Keller - 13:00 Uhr
Jenny hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, solange wie sie nun schon hier war. Die Luft war kühl und feucht, es roch modrig und hin und wieder hatte der Kerl ihr auch mal die Augenbinde abgenommen, so dass sie Tag und Nacht unterscheiden konnte. Jetzt aber hatte er ihr ein weißes stinkendes Tuch vor die Augen gebunden. Sie spürte das verkrustete Blut an ihrer Wange, das von einem Cut über der Augenbraue nach unten gelaufen war an dem Tag, als sie entführt wurde und in dieses Verlies gesperrt wurde. Die Worte des Entführers, sein Gesicht und seine Beweggründe, die Namen, die er genannt hatte... alles spuckte in ihrem Kopf, verwirrte sie, machte sie traurig und hellhörig zugleich. Doch sie konnte sie noch keinen Reim darauf machen.
Ihre Beine und ihr Rücken schmerzte, den der Stuhl auf dem sie gefesselt war, war nicht sehr bequem. Die Arme hinter der Lehne auf dem Rücken fixiert, die Beine fest mit Klebeband an den Stuhlbeinen befestigt. Hin und wieder durfte sie sich in dem Raum frei bewegen, durfte sich auf eine schmutzige Matratze legen, durfte herum laufen und die Beine ausschütteln. Aber irgendwo, irgendwie blieb sie immer fixiert. Wenn der Mann ihr die Beine löste, blieben ihre Hände mit Klebeband auf dem Rücken verbunden. Andersherum genauso. Es gab nichts in diesem Loch, was ihr hätte helfen können, das Klebeband zu öffnen und den Täter zu überwältigen. Einen Versuch hätte sie beinahe bitter bezahlt...
Sie hörte die Schritte, die über die Steintreppe klackerten immer bevor der Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt wurde, um die verriegelte Tür zu öffnen. Diesmal aber waren es mehr als eine Person, das konnte sie hören. Unbehagen machte sich in ihr breit. Hin und wieder war er zu zweit gekommen, aber die zweite Person hatte nie ein Wort gesagt, und auch immer dann hatte Jenny die Augen verbunden. Dann geriet die junge Polizistin in Panik, dass die Kerle sie berühren, anfassen und verletzen könnten. Eine Vergewaltigung, die erst ein knappes Jahr zurücklag, kam ihr auf einmal wieder zurück in ihre Gedanken, ein schlimmes Erlebnis, das sie eigentlich komplett verdrängt hatte... mit Hilfe von unerschütterlicher Liebe zu einem besonderen Polizisten, und dessen Fürsorge... aber auch mit Ablenkung aufgrund dessen eigener Probleme.
Doch diese Welt war zerstört worden, innerhalb weniger Wochen. Der Mann, den sie liebte, war tot... abgestürzt von einer Brücke im kolumbianischen Urwald, ertrunken, verschollen... nur Gott und der Teufel würden wissen, was wirklich geschehen ist. Ihr gemeinsames Kind war tot... Jenny hatte es in einer Stresssituation am Flughafen verloren. Sie hatte ihre Freunde, ihr gewohntes Umfeld verlassen und war zur Abteilung für Eigentumsdelikte nach Hamburg in ihre Heimatstadt gegangen... eher geflüchtet.
Ihr Leben neu ordnen, am liebsten ohne Erinnerung an die schlimme Zeit. In ihrer neuen Wohnung erinnerte nur ein Foto von Kevin an ihn, der Karton in ihrem Schrank und der dunkelblaue Koffer, in dem seine Klamotten waren. Sie konnte die Hoffnung, die nur noch minimal in ihr glühte einfach nicht löschen. Die Kollegen waren nett, die Arbeit war unterhaltsam, wenn auch lange nicht so aufregend wie bei der Autobahnpolizei... doch die Aufregung und der Nervenkitzel fehlte ihr nicht. Zusammen mit Gregor und dem jungen Kommissar Timo, mit dem sie sich angefreundet hatte, nahm sie Einbrüche auf und hatte vor kurzem den ersten Erfolg zu verzeichnen, als man einen Einbrecherring aus dem Ausland dingfest machen konnte. Ohne große Verfolgungsjagd, mit viel Ermittlungsarbeit in den zwei Monaten, in denen sie jetzt in der Hansestadt war.
