Ben sah prüfend in den Spiegel und brachte noch einige Strähnen in Ordnung. Nachdem sie diesen Fall nun hinter sich gebracht hatten, hatte Semir ihn nach einem ereignislosen weiteren Tag in Köln zu sich zum Essen eingeladen und er hatte diese Einladung natürlich nur zu gerne entgegengenommen. Es war schon viel zu lange her, dass er mit seinem Partner an einem Tisch gesessen hatte.
„Und du willst wirklich nicht mitkommen?“, rief er.
„Nein, lass mal.“
„Semir würde es nichts ausmachen.“ Ben trat aus dem Badezimmer in das kleine Wohnzimmer, in dem Thore auf dem Sofa lag und eine Serie auf seinem Tablet ansah. „Sag nicht dein Anime ist dir wichtiger …“
Thore seufzte und drehte eine Strähne zwischen den Fingern. „Ihr werdet über alte Zeiten reden und ich mich tierisch langweilen. Außerdem wäre es mir unangenehm, wenn du von Nora schwärmst.“
Der Ältere lachte und lehnte sich über die Sofalehne. „Du meinst, dass ich sie für das hübscheste Geschöpf auf der ganzen Erde halte?“ Sein Blick ging auf das Tablet. „Zur Hölle, ist das ein Horrorfilm, da spritzt es ja nur so voller Blut.“
„Mhm? Es geht nicht nur um Blümchen und so im Anime, ist dir schon klar?“ Thore grinste. „Aber nein, du hast nur die blutige Szene erwischt. Ist ziemlich gut … ich denke, es kommt in meine Sammlung.“
Ben drehte sich weg. „Ich kann nicht glauben, dass du das der realen Welt vorziehst“, entgegnete er empört. „Und vor allem Andreas Essen.“
„Andrea?“
„Semirs Frau. Sie kocht wirklich gut.“
Thore lachte auf. „Jeder kocht besser als Nora.“
„Und wenn ich dir sage, dass sie besser kocht als du, Schnuckelbär?“ Ben drehte sich wieder herum und fuhr durch die schwarzen Haare seines Freundes. „Wärst du dann beleidigt?“
„Ich wäre tödlich gekränkt!“
Ben zwinkerte ihm zu. „Na dann, gut das es nur eine Hypothese war und ich es nicht gesagt habe.“
„Du bist übrigens schon viel zu spät dran.“ Thore richtete seinen Blick wieder auf sein Tablet. „Aber das wird er als dein ehemaliger Kollege ja gewohnt sein.“
Erschrocken weiteten sich Bens Augen, als er auf die Uhr sah. Thore hatte Recht, er würde es niemals pünktlich schaffen. „Und ich weiß nicht einmal, wo genau Semir jetzt wohnt …“ Eilig griff er nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln. „Benimm dich, während ich weg bin“, rief er noch und sah wie Thore die Hand hob und ein „Jaja“ durch die Wohnung hallte.
Am Ende war Ben tatsächlich viel zu spät gekommen und hatte sich auf dem Weg zum neuen Haus der Gerkhans auch noch maßlos verfahren. Aber zu seinem Glück hatten Andrea und Semir mit so etwas schon gerechnet und das Essen nicht pünktlich zubereitet, so dass es doch noch frisch auf den Tisch kam.
„Das ist wirklich köstlich, Andrea“, erklärte Ben, als er sich das Steak im Mund zergehen ließ. „Genau auf den Punkt.“
Andrea winkte verlegen ab. „Ach was … so gut ist es auch nicht.“
„Doch doch … ich habe gerade noch meinem Kollegen erklärt, wie gut du kochen kannst.“
„Und er wollte wirklich nicht mit?“, hakte Semir nach. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, dass Ben Thore mitnehmen würde.
„Er dachte, dass wir nur über alte Zeiten reden würden …“ Der Jüngere lachte. „Und seine Schwester. Ich glaube, dass war dann doch noch etwas schlimmer als der Rest.“
„Ich hoffe doch wir lernen sie bald kennen?“ Andrea schenkte ihm etwas Wasser nach. „Wie wäre es, wenn wir für ein paar Wochen nach Helsinki kommen? Es schon etwas her seit unsere letzten Urlaub und …“
„Andrea-Schatz, nun überfall doch Ben nicht gleich so“, versuchte Semir seine Frau zu bremsen, doch ohne Erfolg. Sie schien sich den Urlaub bereits in den Kopf gesetzt zu haben.
„Nein, nein … es wird Zeit, dass du mal wieder einen längeren Urlaub einplanst. Ich bin mir sicher, dass Helsinki dir gut tun würde.“
Semir grinste frech. „Der letzte Urlaub dort war ja nun nicht sehr entspannend.“
„Da hast du recht“, stimmte Ben zu. Das letzte Mal, als sie in Finnland waren, war es alles andere als entspannend. Da waren sie nämlich in einen Fall reingeschlittert, ohne es wirklich zu wollen.
