Hamburg - 11:00 Uhr
Kevins Erinnerungen an die Vorkommnisse in der Nacht waren in einen tiefen Schleier getaucht. Wie ein Traum, an den man sich nicht mehr genau erinnern konnte. Nur sein Kopf brummte und ihm war übel, eine typische Nachwirkung eines Drogentrips. "Na, gut geschlafen?", begrüßte ihn Patrick am Morgen und hatte beschlossen, erstmal nichts von der nächtlichen Rangelei zu sagen. "Ging so... ne Menge komisches Zeug geträumt, und an nichts kann ich mich wirklich erinnern.", murmelte der junge Polizist, als er aus dem Bad heraus kam, die Haare noch feucht und in alle Richtungen stehend.
Bilder wanderten durch seinen Kopf. Doch seine Schwester und das Gesicht der Frau, die ihn erstochen hatte, waren die einzigen Dinge, was völlig klar und präsent war. Kevin wusste, dass er die Frau kannte. Aber in seiner Namensschublade ließ sich nichts zuordnen, und auch konnte er nicht sagen, in welchem Verhältnis er zu der Frau stand. War sie ihm feindlich gesinnt? Hatte sein Unterbewusstsein ihm das durch den Traum vermitteln wollen? Immerhin hatte seine Schwester ihn zärtlich gestreichelt, ihn geküsst... während die Frau, als sie erschienen war, ihn kaltblütig ermordet hat. Der junge Polizist verzweifelte langsam daran, zu solchen Gedanken keine eindeutige Aussage zu treffen... und niemand würde ihm helfen können.
"Heute bekommst du die erste Gelegenheit zur Rache.", sagte Patrick dann und sein Freund blickte auf. "Rache?" Er konnte ein spitzbübisches Grinsen beobachten und ein überzeugtes Nicken. "Ich hab die zwei Typen bestellt. Mit einem hübschen Druckmittel." Kevins Herzschlag beschleunigte sich etwas und er sah sein Gegenüber mit festem Blick an. "Welches Druckmittel?" "Das wirst du noch früh genug erfahren. Wichtig ist, dass die zwei kommen werden... und wir werden sie überraschen. Und sie werden für Janines Tod bezahlen."
Als er Janines Namen nannte, spürte Kevin die Wut in sich, die er direkt nach ihrem Tod mit sich getragen hatte. An einen kleinen Zeitraum nach ihrem Tod konnte er sich noch erinnern, bevor das Bilderbuch in seinem Kopf immer undeutlicher wurde, bis ganze Seiten rausgerissen und kleingeschnitten waren. Ohja, er hatte sich Rache geschworen... er hatte darüber nachgedacht, dem Mörder und den anderen beiden Vergewaltigern seiner Schwester gegenüber zu stehen, ihnen die Kehle zu zu drücken oder eine Waffe in den Mund zu drücken. Er dachte damit, er würde den Dämon und die Alpträume besiegen. In dieser Wut verlor er sich in Selbstzerstörung mit Drogen und Alkohol, doch auch wenn diese Wut, dieses Gefühl jetzt wieder aufflammte... es fühlte sich anders an als früher. Die Aussicht auf diese Rache ließ Kevin seine Frage nach dem Druckmittel schnell vergessen.
Parkhaus - 12:00 Uhr
Ben spürte seinen Herzschlag, als er den BMW auf der vierten Ebene parkte und locker am Kotflügel lehnte. Er hasste Warten generell, aber in so einer Situation fiel es ihm doppelt schwer. Immer wieder sah er auf die Uhr, immer wieder blickte er sich um. Keine Schritte waren zu hören, kein Auto kam. Obwohl das Parkhaus zentral gelegen war, war sehr wenig Betrieb und das oberste, nämlich das 4. Parkdeck war fast leer. Semir, der im schräg und nur ein wenig nach unten versetzte, dritten Parkdeck sich versteckt und einen guten Blick auf Ben hatte, war nicht weniger nervös. Er jedoch konzentrierte sich vor allem darauf, seinen Partner nicht aus den Augen zu lassen, während er seine Umgebung nicht ausreichend beobachtete.
