Autobahn - 12:15 Uhr
Jenny war genervt, müde und noch dazu nicht bei der Sache. Ob nun das eine aus dem anderen entstand, oder alles aus dem Ursprung ihrer Gedanken um Kevin stammte, konnte sie nicht sagen. Die Chefin hatte sie eher widerwillig in den Dienstplan schreiben lassen, sie musste raus aus ihrer Wohnung, sie wollte arbeiten. Und vor allem wollte sie normal behandelt werden, doch das viel gerade sehr schwer. Denn Anna Engelhardt hatte Bonrath und Hotte erklärt, dass sie besonders gut auf Jenny acht geben sollten, dass sie ihr nicht zuviel zumuten sollten. Und diese Ansage nahmen die beiden gutmütigen Streifenpolizisten mehr als ernst.
Es begann damit, als kurz vor Mittag die Nachricht eines Verkehrsunfalls, nur wenige Minuten vom Revier aufgenommen werden musste. Jenny atmete auf... endlich etwas zu tun, endlich Ablenkung. Sie griff ihre Jacke und Mütze, und schaute herausfordernd Dieter an, mit dem sie öfters zusammen fuhr. Der bequemte sich auch langsam in die Senkrechte, doch zu ihrer Überraschung nahm auch Herzberger seine warmen Sachen in die Hand. "Ähm... was...?", fragte Jenny unsicher, doch der dicke Polizist winkte sofort ab. "Das ist schon okay, Jenny. Ich fahre mit Dieter." "Aber Hotte, ich will was tun. Rumsitzen kann ich auch zu Hause." Es war ein so ruhiger Tag, sie hatte die Berichte, die abgearbeitet werden musste innerhalb einer Stunde bereits erledigt gehabt.
Doch Hotte blieb hart. Sie sei schwanger, sie solle sich etwas schonen, sie könne dann auch den Bericht des Unfalls schreiben, wenn die beiden wieder zurück sind. "Hotte, ich bin im dritten Monat schwanger. Da ist man nicht bettlägerig... ausserdem kannst du nicht auf mich aufpassen, wenn ihr beide weg seid." Schnippisch verschränkte sie die Arme vor der Brust, und Herzberger schnappte einen Blick der Chefin auf, die scheinbar durch die Glaswand die Diskussion beobachtete... und ihr Blick verriet höchste Alarmstufe kurz vor einem Super-GAU. "Na gut.", sagte Herzberger entschlossen und setzte sich die Mütze auf den Kopf. "Dann fahren wir eben zu dritt." Mit diesen Worten nahm er entschlossenen Schrittes Kurs zur Tür, während Jenny nicht wusste, was sie sagen sollte. "Na komm schon, Jenny. Du weißt doch, er meint es nur gut.", sagte Bonrath in seiner manchmal drögen, oft aber auch beruhigenden Art und Weise.
Zu dritt setzten sie sich in den großen Porsche, der hinten für Jenny Platz genug bot, und fuhren auf die Autobahn. Es hatte sich bereits ein Stau gebildet, die Rettungsgasse wurde mehr oder weniger gut gebildet und die Streifenbeamten waren als erstes am Unfall ort. Ein weißer BMW stand auf dem Seitenstreifen, die Motorhaube und Front eingedrückt. Ein kleiner Opel sah schlimmer aus, stand verkehrt herum halb auf dem Seitenstreifen und der rechten Spur, war vorne ebenfalls demoliert, sowie der Kofferraumdeckel eingedrückt. Ausserdem war die rechte Leitplanke nach aussen verbogen und mehrere Wagen hatten an der Unfallstelle angehalten und leisteten bei einer Frau erste Hilfe.
"Am besten bleibst du im Wagen, Jenny... ok?", sagte Hotte, nachdem er bereits auf den ersten Blick einen RTW und die Feuerwehr verständigte, da Kühlmittel aus dem Opel lief. "Nein Hotte, ich bleibe nicht im Auto. Nochmal, ich bin weder krank noch beeinträchtigt... Mann!", empörte sich Jenny vom Rücksitz und stieg, trotz eines kurzen schmerzhaften Stechens im Bauch, aus dem Auto aus. "Bonrath, sicher du mal die Unfallstelle ab, wir reden mit den Beteiligten." Bonrath war in Hottes Augen heute der, der am besten zu Fuß war, weswegen er das Warndreieck aufstellte.
"Können wir helfen?", fragte Hotte zunächst bei der verletzten Frau nach, die an der Leitplanke saß und von einem Mann einen Kopfverband gefertigt bekam. "Mir ist ein wenig schwindelig...", sagte die Frau. "Der RTW kommt gleich. Sind sie die Fahrerin von dem Opel?" Ein kurzes erschöpftes Nicken, und dem Unfallwagen nach zu urteilen konnte Hotte der Frau Kopfschmerzen nicht verdenken. Ein weiterer Mann lief aufgeregt hin und her, hatte das Handy am Ohr, wobei er oft die Worte "Blinde Kuh" und "Frauen am Steuer" rief. Jenny kam zu ihm und bat ihm durch Handzeichen das Handygespräch für einen Moment zu unterbrechen. "Können sie mir sagen, was passiert ist?" "Na... na ganz einfach. Ich fahre auf der Überholspur... linke Spur. Alles frei und rechts, auf einmal zieht die raus. Sie gar nicht dass..." Der Typ redete wie ein Wasserfall, Jenny nickte hin und wieder, und seine Worte verhallten irgendwo. Vermutlich war er schnell unterwegs und die Autofahrerin hatte sein Tempo unterschätzt, und zog auf die Überholspur... ein Unfall, wie er jeden Tag vorkam.
