Diese Geschichte ist der neunte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:
1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
3.Fall: Auf dünnem Eis
4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
5.Fall: Blackout
6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
7.Fall: Vertrauen
8.Fall: Grüße aus St. Petersburg
Man sagt am Ende wird alles gut.
Und wenn es nicht gut ist, kann es auch nicht das Ende sein.
Am Ende wird alles gut und ist es nicht gut, ist es verdammt nochmal nicht das Ende - NEIN!
Casper – Ariel
Kapitel 1
Ben drückte seinen Freund an sich. Es war verdammt lange her, seit er Mikael zum letzten Mal gesehen hatte. Sechs Monate. Eine halbe Ewigkeit. Er nahm sich vor die nächsten Tage zu nutzen und möglichst viel mit Mikael zu unternehmen. Die Familie hatte geplant, für eine Woche hierzubleiben, vielleicht aber auch etwas mehr. Das stand noch nicht fest. Mikael hatte versprochen, dass er seiner Cousine dabei helfen würde, das Haus ihres Großvaters leerzuräumen und dann zu verkaufen.
Ben lockerte die Umarmung und löste Mikael von sich. „Du siehst gut aus!“
Die Mundwinkel seines Freundes zogen sich nach oben. „Es geht mir auch gut.“
„Komm lass uns irgendwo reingehen!“ Ben ließ seinem Freund keine Zeit zum Antworten und zerrte ihn in ein Café, das sich ganz in der Nähe befand.
Sie suchten sich einen Tisch in der Ecke aus. Während Mikael auf der mit rotem Kunstleder bezogenen Bank Platz nahm, setzte sich Ben sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Dann hob er den Arm und sofort kam eine Bedienung an den Tisch. „Was möchtest du haben?“, fragte er Mikael.
„Einen Kaffee und ein Wasser.“
Ben nahm ebenfalls einen Kaffee. Als die Bedienung wieder gegangen war, musterte er Mikael genau. Irgendetwas schien sein Freund auf der Seele zu haben. Seit sie das Café betreten hatten, war er abwesend, sah auf den Tisch und spielte mit der Karte.
„Und? Wie ist es dir ergangen?“
Mikael sah auf. „Gut.“
„Aber?“ Ben lächelte. „Ich sehe doch, dass da noch mehr ist.“
„Es ist nur, ich …“ Mikael atmete tief durch. „Ich habe meinen Dienst bei der Polizei beendet. Es war Zeit ein für allemal das alles hinter mich zu lassen.“ Die Stimme des Finnen klang nun nicht mehr verunsichert. Sie war kräftig und stark, zeugte von Selbstbewusstsein.
„Du hast was?“, hakte Ben ungläubig nach. Er hätte nie geglaubt, dass Mikael tatsächlich seinen Job an den Nagel hängen würde. Er hatte fest daran geglaubt, dass er nach der Pause zurückkehren würde.
„Es geht nicht mehr. Es würde mich kaputt machen.“
„Ich muss sagen, das kommt nun wirklich plötzlich“, sagte Ben.
„Ja? Ich weiß nicht, ich denke, dass ich die Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen habe. Ich wollte es wohl nur …“ Er unterbrach seinen Satz, während die Bedienung die bestellten Kaffee auf den Tisch stellte. Als sie gegangen war, sprach er weiter: „Nur nicht wahrhaben. So viele Jahre war der Job alles, was ich hatte.“
Mikael griff nach seiner Tasse und drehte sie mit der rechten Hand auf dem Unterteller im Kreis. „Aber das stimmt nicht. Meine Familie ist viel wichtiger und ich kann nicht zulassen, dass ich vielleicht dem Druck wieder nicht gewachsen bin.“
„Du weißt aber schon, dass du dir viel von dem Druck auch selbst machst?“
„Natürlich, aber ist es dann nicht noch umso schlimmer?“, stellte Mikael die Gegenfrage. Der Schwarzhaarige nahm einen Schluck Kaffee. „Ich bin mir sicher. Das war die richtige Entscheidung.“
Ben lächelte. „Es wird ungewohnt sein.“
Mikael lachte leise auf. „Wir arbeiten doch nicht einmal zusammen.“
Ben schüttelte den Kopf. „Du weißt, wie ich das meine!“
Mikael stellte den Ellenbogen auf die Tischplatte und bettete den Kopf darauf. Dann griff er nach dem Löffel und rührte in seinem Kaffee, obwohl er überhaupt keinen Zucker oder Milch hineingetan hatte. „Da ist noch mehr, aber um ehrlich zu sein … das fällt mir etwas schwerer.“
„Du gehst nicht wieder nach Alaska? Nimmst womöglich deine ganze Familie mit.“
Mikael sah auf. „Nein … so etwas ist es nicht.“
„Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst“, sagte Ben behutsam.
