Paul stellte seinen Wagen ab und stieg aus. Vor ihm lag ein schmaler Weg, der zum Tor eines Friedhofs führte. Er hielt Ausschau, konnte aber nichts entdecken.
Ein letztes Mal holte er tief Luft, dann drückte er auf den Schlüssel und verriegelte seinen Wagen. Mit großen schnellen Schritten ging er durch das imposante und kunstvoll gestaltete Friedhofstor. Vor ihm breiteten sich lange Grabreihen aus. Nebel lag dicht über der Erde, Nieselregen begleitete ihn auf seinem Weg über den Totenacker. Der Wind ließ die Äste der kahlen Bäume, wie die Gebeine von Toten, klappernd aneinanderschlagen. Ein in kalter Schauer überfiel ihn – unheimlicher konnte ein Friedhof wohl nicht sein.
Neblig, kalt und feucht.
Der Kies knirschte unter seinen Turnschuhen. Die linke Hand hatte er in der Manteltasche vergraben, die rechte Hand umgriff die Taschenlampe. Der Herbst hatte Einkehr gehalten und in der Nacht war es bereits bitterkalt. Ein Zeichen, dass der Winter auch kalt werden würde, hatte seine Schwester ihm bei Kaffee und Kuchen erzählt. Er selbst war davon nicht überzeugt. Auf einen kalten Herbst, waren auch in der Vergangenheit schon oft milde Winter gefolgt.
Paul bog an der nächsten Gablung rechts ab. Noch immer war ihm nicht ganz klar, wer ein Treffen auf einem Friedhof vorschlagen würde. Er konnte sich aus der Nachricht, die er vor wenigen Stunden erhalten hatte, keinerlei Reim machen. Es waren zwei Kurznachrichten gewesen. In der ersten wurde um ein Treffen gebeten, in der zweiten Nachricht hatte er die Grabreihe und die Nummer erfahren. Direkt neben der großen Engelsstatue hatte darin gestanden. Ohne den Hinweis der Statue hätte er den Treffpunkt vermutlich in der Nacht auch nicht gefunden.
Der Weg führt zu einem Kriegsmahnmal. Paul hielt kurz inne, überlegte, welchen der Wege er nun nehmen musste und setzte seinen Gang dann fort.
Vielleicht hätte er doch Semir darüber informieren sollen? Er verneinte die Frage innerlich. Das wäre albern gewesen, denn vermutlich war es einfach einer seiner Informanten und was war ein geheimerer Treffpunkt, als ein Friedhof?
Paul bog nach links ab. Die große Engelsstatue konnte er bereits im Licht der Taschenlampe sehen. Der Treffpunkt musste also hier ganz in der Nähe sein.
Er wurde langsamer, zählte in Gedanken die Gräber durch, während der den schmalen Kiesweg entlangschritt. Als er bei Nummer vierzehn angekommen war, hielt er an.
Er sah sich um, leuchtete die Umgebung aus, konnte aber niemanden erkennen. Paul atmete durch die Nase aus und zog sein Handy heraus, um auf die Uhr zu sehen. 21:05 Uhr. Er war pünktlich auf die Minute am genannten Treffpunkt.
„Kann man nichts machen“, murmelte er leise und ließ sein Handy wieder in der Tasche verschwinden. Seine Augen scannten die Umgebung abermals. Er drehte sich um die eigene Achse und dann sah er im Schein der Taschenlampe etwas, das er zunächst für ein Trugbild seines Verstandes hielt, für etwas, das es in Wirklichkeit nicht geben konnte.
Paul Renner
Geboren am 10. November 1984. Gestorben 18. Oktober 2016
Zutiefst geliebt.
Paul starrte den Grabstein vor sich an. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Das konnte nicht sein! Adrenalin pumpte durch seinen Kreislauf. Er versuchte, ruhig zu bleiben und nachzudenken – doch versagte.
Übelkeit übermannte ihn. Sein Herzschlag beschleunigte sich und er spürte, wie sich in ihm Panik ausbreitete. Die Gedanken zogen in seinem Gehirn Kreise. Warum hatte jemand seinen Namen auf den Grabstein geschrieben? Wer wollte seinen Tod? Oder war es nur ein schlechter Scherz? Nein, das konnte er nicht glauben. Da gab es weitaus leichtere Methoden.
Pauls Handy klingelte. Einer Explosion gleich durchbrach das Geräusch die Stille. Wie in Trance zog er das Gerät aus der Jackentasche und schaltete das Display an.
Siehst du mich, Renner?, war die letzte Nachricht, die er erhalten hatte.
Hektisch wirbelte der blonde Mann herum, scannte einmal mehr die Dunkelheit. Ein Mann trat aus den Schutz einer wuchtigen Zeder hervor. Umso näher er kam, desto mehr konnte Paul seine Gesichtszüge erkennen und das, was er erkannte, sorgte dafür, dass seine Angst noch einmal anstieg.
Vor ihm stand Maik Winter. Ein skrupelloser Serienmörder, den er noch in seiner Zeit in Aachen zur Strecke gebracht hatte.
„Was hast du geglaubt?“ Winter derbes Gesicht verriet Schadenfreude und hämischen Triumph. „Das ich dich vergessen habe?“
„Was hast du vor Winter?“
„Ich?“ Pauls Gegenüber lachte laut. „Glaubst du, dass ich dein Grab nur so zum Spaß herrichten lasse?“
Winters rechte Hand glitt in dessen Manteltasche und kurz darauf zog er eine Pistole hervor.
Paul verfluchte sich. Wieso zur Hölle hatte er seine Waffe nicht dabei? Er war Winter ausgeliefert, würde hier und jetzt sterben. Sein Herz pumpte schneller, Schweiß brach aus allen Poren.
Unauffällig sah er sich um, denn seine einzige Chance lag nun in der Flucht.
Aber er war nicht unauffällig genug. Winter spannte den Hahn seiner Waffe, während ein Lächeln seine Lippen umspielte. „Du willst rennen? Ich gebe dir einen kleinen Vorsprung. Vielleicht hast du ja Glück und kannst entkommen?“