Dieser Satz riss den Türken förmlich in seinem Bett in die Höhe, um ihn anschließend wieder in sich zusammen fallen zu lassen.
„Sagen sie nicht, dass das wahr ist! …. Das ist nicht wahr!“, die Stimme des Türken nahm hysterische Tonlagen an. „Das kann einfach nicht wahr sein!“ Er schüttelte seinen Kopf.
„Doch!“, wisperte Kim Krüger zurück „Es ist die Wahrheit!“
Der neuerliche Schock saß tief bei Semir. Mit geschlossenen Augen lag er in seinem Bett, drückte seinen Kopf tiefer ins Kissen und rang krampfhaft darum, nicht seine Fassung zu verlieren. Zwischen seinen Schläfen hämmerte der Pulsschlag wie verrückt, es fühlte sich an, als würde sein Kopf jeden Moment explodieren. Verzweifelt presste er seine Handflächen dagegen und brüllte schluchzend auf: „Nein … nein … nein!“
Frau Krüger umschlang die Handgelenke von Semir und zog sie vom Kopf weg. „Herr Gerkan, bitte …!“ Sie suchte nach Worten des Trostes und fand sie doch nicht.
Nach einigen Minuten des Schweigens murmelte er mehr zu sich selbst: „… Oh mein Gott, das macht es ja alles nur noch entsetzlicher. Ich hätte es wissen müssen, … ahnen müssen … ich kenne doch Ben! … Welcher Teufel hat mich nur geritten? … Was habe ich denn nur getan? …. Wie konnte ich nur so blind sein?“
Fast schon beschwörend klangen seine Worte. Er schlug seine Hände vor das Gesicht. Zwischen seinen Fingern rannen die Tränen hindurch. Das Grauen hatte ihn voll im Griff. Weitere Minuten der Stille vergingen.
Frau Krüger saß regungslos auf ihrem Stuhl, Tränen liefen ihr ebenfalls übers Gesicht. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihre Not nicht ebenfalls lauthals hinauszuschreien.
Als Semir in ihre Augen blickte, konnte er darin ihre Not und Verzweiflung erkennen. So aufgewühlt und emotional am Ende hatte er seine Chefin noch nie erlebt. Er richtete sich im Bett auf, griff nach dem Arm von Kim Krüger, krallte sich darin fest, dass sie vor Schmerz aufschrie. Beschwörend redete er auf sie ein, „Bitte Frau Krüger, ich habe ein Recht darauf! Bitte! … sagen Sie mir, was ist passiert? … Was hat Ben dazu gebracht, solch einen Kamikaze Einsatz völlig alleine auf sich gestellt durchzuziehen?“
Kim Krüger schnaufte mehrmals durch und versuchte sich erst mal zu beruhigen. Sie goss sich aus der Mineralwasserflasche, die auf dem Nachttisch stand, etwas in ein Glas ein und trank einige Schlucke. Langsam und stockend, erzählte sie Semir, was in den letzten Monaten geschehen war, während sie mit ihren Fingern das leere Glas krampfhaft umklammerte.
„Sie können sich vielleicht noch an den Unfall auf der A4 an zu Beginn des Jahres erinnern? Die Familie mit den beiden kleinen Kindern, die aus ihrem Skiurlaub zurückgekehrt waren und tödlich verunglückt sind?“
Semir nickte, er hatte noch immer das Bild des Unfalls vor Augen. Es hatte sich unauslöschlich in seinem Gedächtnis eingebrannt. Keiner der offiziellen Sachverständigen, die am Unfallort gewesen waren, konnte im Nachhinein feststellen, warum der Fahrer von der Fahrbahn abgekommen und frontal gegen einen Brückenpfeiler gekracht war. Man vermutete, dass der Fahrer wegen Übermüdung eingeschlafen war und das Lenkrad verrissen hatte. Das Auto hatte sofort Feuer gefangen, die Insassen waren alle bei lebendigem Leibe verbrannt.
Ben war damals auf dem Weg zur Dienststelle einer der ersten Helfer am Unfallort gewesen und musste hilflos zusehen, wie die Kinder und ihre Eltern verbrannten … hatte keine Chance gehabt, einzugreifen … es war einfach nur grausam gewesen. Semir war erst etliche Minuten später dazugekommen. Der Schock über dieses Erlebnis saß sehr tief beim dem jungen Kommissar. Er war damals tagelang völlig verstört gewesen, ja wie traumatisiert und hatte keinen an sich heran gelassen.
„Der Fahrer des Wagens, die Familie, stammten aus Düsseldorf. Ben hatte sie gut gekannt, war mit ihnen befreundet gewesen. Wussten Sie das?“
Der Deutsch-Türke schüttelte den Kopf. Jetzt war ihm auch klar, warum Ben damals mehrmals alles riskiert hatte, um zumindest eines der Kinder zu retten. Wenn Semir ihn nicht in letzter Sekunde zurückgerissen hätte, wäre er mitverbrannt. Die nächsten Worte von Frau Krüger drangen wie durch Watte zu ihm durch.