Ihr Bauch schmerzte etwas, ihre Gedanken entrückten... und plötzlich sah sie es. Sie blickte gerade an dem Unfallbeteiligten vorbei auf die Überholspur, auf die Bonrath zu Beginn des Unfalls die Autofahrer noch notdürftig umleitete, bis ein zweiter Wagen kommen würde, und diese Umleitung übernehmen sollte. Seine abstehenden Haare, sein Blick... war unverkennbar. Er rollte in einem dunkelblauen Jeep über die Überholspur und für einen Moment hatte Jenny das Gefühl, er hätte sie angesehen. Der Mann hörte einen Moment aufzureden, als er das entsetzte, gar starrte Gesicht der Polizistin bemerkte, die dem Wagen hinterher sah und jegliche Gesichtsfarbe verlor. "Hallo... hören sie mir zu?", fragte er irgendwann, und Jenny erwachte aus ihrer Starre. "Was? Ja... einen Moment..."
Sie lief zum Dienstwagen, startete ihn und ordnete sich mit Blaulicht gewaltsam in den laufenden Verkehr ein. Höchstens vier oder fünf Wagen waren zwischen ihr und dem Jeep, hinter der Unfallstelle verteilte sich der Verkehr sofort wieder. "JENNNYYYYY!" rief Hotte laut, als er bemerkte, was passiert. Bonrath war zu weit weg, er hörte nur den Motor und sah nur noch die Rücklicher ihres Dienstwagens. "Das gibts doch nicht...", schnaufte der dicke Polizist und zog sein Diensthandy aus der Tasche, um Ben und Semir anzurufen.
Jenny war wie in Trance, als sie begann, Auto für Auto zu überholen. Sie wusste überhaupt nicht, warum sie das tat, was sie tat... sie wollte Gewissheit, sie wollte genau sehen, was sie glaubte, gesehen zu haben. Nicht warten bis heute abend, nicht weiter im Unklaren sein. Der Polizei-Porsche hatte Überschuss, als sie an dem Jeep auf der Überholspur vorbeifuhr, so schnell, dass sie nicht rechtzeitig herübersehen konnte. Mit einem Tastendruck schaltete sie das "Bitte folgen" - Schild in der Heckscheibe an und steuerte den nächstgelegenen Rastplatz an. Sie spürte ein Zittern in den Händen, ein Ziehen im Bauch, und ihre Atmung funktionierte nicht gleichmäßig. Das Herz schlug so fest gegen den Rippenbogen, als wolle es ausbrechen, und der Bild im Rückspiegel, als beide Autos zum Stehen kamen, verschwamm.
Hatte er doch überlebt? Warum hatte er nicht angerufen? Wie lange war er überhaupt schon hier? Mit diesen Fragen würde Jenny den jungen Mann überschwemmen... vermutlich nachdem sie sich überglücklich in die Arme geschlossen hatten, sich festgehalten hatten und schwören würden, nie wieder loszulassen. Das spielte sich vor Jennys innerem Auge ab, als sie mit feuchten Händen die Wagentür öffnete, und mit langsamen, unsicheren Schritten die kurze Distanz zu dem Geländwagen überwinden wollte.
Als die junge Polizistin durch die Windschutzscheibe in das Gesicht des Mannes sah, wollte sie zusammenbrechen... ob aus Scham, ob Enttäuschung... sie wusste es nicht. Der Mann am Steuer des Jeeps war gute 10 Jahre älter, hatte zwar die Haare zugegebenermaßen ungekämmt und abstehend, aber sonst keinerlei Ähnlichkeit mit Kevin. Nicht mal die Augenfarbe oder der melanchonische Gesichtsausdruck hätte gepasst. Aber sie hatte ihn doch gesehen... er hatte sie angesehen mit seinem durchdringenden Blick. Jennys Reaktion muss dem Kerl am Steuer sehr suspekt sein, denn sie kam langsam mit versteinertem Blick, bis sie an der Seitenscheibe stand. "Hab ich was falsch gemacht?", fragte er die Fraeg, die wohl jeder Autofahrer stellte, wenn er angehalten wurde. Aus dauerte einen Moment, bis Jenny sich gefangen hatte, etwas von "Allgemeiner Verkehrskontrolle" stotterte und nach kurzem Blick auf den Führerschein und die Papiere eine gute Weiterfahrt wünschte. Später hätte sie nicht mal mehr die Wagenfarbe des Autos nennen können, so wurde ihr Kopf von Gefühlen überflutet...