"I can accept failure, everyone fails at something. But I can't accept not trying."
- Michael Jordan
Fallanalytik, fand Niilo, war so trocken wie Knäckebrot. Er lehnte sich zurück. Diese unbequemen Stühle machten die Lernatmosphäre auch nicht gerade besser. Sein rechtes Knie zwickte unangenehm, da er überhaupt keinen Platz hatte, um es auszustrecken. Neben ihm saß eine junge Frau und schrieb akribisch mit, was der Dozent ihnen erklärte. Ein Kerl, der die Veranstaltung irgendwie grotesk machte: Sneaker, Jeans, T-Shirt, eine Hornbrille. Und dazu eine fürchterlich einschläfernde Stimme. Ein Widerspruch in sich. Er legte den Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf auf seine Hand. Noch 75 Minuten Langeweile.
„Ich war schon immer ein Einzelgänger. Ich bin in einer intakten Familie aufgewachsen. Nach dem Gymnasium kam eine turbulente Zeit. In der High-School begann ich zu trinken. Im Jahr meines Abschlusses wurde die Ehe meiner Eltern geschieden, ich lebte von nun an allein. Ich begann immer mehr zu trinken und wegen meines massiven Alkoholkonsums wurde ich letztlich auch von High-School verwiesen.“
Das Bild an der Leinwand wurde gewechselt und das Innere einer Wohnung erschien. Dann betätigte der Dozent erneut den Klicker. Neue Bilder der Wohnung wurden an die Wand geworfen. „Wenn man mich besucht, findet man eine normale schlicht eingerichtete Wohnung vor ... bis man zum Kühlschrank geht. Dann würde man das hier finden.“ Er schaltete erneut das Bild um, welches nun einen Kühlschrank, gefüllt mit Tupperdosen zeigte.
„Was ist das?“, fragte der Dozent ins Plenum.
Niilo seufzte. Na was wohl, dachte er und begann damit Strichmännchen zu zeichnen.
„Körperteile“, antwortete einer der Studenten.
„Dann sind Sie ein Mörder?“, kam es von einem anderen.
Der Dozent nickte zufrieden. „Aber was mache ich mit den Opfern?“
„Sie ausweiden?“, kam es unsicher von einer blonden Studentin, die die ganze Zeit fleißig mitgeschrieben hatte.
„Aber ich mache noch mehr. Und nun frage ich Sie, ist es normal Körperteile in einem Kühlschrank zu lagern.“
Allgemeines Kopfschütteln.
„Für mich schon“, widersprach der Dozent seinen Studenten. „Sie müssen begreifen, dass Menschen mit einer dissozialen Veranlagung nach Ihrer eigenen inneren Logik leben.“
Der Dozent trat vor das Pult und ging den schmalen Gang hinauf die Reihen entlang. „Also noch einmal. Ich habe Körperteile im Kühlschrank, warum?“
Warum wohl? Himmel, würde bitte jemand aufzeigen und die Antwort sagen? Niilo blickte aus dem Fenster und beobachtete den Verkehr auf der Straße. Wieso nur gehörten diese elenden Vorlesungen zur Ausbildung dazu? Zur Hölle, warum war er überhaupt hier? Er atmete wehmütig aus. Weil sein Leben in der Sackgasse geendet war, genau deshalb.
„Was haben Sie in ihrem Kühlschrank?“, tönte es abermals durch den Saal.
Es gab bessere Orte zu dieser Jahreszeit. Er könnte auf eine Insel fahren, faul am Strand liegen. Nur noch 70 Minuten, dann war es soweit …
„Yliato!!“
Er schreckte hoch. Die stechend blauen Augen des Dozenten sahen direkt in seine. Die Arme waren vor dem Oberkörper verschränkt. Wann war er hierher gekommen?
„Was haben Sie in Ihrem Kühlschrank?“
„Essen“, antwortete er.
Die Mundwinkel seines Gegenübers zogen sich nach oben, dann ging der Lehrende wieder in Richtung Pult. „Essen. So einfach ist das Ganze. Ich esse meine Opfer. Es ist für mich vollkommen normal.“
Der Dozent drehte sich wieder zur Wand und wechselte die Folie. „Wenn wir diese Menschen finden wollen, dann fragen wir zunächst nach den äußeren Spuren. Wie haben Sie es gemacht und erst dann kommt das Warum. Wo liegen die Ursachen, welcher Gedanke steckt dahinter und was treibt sie an.“ Er ging um das Pult herum und lehnte sich dagegen. „Wichtig ist, dass sie kein falsches Bild der Fallanalytik bekommen. Wir sind keine Superbullen, wie sie im Fernsehen gezeigt werden. Wir folgen den Spuren der Kriminalistik, sind Kettenglied zwischen den Spezialdisziplinen.“
Als die Vorlesung endlich ein Ende fand, war Niilo fast eingenickt. Das Klopfen von Fäusten auf die Tische riss ihn aus seinem Halbschlaf, und etwas benommen richtete er sich auf und trabte die Treppe des Vorlesungssaals herunter in Richtung der großen Holztür. Doch noch ehe er die Freiheit erreichen konnte, wurde er durch die Stimme des Dozenten aufgehalten: „Niilo, warte kurz.“
Verdammt, fluchte er innerlich, fast hatte er es aus dem Saal geschafft. Er holte tief Luft und drehte sich wieder herum. Sein Dozent stand hinter dem Pult und räumte gerade seinen Laptop in seine Tasche.
„Wieso bist du Polizist geworden?“ Die Schärfe in der Stimme seines Gegenübers ließ ihn erkennen, dass er gerade auf ganz dünnem Eis stand. Eventuell hätte er in den letzten Vorlesungen doch etwas mehr aufpassen sollen? „Ich meine, du zeigst null Interesse und das lässt mich zweifeln, ob es richtig war mich schützend vor dich zu stellen.“
Niilo schwieg, denn im Grunde hatte er keine Ahnung, wieso er zur Polizei gegangen war. Er hatte die Entscheidung getroffen, als ihm alles im Leben egal gewesen war.
„Bis Ende des Monats möchte ich eine Antwort. Ansonsten war es das für dich.“
„Wieso bist du Polizist geworden?“, stellte Niilo die Gegenfrage. So schnell würde er sich nicht geschlagen geben. Wenn er das hier verlor, dann war da nichts mehr.
„Weil mein Freund es war.“
„Weil dein Freund es war?“, presste Niilo ungläubig heraus und verfolgte, wie sein Gesprächspartner die Seitentasche schulterte und dann aus dem Vorlesungssaal verschwand. „Zur Hölle! Das ist doch niemals eine vernünftige Antwort!“
Niilo rannte aus dem Vorlesungssaal. „Und wieso bist du es nicht mehr?!“ Er lächelte innerlich. Er wollte eiskalt, dann bekam er es. Ganz sicher würde er ihn damit aus der Reserve locken.
„Ich bin meinen Schülern keine Rechenschaft schuldig.“ Der Schwarzhaarige hob die rechte Hand. „Versuch, bei der nächsten Vorlesung nicht einzuschlafen …“