„Es war ein ehemaliger Kollege von Ben, ein Freund, mit dem er zusammen zur Schule gegangen war und anschließend die Kommissars-Ausbildung absolviert hatte. Die beiden waren zu jener Zeit eng miteinander befreundet gewesen … spielten zeitweise zusammen in einer Musikband… Ben war auf der Hochzeit Trauzeuge des Bräutigams gewesen. Das Schicksal der Familie hatte ihn verständlicherweise sehr mitgenommen… Ben hatte dafür gesorgt, als das Fahrzeugwrack freigegeben worden war, dass der Wagen in die KTU zu Hartmut kam. Herr Freund wurde fündig. An den Bremsen und der Benzinzuleitung des Wagens war geschickt manipuliert geworden. Es war eiskalter Mord gewesen… verstehen sie!“, sie strich sich eine ihrer Haarsträhnen hinter das Ohr „… Einige Tage später bekam ich einen Anruf von der Staatsanwältin Schrankmann. Ben war auf der Beerdigung der Familie gewesen, sie hatte ihn dort angesprochen. Peter Kellermann, so hieß der LKA Beamte, hatte Undercover Ermittlungen gegen den Sizilianer durchgeführt… so wie vor ihm schon drei andere Kollegen des LKAs und zwei Kollegen der Drogenfahndung. Auch die drei anderen LKA Kollegen waren aufgeflogen und bestialisch gefoltert und ermordet worden. Ich denke, sie kennen die Berichte über diese Mordfälle des vergangenen Jahres auch!“
Semir nickte zustimmend.
„Irgendwo im LKA … der Staatsanwaltschaft oder auch im Justizministerium sitzt ein Maulwurf. Keiner weiß im Moment wo und wer dieser große Unbekannte ist. Er verkauft streng geheime Informationen über geplante Razzien, Undercover-Einsätze an die Unterwelt, speziell an Calderones Kartell oder den Sizilianer. Jemand aus unseren Reihen, der vermutlich weit oben sitzen muss und Einsicht und Zugang in geheimen Akten und Aktionen hat…. Frau Schrankmann suchte jemanden, der es erneut wagen würde, in die Bande einzudringen… Ben hat sich dazu freiwillig bereit erklärt, gegen meinen Willen.“ Sie verstummte für einige Sekunden und sammelte sich. „Ben bestand auf diesen Einsatz, warum wissen die Götter. Es wissen nur sie Semir, Frau Schrankmann und der Innenminister, dass Ben immer noch Polizist ist. Seine Familie habe ich gestern Abend ebenfalls eingeweiht.“ Kim Krüger seufzte auf. „Es wurde schriftlich festgehalten und durch einen Notar beglaubigt, dass er sogar gewisse kriminelle Handlungen durchführen darf, um glaubhaft zu wirken, unterzeichnet vom Innenminister, der ihm völlige Straffreiheit garantierte!“
„Sie wollen mir sagen, dass die ganze Geschichte mit der Spielsucht, den Geldverleiher … den Verkauf von Informationen fingiert war. Die Dienstaufsicht …?“, Semir riss ungläubig die Augen auf, „… er hatte das Geld doch verloren … riesige Summen … ich habe seine Kontoauszüge gesehen … die Schuldscheine … mich umgehört … Ben hatte Geldeintreiber am Hals … Schlägertypen … Alles gespielt?“
„Nein, es war alles echt gewesen. Alles abgesprochen … und mit ausdrücklicher Genehmigung des Innenministers … Ben hatte die Aktion von Anfang an selbst geplant, seine kriminelle Karriere … seinen sozialen Abstieg … es musste real sein. …. Ben hatte darauf bestanden, es war eine seiner Bedingungen für diesen Einsatz. Keine fingierten Beweise!“
„Seine Spielsucht? … Bedeutet das jetzt … Ben ist pleite …?“
Seine Chefin schüttelte den Kopf. „Ich hoffe es nicht…. Die Schrankmann stellte ihm aus beschlagnahmten Drogengeldern, die eigentlich laut Protokoll verbrannt worden sind, eine größere Summe zur Verfügung. Der Rest ist sein Geheimnis …!“
Kim Krüger saß auf dem Besucherstuhl und konnte nicht verhindern, dass ihre Hände zitterten. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie zögerlich weitersprach.
„Herr Gerkan … Semir! … Ben hatte gewusst, auf was er sich einlassen würde, was auf ihm zukommen würde und trotzdem ….Die internen Ermittlungen gegen ihn … Bohm dieses Arschloch … diese letzten Wochen … diese Ungewissheit, wenn er sich tagelang nicht gemeldet hatte … Verstehen sie mich Semir? …. Alles …alles … es war einfach die Hölle. Wir wussten nicht, wo das Leck ist!“ Sie lachte ironisch auf und gleichzeitig kullerten ihr Tränen über die Wangen. „Wir wissen es ja immer noch nicht. Alles umsonst ... umsonst ... Außer Ben wacht wieder auf oder auf dem Handy sind ausreichende Beweise!“
„Das Handy!“, krächzte der Türke und krallte seine Hände in die Zudecke, „Das Handy ist in meiner Jackentasche.“
Kim erhob sich von ihrem Stuhl und mit schweren Schritten, so als würden Zentnergewichte an ihren Füßen hängen, schlurfte sie zum Kleiderschrank, öffnete ihn und fand nach kurzer Suche das kleine Mobiltelefon.
Sie betrachtete andächtig das alte Klapp-Handy in ihren Händen. Die Oberfläche war mit Blutspuren überzogen … Bens Blut … Das Grauen, das sie überfiel, schüttelte sie …