Anita musterte ihren Patienten aufmerksam. Ihr Blick glitt zur Sättigungsanzeige auf dem Monitor, sie nahm seine leicht blauen Lippen wahr und nachdem sie noch rasch ein Kontrollgas aus dem arteriellen Zugang entnommen hatte, lief sie wieder hinaus, um den Oberarzt zu informieren. Das hier war kein Problem, das ein junger Assistenzarzt beherrschen konnte. Hier würde eine geballte Ladung Fachkenntnis vonnöten sein und gerade der Erfolg der ECMO-Behandlung stieg und fiel mit der Erfahrung der Personen, die damit umgingen. Schnell war die zweite Blutprobe am BGA-Gerät kontrolliert und mit den beiden Ausdrucken trat Anita ins Arztzimmer, wo der Oberarzt sich gerade wieder seufzend seinem Papierkram gewidmet hatte. „Herr Jäger gefällt mir nicht-und die Gase sprechen ihre eigene Sprache!“, sagte sie deshalb schlicht und reichte dem Arzt die Ausdrucke, die der aufmerksam musterte. „Da haben sie völlig Recht, Schwester Anita, ich komme sofort-würden sie bitte den Kardiotechniker dazu holen?“, bat er seine langjährige Mitarbeiterin, die er mochte und schätzte. Wenn die einen Patienten betreute, konnte er sich sozusagen entspannt zurück lehnen, denn wenn eine kritische Situation eintrat, reagierte die aus der Routine heraus sofort und vor allem konnte er zu hundert Prozent sicher sein, dass er informiert wurde. Das war oft eher das Problem seiner jüngeren Arztkollegen-die litten manchmal an Selbstüberschätzung und brachten dadurch Patienten unnötig in Gefahr.
Er erhob sich also geschmeidig und ging raschen Schrittes in das Zimmer, das er kurz vorher erst verlassen hatte. Dort stand immer noch sein junger Kollege und musterte ein wenig hilflos den Monitor. Er hatte bereits den Sauerstoff höher gedreht, aber trotzdem fiel Ben´s Sättigung kontinuierlich und inzwischen wurde sein Kurzatmigkeit immer deutlicher.
„Würden sie bitte am PC einen eiligen Thorax eingeben und dann wieder zurück kommen-hier können sie nämlich etwas lernen!“, koordinierte der Oberarzt die Aufgaben und fast im selben Moment standen schon der Kardiotechniker und die ältere Schwester wieder im Raum. Ohne zu diskutieren ging der Assistenzarzt kurz hinaus-hier lag eine Situation vor, die er absolut nicht einschätzen konnte und die Überlegenheit des Oberarztes stand für ihn völlig außer Frage-er hatte nur ein Problem mit dem Pflegepersonal, das er irgendwie nur als unwichtige Hilfskräfte sah und sich innerlich dagegen wehrte, von denen etwas gesagt zu bekommen.
Semir war inzwischen voller Besorgnis näher zu seinem Freund getreten und hatte ihn angstvoll gemustert. Es stand außer Frage, dass sich dessen Zustand minütlich verschlechterte, so wie er nach Luft rang und seine Lippen blauer und blauer wurden. „Was hat er?“, hatte er den Assistenzarzt gefragt, aber außer den Sauerstoff, der durch die Brille floss, ein wenig höher zu drehen, war dem auch nichts eingefallen. Erst als ihn der Oberarzt nach draußen schickte, um das Röntgen einzugeben, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Verdammt-vermutlich hatte er seinem Patienten bei seinem Rumgebohre einen Pneu gestochen, eine Komplikation, die beim ZVK-Legen jederzeit passieren konnte, gerade bei der Vena Subclavia als Punktionsort und jetzt verfluchte er sich, dass er nicht von selber drauf gekommen war. Nach wenigen Clicks war der Notfallthorax eingegeben und sofort machte sich eine junge Röntgenassistentin mit einer Platte auf den Weg zur kardiologischen Intensiv. Das fahrbare Röntgengerät stand dort bereit, nur bedient werden musste es von Fachpersonal.
Der Assistenzarzt ging wieder zurück ins Zimmer und dort war der Oberarzt gerade an Ben´s Bett getreten, hatte das Hemd hoch geschoben und war dabei, konzentriert dessen Thorax abzuhören. „Leicht abgeschwächtes Atemgeräusch rechts!“, sagte er dann und sah seinen Kollegen an. „Würden sie bitte ebenfalls auf den Brustkorb horchen?“, fragte er freundlich und sein erfahrener Blick hatte schon den höher gestellten Sauerstoff registriert. Gut-wenigstens hatte der auszubildende Arzt schon etwas unternommen und auch gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Der Assistenzarzt bemühte sich, ebenfalls etwas zu hören und tatsächlich, rechts war das Geräusch der aus- und einströmenden Atemluft leiser. „Was ist ihre Verdachtsdiagnose?“, wurde der junge Doktor nun examiniert, während Ben´s Blick ängstlich von einem zum anderen wanderte. „Pneumothorax rechts?“, erwiderte der mit fragendem Unterton und ein Nicken des Oberarztes bestätigte seine Vermutung. Dann aber wandte er seine Aufmerksamkeit wieder auf ihren Patienten zurück und zur Verwunderung des jungen Doktors hatte er zudem die beiden Blutgasausdrucke wortlos an den Kardiotechniker weiter gereicht, der sie aufmerksam studierte.
