Hamburg - 9:10 Uhr
Man konnte meinen, Ben und Semir seien Verkehrsrowdys. Sie hielten sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung, überholten gefahrlos, soweit es ging, mitten in der Innenstadt und legten die Grünphasen der Ampel sehr großzügig aus. Allerdings hatten sie kein Blaulicht an, um nicht sofort den Männern aufzufallen, falls sie noch auf der Straße waren. Beide Polizisten waren nervös, denn die Nachricht, dass Timo angeblich den totgeglaubten Kevin gesehen hatte, löste in beiden eine Flut von Bildern und Gefühlen aus. Die Trauer kam zurück, die Hoffnung, die schon längst gestorben war. Aber auch Unbehagen, warum sich ihr Partner scheinbar mit einem Fremden in Hamburg sehen lässt, nachdem von dort gerade Jenny verschwunden war. Denn wenn er mit Hilfe eines Fremden auf der Suche nach ihr war, warum hatte er sich nicht bei Semir und Ben gemeldet?
Genau dieser Umstand war es, der die beiden Männer zweifeln ließ, ob sich Timo nicht vielleicht doch geirrt hatte. Wie lange hatte er das Bild in Jennys Wohnung gesehen? Ein paar Minuten, vielleicht Sekunden? Und ausserdem war es schon über einen Tag her, er hatte dazwischen geschlafen, eine Verfolgungsjagd erlebt und vermutlich den Anschiss seines Lebens kassiert. Da konnte man auch mal auf Ideen kommen, dass ein Mann mit blauen Augen und einer etwas zerschossenen Frisur so aussieht, wie der Freund der Kollegin auf dem Foto.
Semir schien sich mit dieser Erklärung beruhigen zu wollen, in dem er mehrmals sagte: "Das kann nicht sein. Timo hat sich geirrt." Ben wollte das nicht wahrhaben, zu groß die Hoffnung dass sein Freund noch lebte und Juan sich geirrt hatte. "Timo? Wo seid ihr jetzt?", fragte Semir, als er nach mehreren Versuchen eine Handyverbindung herstellen konnte. "Sie sind gerade in ein Gebäude gegangen. Das ist die alte Schlachterei am Schanzenviertel. Dort ist ein Fleischgroßmarkt, und hinten dran der alte Schlachthof." Er nannte noch eine Adresse, die Ben schnell in sein Navi eintippte. "Glaubst du, sie haben dich bemerkt?" "Nein, ich denke nicht. Ich gehe auch rein." "Nichts da!!!", sagte Semir sofort und energisch. "Du wartest, bis wir da sind. Wir sind in 5 Minuten da!" "Aber...", wollte Timo sich rechtfertigen, doch Semir kam ihm, in Vorgesetzten-Manier zuvor: "Du wartest!"
Der erfahrene Polizist machte sich Sorgen um den Jungen. Er war noch unerfahren und vor allem scheinbar in solchen Einsätzen noch nicht oft gewesen, wie er gestern abend festgestellt hatte. Er konnte ihn nicht einfach alleine da rein gehen lassen, weil die beiden überhaupt nicht einschätzen konnten, was die Männer vor hatten, und wer es überhaupt war. Auch wenn es keinen Hinweis darauf gab, dass etwas gefährlich sein könnte... Semir hatte ein Gefühl. Und sein Gefühl ließ ihn selten im Stich.
Eigentlich waren es die beiden Polizisten der Autobahnpolizei gewöhnt, solche Order, wie Semir sie gerade ausgegeben hatte, in den Wind zu schlagen, wenn sie sie bekamen. Timo war nicht aus dem Holz geschnitzt, und erleichtert sah der kleine Türke dass der blonde Junge ungeduldig an einer Art Scheuneneingang des roten Backsteingebäudes wartete. Mit quietschenden Reifen hielt Ben den Mercedes am Bordstein an und beide Männer sprangen aus dem Fahrzeug. "Da sind sie rein?", fragte Ben ohne Begrüßung und Timo nickte schnell. "Na dann mal los."