Mikael seufzte. „Natürlich weiß ich das, Ben. Es ist … es ist einfach nicht so leicht. Ich meine, sich so etwas einzugestehen.“
Ben verfolgte, wie der Löffel in der Tasse leicht zu zittern begann. Da war er wieder, der alte unsichere Mikael. Der, der vor menschlicher Nähe Angst hatte. Der, der einen Panzer um sich erbaute, durch den niemand durchkam. „So schlimm kann es doch nicht sein. Wir sind Freunde, ich verurteile dich wegen überhaupt nichts.“
„Depressionen … ich habe Depressionen!“ Die Antwort kam so schnell und leise aus Mikaels Mund, dass Ben sie erst verstand, nachdem einige Sekunden vergangen waren und dann verschlug sie ihm die Sprache. Und er wusste nicht einmal wieso. Es war doch in den letzten Monaten mehr als offensichtlich gewesen, dass sein Freund Probleme hatte und zwar solche, die sich nicht mit einem Fingerschnippen lösen würden. Und doch, diese Worte so zu hören, war etwas anderes. Es war ein komisches Gefühl, was sich nicht wirklich fassen ließ.
„Ich leide an Depressionen“, kam es erneut. Jetzt etwas Langsamer, aber immer noch leise. „Mein Therapeut sagte, dass ich … er hatte den Verdacht …“ Mikael stoppte und senkte den Blick.
„Du brauchst dich dafür nicht zu schämen“, sagte Ben jetzt. „Das ist nichts, wofür du dich schämen musst.“
„Er hat den Verdacht geäußert, dass es vielleicht von dem Sturz kommt.“ Nun hatte die Stimme seines Freundes wieder an Stärke gewonnen. Auch wenn er weiterhin leise sprach, so zitterte seine Stimme nicht mehr. „Er hat mir die Adresse von einem Spezialisten gegeben. Er hat das bestätigt.“
„Und nun?“, hakte Ben mit dünner Stimme nach. Er fühlte sich solchen Gesprächen nicht gewachsen und das merkte man nun sicherlich auch.
„Ich habe Tabletten bekommen und er hat mir eine Adresse von einer Gruppe gegeben, von Leuten, die ebenfalls betroffen sind … aber ich weiß nicht, ob ich hingehe.“ Mikael lächelte unsicher. „Ich meine, sich Leuten zu öffnen, die man nicht kennt.“
„Es wird dir sicher helfen. Auch wenn es am Anfang schwer ist.“
„Ja, ich weiß.“ Mikael ließ den Löffel los, hob ihn aus der Tasse und trank den Kaffee in einem Zug aus. „Ich muss mir in der letzten Zeit so viel eingestehen. Es ist ziemlich anstrengend.“
Ben griff nach dem Unterarm seines Freundes. „Aber die Zeit danach wird dann viel besser.“
„Das weiß ich auch“, grummelte der Schwarzhaarige.
Ben lächelte. „Ich weiß, dass du das schaffst. Du gibst niemals auf zu kämpfen, egal wie hart es ist.“
„Mit Eva und den Kindern, da lohnt es sich doch auch zu kämpfen, oder?“ Mikaels Blick ging in Richtung Fenster und er sah hinaus auf die verschneiten Straßen von Köln. „Wenn ich darüber nachdenke, wie viel sie schon mitbekommen von alldem. Viivi versteht das alles noch nicht so, aber Oskari. Er weiß, dass etwas nicht stimmt mit mir.“ Er blickte wieder zu Ben. „Mit seinem Vater“, fügt er leise hinzu. Der Arm unter Bens Hand begann zu zittern. „Ich will nicht so werden, wie mein Vater. Sie brauchen mich und ich möchte für sie da sein. Als ihr Vater! Ich muss sie bei ihren Problemen unterstützen, nicht sie bei meinen.“
„Ich weiß, dass du ein guter Vater bist“, erklärte Ben. „Du bist so liebevoll und verständnisvoll mit ihnen.“
„Ich kann sie nicht verlieren. Das würde ich nicht aushalten. Eva hatte Recht, wenn ich mich nicht den Dämonen in mir stelle, dann gibt es meine Familie nicht mehr.“ Mikaels blauen Augen blickten direkt in seine. „Sie hätte mich verlassen … alles war so kurz davor auseinanderzubrechen.“
„Aber das ist es nicht. Du hast die Kurve bekommen. Ich hätte das sicher nicht geschafft!“
„Das ist Quatsch“, widersprach Mikael. „Natürlich hättest du.“
„Nein. Ich meine das ernst. Ich hätte nicht so lange durchgehalten in diesem Sumpf und dieser Dunkelheit.“
„Ich habe all meinen Freunden vor den Kopf gestoßen. Meiner Familie und du tust so, als wäre es etwas Rühmliches gewesen.“
„Du hast es ja nicht mit Absicht gemacht. Du hast einfach geglaubt, dass es die einzige Lösung ist.“ Ben lehnte sich zurück und lachte leise. „Und nun hast du ja noch Zeit genug, dass alles wieder gutzumachen!“
Mikaels rechter Mundwinkel zog sich ein Stück nach oben. „Und ich fange gleich damit an. Eva hat dich und Semir für Übermorgen zum Essen eingeladen … und Andrea natürlich auch.“
„Ja, ein gemeinsames Essen ist ein guter Anfang“, bestätigte Ben und lachte laut auf, ehe Mikael mit einsetzte.