„Aber es freut mich, dass du dich dort so gut eingelebt hast.“ Andrea lächelte. „Als Semir mir erzählt hast, dass du in Finnland wohnen wirst, wollte ich ihm zuerst nicht glauben.“
„Ja … es war auch eigentlich nicht geplant“, gab Ben zu. Eigentlich hatte er nach dem gescheiterten USA-Trip nicht gewusst wohin und war dann irgendwie vor Mikaels Haustür gestrandet Und der hatte ihn dann auf Niilo angesetzt und ihn geradezu in den Job bei Totenwinter hineingedrängt. Wenige Wochen später war dann Thore in ihr Team gekommen. „Aber ich bin froh, dass ich mich darauf eingelassen habe. Wenn die langen Winter nicht wären, dann ist es dort auch wirklich traumhaft.“
„Und Mikael, erzählt. Was treibt der?“ Andrea beugte sich nach vorne. „Geht es ihm gut?“
Ben nickte. „Er bereut keinen seiner Entscheidungen der letzten Jahre. Ist ziemlich aufgestiegen in der Akademie, hat dann noch ein Projekt nebenbei mit seinem Schwiegervater.“
„Mit seinem Schwiegervater?“ Semirs Augen weiteren sich. „Wie ist das denn passiert?“
„Du würdest dich wunden, wie oft Mikael seinen Rat sucht.“ Ben grinste. „Aber ich glaube, dass die Beziehung nicht ganz unbeteiligt war bei meiner Jobbeschaffung. Samuel Järvinen hat wieder eine ziemlich hohe Position im Polizeiapparat und auch wenn Mikael es mir gegenüber bestreitet, nutzt er es doch aus.“
„Immerhin für gute Dinge.“ Semir stand auf und holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank und reichte eine davon Ben.
„Ja, immerhin das“, bestätigte Ben. „Schade, dass der Fall nun gelaufen ist … eigentlich würde ich liebend gerne noch ein paar Tage hierbleiben.“
Der Ältere nickte. „Wann müsst ihr zurück?“
„Der Flug ist für Übermorgen gebucht. Wir wollen noch die restlichen Fakten in diesem Fall klären.“
„Wie den Selbstmord?“, hakte Semir nach.
Andrea stand auf und lächelte. „Ich sehe schon, ich werde nicht mehr gebraucht … ich gehe schon einmal ins Wohnzimmer.“
„Wir wollten dich nicht vert …“, setzte Ben an, doch Andrea schüttelte den Kopf. „Das tust du nicht. Alles gut … besprecht ihr nur den Fall.“
Als Andrea gegangen war, nickte Ben. „Es fällt mir immer noch schwer, ich meine, sie schien auf euch ja nicht besonders deprimiert oder so und auch Niilo … er kann sich das nicht erklären, wieso sie sich umbringen wollte.“
„Und Thore, er hat damit kein Problem?“
„Womit?“
„Na der genauen Untersuchung von dem Selbstmord?“
„Wie kommst du darauf?“ Ben richtete seinen Blick auf den Tisch. „Das er ein Problem damit haben könnte?“
„Sein Benehmen an dem Abend, als ihr sie gefunden habt … die Sache gestern Morgen. Und nun erzähl mir nicht, dass ich mir das einbilde.“
Der Braunhaarige lächelte ertappt. „Ja, es gibt da etwas … privater Natur.“
„Du brauchst es nicht erzählen.“
„Es ist schon okay …“ Ben nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. „Ich glaube nicht, dass Thore mir böse wäre, wenn ich es dir erzähle.“ Er atmete tief durch. „Er hat seine Mutter gefunden, als sie sich umgebracht hat … erhängt.“
Semir Lippen formten sich zu einem Lautlosen „O“.
„Er ist nie wirklich darüber hinweggekommen.“ Ben legte seine rechte Hand um den Hals. „Manchmal, wenn es ganz schlimm ist, dann legt er sich die Hand um den Hals und drückt zu … er macht das nicht bewusst, oder so … aber jedes Mal, wenn ich diese Druckstellen sehe, dann habe ich Angst um ihn …“
„Denkst du, er denkt auch darüber nach sich …“
„Nein, eigentlich traue ich es ihm nicht zu. Denn trotz allem ist er ein positiver Kerl, der sich nicht unterkriegen lässt. Es ist nur, ihn so am Boden zu sehen, ist nicht leicht … vor allem, wo wir ja auch noch neben der Arbeit dauernd zusammen hängen.“
„Du wirst also die letzten Fakten alleine prüfen?“, fragte Semir nun.
„Ich denke schon. Ich werde Thore fragen, aber ich glaube, dass es zu viel für ihn ist. Er war schon ziemlich durch den Wind, als wir sie gefunden haben.“ Ben drehte die Bierflasche zwischen den Händen. „Andererseits ist er ziemlich begabt. Er sieht oft Kleinigkeiten, die mir erst auf den zweiten Blick ins Auge fallen. Da verzichte ich nicht wirklich gerne auf ihn."