Doch wieder war alles mit einem Schlag anders, als sie vor der eigenen Wohnung am Abend entführt wurde und in diesem Kellerverlies aufwachte, und seitdem beinahe eine Tortur mit dem Entführer auf sich nehmen musste. Wie sehr wünschte sie sich zurück nach Köln, wo sie sich in so einer Situation auf ihre Freunde hätte verlassen können. Semir und Ben, Hotte und Dieter, Andrea und die Chefin... sie hätten jeden Stein auf links gedreht, bis sie die junge Kollegin gefunden hätten. Ob Timo und Gregor, ihr neuer Chef Kauptzke überhaupt Nachforschungen anstellen würden? Vielleicht nach einigen Tagen, und dann auch nur auf dem Dienstweg der Vermisstenmeldung.
Knarrend öffnete sich die Tür, und die Schritte kamen näher. Sie näherten sich von hinten, was die Sache für die blinde Jenny noch unangenehmer machte. "Hallo, mein Liebes. Heute ist der große Tag, den ich dir schon so lange verspreche.", konnte sie die Stimme ihres Entführers hören, die sie kannte, die sie so sehr verfluchte. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie für einen Moment den schweren kalten Lauf einer Waffe an ihrem Nacken spürte, der über ihren Hinterkopf strich bis zu ihrer Stirn. "Und ich hab eine ganz besondere Überraschung für dich."
Jennys Lippen zitterten, sie hatte Angst... große Angst. Angst vor ihrem Peiniger, Angst davor zu sterben. So schwer die letzte Zeit auch war, sie war ein grundsätzlich so lebensfroher Mensch, dass sie zwar hin und wieder verzweifelte, aber nie den puren Lebensmut verlor. Sie war sich innerlich sicher, dass noch etwas Großes auf sie wartete... aber jetzt war sie dem Tod so nahe, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie konnte spüren, dass die Mündung der Waffe nun ganz leicht an ihre Stirn gehalten wurde. Durch ihr Zittern spürte sie immer eine leichte Berührung... oder zitterte die Hand des Mannes, der die Waffe hielt auch? Würde er sie jetzt einfach erschiessen? Was für einen Sinn hatte dann die Entführung?
Als sie spürte, dass sich der Knoten des Augentuches an ihrem Hinterkopf lockerte, und die Binde über ihre Brust in ihren Schoß fiel, wusste sie die Antwort. Ihre Augen mussten sich nur einen Augenblick an das einfallende Licht durch die Gitterstäbe gewöhnen, doch dieser Augenblick, dieser Moment vor ihren Augen brannte sich in ihr Gedächtnis. Sie sah zuerst das Oberteil des Mannes, der vor ihr stand, dessen Jacke und ihr Herz begann sich zu überschlagen und ihr wurde übel. Je höher sie blickte, die Kette an seinem Hals, der Ohrring an seinem linken Ohr... die erleichterte Freude, die eigentlich in ihr aufkommen sollte, wurde von der blanken Panik verdrängt, als sie sah, dass er und nicht ihr Entführer die Waffe auf sie richtete. Seine Haare waren länger als vorher und er trug sie immer noch wild durcheinander, jedoch anders als damals... doch es war der Blick, auf dessen nun tränengefüllte Augen Jennys blickten. Der Blick, kalt wie ein Eisblock, hellblau wie Eiskristalle. Aus ihm sprach keine Regung, keine Emotion und sein Finger legte sich um den Abzug. Jennys Mund formte sich zu einer Frage, doch es wollte kein Ton entweichen, nur wie in Zeitlupe schüttelte sie ungläubig den Kopf. Das entsetzte "Nein... bitte nicht..." kam tonlos und geflüstert über ihre Lippen.