Die Waffen zogen sie noch nicht... aber langsam und beinahe lautlos bewegten sie sich durch die Gänge der ehemaligen Schlachterei. Vorne im Geschäftsgebäude brummte es, aber nach hinten des alten Gebäudes lag Stille in der ehemaligen Rinderschlachterei. Einige alte Gerätschaften, verrostete Haken, an denen früher Fleischteile aufgehängt wurden, hingen noch an Stangen oder lange verstreut auf dem Boden herum. Wie bei allen verlassenen Gebäuden gab es hier vereinzelte Fälle von Vandalismus und Graffitis. "Könnte man Jenny hier versteckt halten?", fragte Timo flüsternd. "Ich weiß nicht... hier sind so viele Leute vorne in dem Gebäudeteil. Wenn es hier vielleicht einen Keller gibt, dann... vielleicht.", antwortete Ben ebenso leise, der in der Mitte der drei Männer ging.
"Sollen wir uns aufteilen?", fragte er nach vorne zu seinem Partner. "Nein. Das ist mir zu gefährlich. Wir wissen gar nicht was hier los ist... wir bleiben zusammen." Sie lugten in jede Ecke, durchquerten fast den kompletten Schlachthof. Eine weiße Tür öffnete sich zu ihrer linken, mit einem großen Hebel am Inneren und Äusseren der Tür. Ein leises, gleichmäßiges Geräusch ging von diesem fensterlosen und pechschwarzen Raum aus. Die ganze Schlachterei war nicht besonders gut vom Sonnenlicht beleuchtet und eher schummrig, aber hier kam ihnen die Öffnung wie ein gähnender Schlund vor. "Was ist das?", fragte Timo. "Sieht wie eine Voratskammer aus...", flüsterte Ben zurück, während Semir einen Schritt hinein machte, das Handy mit leuchtender LED in der Hand.
Auf einmal spürten sie einen Ruck... der Ruck kam von hinten und äusserte sich in einem festen Tritt gegen Timos Rücken, der somit auf Ben und Semir stolperte und alle drei auf den kalten Fliesenboden schlagen ließ. Er kam so unvermittelt und plötzlich, dass keiner der Männer schnellen Halt fand oder kontrolliert fallen konnte. Und noch bevor sich die drei berappelt hatten, umgedreht oder aufgestanden waren, fiel die schwere Tür knallend ins Schloß.
"Hey! Aufmachen!!", rief Semir noch, der als erstes auf den Beinen war und zur Tür rannte, was nur zwei Schritte waren, doch von aussen hörte man bereits das Geräusch eines schließenden Riegels. Die Kammer konnte scheinbar nur von aussen versperrt werden, und der Polizist zog und zerrte an dem Hebel. "Mach Licht!! Mach LICHT!!!", hörte er die fast panische Stimme seines Partners, denn mit einem Mal war es in dem Raum stockdunkel und Ben konnte nicht mehr erkennen, wie groß oder geräumig dieser Raum war. Es schien, als würde jemand ihm die Luft abdrücken und seine Phobie, seine Platzangst setzte voll ein. Schnell suchte Semir die Wand neben der Tür mit der LED ab und konnte tatsächlich einen Lichtschalter sehen, den er schnell drückte.
Klirrend sprangen ein paar grelle Neonröhren an der Decke an, und nun war es Semir, dem es unbehaglich wurde. Diese Kammer hatte Ähnlichkeit mit der umgebauten Gaskammer in der Germania, in die er vor Monaten von Neo-Nazis gesperrt wurde. Diesmal allerdings handelte es sich um einen Kühlraum, der leer war. Weiß gekachelt, mit einigen alten Haken und einem großen Generator an der Decke, der just in diesem Moment ansprang. Die drei Polizisten wussten, was das bedeutete... die Temperatur würde hier drin sehr schnell sinken...