Semir's Haus - 18:30 Uhr
Es war genau das richtige Wetter um mit einer Wolldecke zusammen am Kamin zu sitzen. Draussen schüttete es mittlerweile in Strömen, der Wind peitschte Zweige und Äste von den Bäumen, die bei Semir auf die Terasse fielen und der Himmel grollte böse und unheilvoll. Während die kleine Lilly ein wenig angstvoll Schutz unter der Wolldecke bei Andrea auf der Couch suchte, stand Ayda am Fenster und blickte in den dunklen Abend, um die kurz aufzuckenden Blitze zu erhaschen, die für einen Sekundenbruchteil die Umgebung erhellten. "Schatz, willst du nicht zu uns auf die Couch kommen?", fragte Andrea ein wenig übertrieben sehnsuchtsvoll und blickte über den Rand der Lehne in Richtung des Esszimmertisches, während sie sich versuchte, mit Fernsehn abzulenken von den Geschehnissen des Tages.
Da saß Semir, gebeugt über zwei geöffnete Akten, die er am Nachmittag aus dem Büro mitgebracht hatte und gab nur ein geistesabwesendes "Gleich..." zur Antwort. Er hatte den Kopf auf einer Hand abgestützt, während er aufmerksam las, immer wieder eine Seite umblätterte und mehrmals die Stirn runzelte.
Semir hatte sich die Berichte der beiden Tatorte mitgenommen und nochmal aufmerksam gelesen. Es war wie ein kriminalistischer Instinkt, eine Ahnung die ihn umtrieb und den Fall im Kopf noch nicht abschließen ließ. Das ging ihm zu schnell, zu einfach... zwei eiskalte brutale Morde von einem Jungen begangen, der es beim dritten Mord nicht schafft das Messer durchzuziehen? Der sofort flüchtet und in suizidaler Absicht vor einen Zug rennt? Nein, das passte in Semirs Augen nicht zusammen. Jemand, der zwei Menschen beinahe ausweidete und einen davon an das Geländer einer Autobahnbrücke zum Ausbluten band war nicht der ängstliche Tobias. Dazu fehlte dem Polizisten die Vorstellungskraft, auch wenn er sich nicht auf ein Klischee verließ. Natürlich konnte es auch so sein und es wäre für die Polizisten die bequemste Art, den Fall abzuschließen, aber dann würde vermutlich früher oder später wieder ein Mord passieren.
War Tobias ein Nachahmungstäter, der einen Hass auf seinen Bruder hatte? Ließ er sich von dem Doppelmord inspirieren? Was hatte es mit den Dingen zu tun, die Tobias gesagt hatte, mit Gott und Engel... die Welt retten. Seine Augen strichen über die Protokolle, die er selbst angefertigt hatte. Je mehr er las, desto mehr wurde ihm klar, dass Tobias kein Einzeltäter war. Erst das Klingeln seines Handys rieß ihn aus den Gedanken. "Ben? Ben... jetzt bleib doch mal ganz ruhig. Was ist passiert?"
Ben's Wohnung - 19:15 Uhr
Ben saß auf der Treppe im Hausflur, als Semirs BMW im strömenden Regen vor dem Haus hielt. Unterwegs musste der erfahrene Polizist mehreren umgekippten Mülltonnen ausweichen, die der Orkan umgeworfen hatte, ausserdme kamen ihm drei Feuerwehrautos im Einsatz entgegen. Nach Bens aufgelösten Anruf hatte er sofort die Spurensicherung und Meisner angerufen, auch wenn der sich ob der scheinbaren Kurzbeschreibung des Fundes nicht zuständig fühlte. "Bitte, du findest Spuren, die sonst keiner findet. Ausserdem nimmst du die Sache ernst." "Na schön, ich bin gleich da." Der Rechtsmediziner kam gleichzeitig bei Ben an.
Ben öffnete mit bleichem Gesicht die Haustür und Semir hatte bereits die Taschenlampe in der Hand. "Alles klar bei dir?" Der junge Polizist nickte und sagte ehrlich: "Ich hab mich furchtbar erschrocken da unten. Ich war auch seitdem nicht mehr runter gegangen." "Na komm...", meinte sein Partner etwas scherzhaft. "Es wird schon kein Monster sein." Ben hatte Semir angerufen und nur davon berichtet, dass ein blutiges Ding im Keller hinge, dass er sein Handy verloren hatte und nicht mehr fand im Dunkeln. Zu dritt gehen die drei Männer die Treppen runter, verfolgt von einigen Männern, die nach Spuren suchen sollen, denn dass es sich hier nicht um einen Streich handelte, sondern um eine Drohung, war beiden Freunden klar.
Semir leuchtete in den geöffneten Raum hinein und suchte zuerst den Sicherungskasten nach der ausgeschalteten Hauptsicherung ab. Als er sie fand und den Schalter wieder umlegte, flackerte sofort die Neonröhre an der Decke auf und offenbarte das Massaker. Es traf die Männer unvorbereitet, ohne Warnung und zumindest die Polizisten hielten sich angeekelt die Hand vor den Mund. "Herrgott, ist das krank...", fluchte Semir und kniff die Augen in der Helligkeit zusammen.
Der Boden des Raumes war zu großen Teilen mit rotem Blut bedeckt. An der Wand stand eine große Holzplatte, an die der Täter einen Ziegenbock regelrecht gekreuzigt hatte, die Vorderhufen auseinander gestreckt und mit Nägeln an die Holzplatte geschlagen. Aus dem aufgeschlitzten Tierkadaver hingen Gedärme und regelmäßig tropfte Blut aus dem durchtränkten Fell auf den Boden. Was den Anblick noch unerträglicher machte war die Tatsache, dass der Täter das Tier auch noch enthauptet hatte und der Kopf auf dem Boden lag. Semirs Vermutungen bezüglich Tobias als Einzeltäter aller drei Morde, die er eben zu Hause am Esszimmertisch hatte, schienen sich zu bestätigen. "Das ist ja mal ne Sauerei...", meinte auch Meisner.
"Da scheint jemand sauer auf dich zu sein.", sagte Semir in Bens Richtung, der das Massaker mit offenem Munde anschaute. "Tobias scheint sich das Muster der Morde nur abgeschaut zu haben. Der Mörder des Kinderschänders und des Bankmenschen läuft noch frei herum.", teilte Ben seine Gedanken mit und sein Herz schlug etwas schneller. Er würde niemals zugeben, Angst zu haben und beide standen schon öfters im Visier von irgendwelchen Verbrechern, aber solch eine kranke Brutalität war auch ihnen selten untergekommen und es verursachte zumindest ein flaues Gefühl.
Meisner ging interessiert um das Brett herum. "Kreuzigung und ein Ziegenbock... was sagt uns das?", fragte er und legte zwei Finger ans Kinn, während er zu Semir und Ben sah, die ein wenig ratlos dreinschauten. "Ihr kennt die Bibel auch nur von aussen... na gut, Semir ist entschuldigt. Der Ziegenbock ist das Sündertier, das Abbild des Teufels. Die Kreuzigung dazu... wenn ihr mich fragt ist das schon fast eine Art christlichen Extremismus, radikal christlich... wenn man sich dann noch ansieht, was die beiden vorherigen Mordopfer verbrochen haben.", half er den beiden Ermittler ein wenig auf die Sprünge. Einer der Mitarbeiter brachte aus einem anderen Raum einen blutverschmierten Ganzkörper-Schutzanzug. "Das lag nebenan." Als Ben den Anzug betrachtete meinte er fast sarkastisch: "Das wird ja heute ne sehr ruhige Nacht für mich werden..."