Die Nervosität des jungen Polizisten nährte sich aber vor allem aus der Unsicherheit bezüglich seines Freundes Kevin. Lebte er wirklich noch? Würde er jetzt hier auftauchen? Hatte er tatsächlich etwas mit Jennys Entführung zu tun? Ben hatte keine Ahnung, was ihn hier erwarten würde... als er plötzlich zusammenfuhr. Ein lautes Knallen, Schüsse waren vom Parkdeck nebenan zu hören. "Semir!!", rief er laut und begann sofort zu rennen. Zu Fuß wäre er schneller auf dem anderen Parkdeck, als noch vorher ins Auto zu steigen. Mit der Waffe in der Hand rannte Ben um die Ecke, und verspürte von einem Karatetritt, der aus sicherer Deckung kam, plötzlich einen stechenden Schmerz in der Nierengegend, die ihn taumeln und hinfallen ließ. Die Waffe fiel klappernd zu Boden.
"Fuck...", stöhnte Ben und wollte sich gerade wieder aufrichten, doch sein Angreifer, der ihn in dem Moment nur von schräg hinten sah, war schneller. Ein gezielter Tritt in die Seite ließ Ben wieder zurückfallen und hustend drehte er sich auf den Rücken. Sein Herz setzte aus, als er schmerzerfüllt die Augen öffnete... und es war nicht die Mündung der Waffe, in die er sah, die ihn schockierte... sondern der Mann, der die Waffe hielt. "Kevin...", flüsterte der Polizist tonlos. Er lebte... er war tatsächlich da. Aus Fleisch und Blut stand sein Freund, mit dem er mehrere Fälle gelöst hatte, der ihm das Leben gerettet hatte, ihm gegenüber und bedrohte ihn. "Jetzt bezahlst du!", konnte er die unverkennbare monoton klingende Stimme hören... doch er hörte auch ganz klar eine Unsicherheit.
Kevin wusste, dass er das Gesicht kannte, als er Ben nicht nur auf einem Bild sondern in der Realität sah. Er beobachtete ihn auf dem Parkdeck, und als die Schüsse, die Patrick auf Semir abfeuerte, um Ben zu einem hektischen Handeln zu zwingen, fielen reagierte der Polizist so wie vermutet. Es waren die Erzählungen von Patrick, denen Kevin vertraute und die Ben in Kevins Kopf wirklich in die Schublade von Janines Mörder schob. Sein Kopf funktionierte nicht, die Zuordnungen waren verschoben und als Ben vor ihm lag, hatte der Hass, der jahrelang in Kevin drin saß, die Kontrolle übernommen. Er zielte dem Polizisten auf den Kopf und legte den Finger um den Abzug.
Doch Ben wehrte sich. Eigentlich hatte er vorgehabt, Kevin anzusprechen... egal, was passiert war, aber irgendwie musste er ihn von seinem Vorhaben abbringen. Wollte ihn ansprechen nach seinen Beweggründen. Doch er konnte nicht, er war so perplex und überfordert von der Situation. Und als sein Freund auch noch die Waffe auf ihn richtete, setzte der Selbstschutzreflex ein. Mit einem Fußtritt unter die Hand entwaffnete Ben Kevin, und die Knarre flog in ungefähr die gleiche Richtung, wie Kevins Waffe. Der wollte sich dann auf seinen Kontrahenten stürzen, was dieser wiederrum mit dem Knie abwehrte und beide Männer rollten für einen Moment gegenseitig über den Boden, bis beide sich nochmal erhoben und sich gegenüber standen.