„Herr Jäger-wir sehen, dass sie schlecht Luft bekommen und sind Gott sei Dank durch die ECMO in der Lage, ihnen da sofort Erleichterung zu verschaffen. Im Anschluss werden wir sie röntgen, um unsere Verdachtsdiagnose zu bestätigen und dann besprechen wir das weitere Vorgehen!“, informierte er Ben völlig ruhig und mit einem Lächeln und wandte sich nun dem Techniker zu. „Ich würde sagen, wir erhöhen die Durchflussrate und die Sauerstoffkonzentration!“, sagte der und warf einige Zahlen und Fachausdrücke in den Raum, die für Semir und Ben völlig unverständlich waren und der Oberarzt nickte. Beobachtet vom Assistenzarzt und dem Oberarzt flogen nun die Finger des Kardiotechnikers übers Bedienfeld und nur Sekunden später bemerkte Ben wie seine Luftnot nachließ und sein Freund konnte als erstes Zeichen sehen, dass seine Lippen nicht mehr blau waren.
Dann stand auch schon die Röntgenassistentin mit ihrer Platte im Raum, man hob den Oberkörper des jungen Polizisten gemeinsam leicht an, schob die harte und kalte Platte unter ihn, stellte das Bett komplett flach und dann wurden alle Anwesenden aufgefordert, das Zimmer zu verlassen. Nachdem sie aufgrund ihrer Erfahrung, Ben´s Körperbau und natürlich erlernten Parametern den Abstand des Röntgengeräts und die Belichtungszeit eingestellt hatte, verließ auch die Radiologieassistentin den Raum, den Auslöser an einem langen Spiralkabel in der Hand und bevor sie sich um die Ecke hinter die Stahlbetonwände vor den Röntgenstrahlen in Sicherheit brachte, rief sie Ben noch zu: „Ausatmen, einatmen, die Luft anhalten-nicht mehr atmen“, und kaum hatte sie auf den Auslöser gedrückt, befahl sie „Weiteratmen!“, und schnell war die Aufnahme geschossen. Gemeinsam hob man den Kranken leicht an, zog die Platte heraus, Schwester Anita sortierte ihre Kabel und man legte Ben wieder bequem auf den Rücken. Dem fielen nun fast die Augen zu, er hatte keine Atemnot mehr und wollte eigentlich nur noch schlafen. Semir hatte neben ihm Platz genommen und egal was die Ärzte nun besprachen-wichtig war, dass es seinem Freund besser ging und das war unübersehbar.
Die Radiologieassistentin war rasch in die Röntgenabteilung zurück gekehrt, wo die Platte sofort entwickelt und digital eingelesen wurde und Minuten später standen der Oberarzt und sein Assistent vor einem großen Monitor im Intensivflur, der eine hervorragende Auflösung hatte und betrachteten gemeinsam das Röntgenbild. „Und-was sagen sie, Herr Kollege?“, fragte der Oberarzt und der Assistent wies mit dem Finger auf den schwarzen Schatten, der sich oben in Ben´s Brustkorb abzeichnete. „Ich hab ihm einen Mantelpneu gestochen!“, gab er dann zu und der Oberarzt nickte. „Richtig erkannt! Und ich muss noch dazu sagen-das kann immer mal passieren, wenn man einen ZVK legt. Natürlich hat das auch ein wenig mit Übung zu tun, aber auch mir passiert das immer noch gelegentlich. Allerdings ist man dumm, wenn man sich von der heutigen Technik nicht helfen lässt-merken sie sich: Wenn sie ein Sonogerät zur Verfügung haben, dann benutzen sie es auch. Und was würden sie jetzt als Therapie vorschlagen?“, examinierte er dann weiter. Der Assistenzarzt überlegte kurz und sah dann wie sein Vorgesetzter auf das neueste arterielle Blutgas, das Anita inzwischen abgenommen hatte und den Ausdruck jetzt im Vorbeigehen den beiden Ärzten präsentierte. „Der Gasaustausch ist wieder hervorragend-das sind völlig normale Werte!“, sagte er dann verwundert. „Normalerweise bräuchte der Patient jetzt eine Thoraxdrainage, aber vielleicht kann man doch zuwarten, bis er sich von alleine erholt?“, gab er seiner Überraschung Ausdruck und legte seine Gedankengänge dar. „Das mit der Drainage war der richtige Vorschlag!“, sagte nun der Oberarzt. „Allerdings sind wir bei Herrn Jäger ja aktuell in der glücklichen Lage, dass wir nicht nur die Pumpleistung des Herzens mit der ECMO unterstützen können, sondern eben auch den Gasaustausch. Ein Teil lief die ganze Zeit über die Maschine, das dürfen sie nicht vergessen. Unsere Aufgabe-und die des Kardiotechnikers, ist die Funktion dieser Maschine so an den Zustand des Patienten anzupassen, dass er davon profitiert, aber auch seine eigenen Ressourcen ausschöpft. Gerade das Training der Atemmuskulatur und die Lungenausdehnung sind wichtig, denn Herz und Lunge hängen in ihrer Funktion sehr eng zusammen. Deshalb versuchen wir immer möglichst physiologische Zustände herzustellen und dazu gehört keine zusammen gefallene Lungenhälfte. Wir werden ihm also jetzt gemeinsam eine Thoraxdrainage legen!“, bezog er seinen Auszubildenden mit ein und wortlos nickte der Assistenzarzt.
Schwester Anita war in kurzem Abstand stehen geblieben, nachdem sie das Blutgas abgegeben hatte. Mit geübtem Blick hatte sie das Röntgenbild auf dem Bildschirm gemustert, sofort den Pneu entdeckt dann den Eingriffswagen und ein spezielles Thoraxsaugungssystem herbei geholt und als der Oberarzt und sein Assistent ins Zimmer traten, um Ben über den bevorstehenden Eingriff aufzuklären, waren die Vorbereitungen schon fast abgeschlossen.