten. "Wir werden uns erheben. Die Engel Gottes werden die Aufgabe ihres Herren jetzt endlich übernehmen, und über die Menschen auf der Erde richten."
"Ja, Gabriel...", murmelten die Stimmen wie im Chor dem Prediger zu. "Seid vorsichtig, meine Brüder und Schwester. Wir sind eine Gemeinschaft. Wir stehen zueinander und leben die Gebote Gottes... nur ein Gebot hat unser Herr geschrieben und den Menschen mitgegeben, an das wir uns in unserer Aufgabe nicht halten können." Der Mann dämpfte seine Stimme wieder und schaute beschwörend in die Menge, die jetzt alle gleichzeitig den Kopf gehoben hatten und ihren geistlichen Führer gebannt anblickten. "Das fünfte Gebot wird heute in unserer Gemeinschaft gegenüber den Menschen ausser Kraft gesetzt. Wir werden die Zerstörer unserer Erde, die von Gott als Paradies geschaffen wurde, bestrafen wozu der Herr nicht fähig ist."
"Ja, Gabriel...", kam nun lauter als Antwort. "Wir lassen sie den bitteren Zorn spüren! Gott ist schwach und deshalb müssen und werden wir handeln, um die Erde wieder zu einem Paradies werden zu lassen. Es wird Zeit brauchen... viel Zeit." "Ja Gabriel..." Wieder war es still, unheimliche Stille und das Flackern der Kerzen legte bizarre Schattenspiele auf die Gesichter der Menschen, besonders auf das Gesicht Gabriels, der sich immer wieder bewegte und damit die Schattenstruktur auf seinem Gesicht sich immer wieder änderte. "Wir werden dem Menschen das Böse aus den Körpern nehmen... aus ihren Seelen herausschneiden, liebe Brüder und Schwester..." Die Stimme, mit der Gabriel den letzten Satz sprach, zeigte gnadenlose Entschlossenheit und würde normalen Menschen eine Gänsehaut über den Körper jagen...