"Kevin, hör auf mit der Scheisse! Erkennst du mich nicht?", schrie Ben beinahe verzweifelt. Er kannte diesen Mann nicht, der ihm gegenüber stand... Kevins Augen strahlten puren Hass aus, so hatte er seinen Freund nur einmal gesehen... als er Peter Becker gegenüber stand, dem Mörder seiner Schwester und die Waffe auf ihn richtete. In Kevins Kopf drehte sich alles... spielte der Typ auf frühe Zeiten an? Als sie gemeinsam Musik machten, was Patrick ihm erzählte und woran er sich noch erinnern konnte?
Die Vernunft war in Kevins Kopf ausgeschaltet, und er griff sein Gegenüber an. Einem Faustschlag konnte Ben ausweichen, dem Knie gegen die Rippen nicht, doch der Polizist hielt einiges aus... dafür hatte er zuviele Schlägereien mit Verbrechern erlebt. Er konterte seinerseits mit Schlag in Kevins Magen, und stieß ihn von sich weg. Der Polizist merkte, dass es ihm im Kopf wesentlich schwerer fiel, zuzuschlagen, als Kevin. Ihm schien diese moralische Komponente, gerade einen Freund zu schlagen, völlig abhanden zu sein. Spätestens jetzt spürte Ben, dass Kevin ihn nicht erkannte... oder schlicht nicht als der Typ, der er war. "Hör auf damit! Das bist nicht du! Du bist..." Polizist wollte er sagen, und damit einen vielleicht entscheidenden Hinweis für Kevin geben, doch der schnitt ihm mit einem schnellen Tritt auf den Oberkörper die Luft ab.
Ben fiel durch den brutalen Tritt nach hinten zu Boden, wo er auch noch mit dem Kopf aufschlug, was ihn für kurze Zeit benommen machte. Kevins Herz pumpte rasend schnell, wie gestern abend während seines Traums, als er Ben das Knie auf die Brust setzte und den Polizisten am Hals griff und zudrückte. "Du hast meine Schwester getötet, du Bastard!!", zischte er, während Ben begann zu würgen, als er spürte dass er keine Luft mehr bekam. Sein Körper begann zu beben, er krallte seine Fingernägel in Kevins Unterarm, um den Griff zu lösen, doch sein Freund entwickelte in der Wut eine unbändige Kraft.
Das konnte nicht sein... es konnte einfach nicht sein. Das waren die letzten Gedanken, die Ben durch den Kopf gingen, bevor um ihn herum alles schwarz wurde. Was war nur mit Kevin geschehen... was war nur passiert? Sein Zappeln wurde langsamer als der Polizist die Augen verdrehte und sein Körper erschlaffte. Kevin sah dem Mann ins Gesicht, als plötzlich Bilder seinen Kopf durchzuckten. Bilder von dem Typ mit der Wuschelfrisur, wie er Kevin mit einem Bier zuprostete... wie er, mit gleichem verzerrtem Gesichtsausdruck, in einem zerstörten Auto saß und Kevin bei ihm war und seine Hand hielt. Blitzartig öffneten sich die Hände um Bens Hals und Kevin wich von dem leblosen Körper zurück. Für einen Moment starrte er, völlig entgeistert, auf Ben herab und in seinem Kopf herrschte plötzlich Chaos... ein paar Gedanken, nur ein paar Gefühlsregungen die er beim Anblick des Mannes hatte, lösten keinen Hass aus, sondern ein positives Gefühl. Er konnte es sich nicht erklären... waren das postive Gefühle von damals, als er noch dachte, es sei sein Freund? Aber in der Jugend hatte er keinen Autounfall miterlebt.
Kevins Kopf begann plötzlich wieder zu schmerzen, zu brennen und er fasste sich mit den Händen an eben diesen. "Scheisse... scheisse...", murmelte er, als er plötzlich keinerlei Genugtuungsgefühl hatte, einen der Schuldigen für Janines Mord umgebracht zu haben. Er geriet in Panik, nahm die Waffe vom Boden auf und begann zu laufen, bis sich ihm Timo im zweiten Parkdeck mit gezückter Waffe entgegenstellte...