Semir saß vornübergebeugt da. Die Unterarme ruhten auf seinen Oberschenkeln. Mit einem leeren Blick starrte er vor sich hin auf diesen Bildschirm und sah doch nichts … hörte nichts.
Seine Welt war zerbrochen.
Ein energisches Zupfen an seinem Hemd riss den Türken zurück in die Realität. Er runzelte die Stirn, schaute zur Seite und blickte in Aidas Gesicht. Erst jetzt verstand er, dass seine Tochter mit ihm redete und was sie zu ihm sagte.
„Papa! … Papa! … Hörst du mir überhaupt zu?“, maulte sie ihn energisch an.
„Ja, Schatz!“ antwortete er mehr automatisch „Was ist denn los?“
„Papa! Du musst doch los! Du musst Ben helfen! Er wartet auf dich! Mama hat ihm versprochen, dass du kommst, um ihn zu retten!“
Mit einem Schlag war es aus und vorbei. Bei den Worten seiner Tochter legte sich ein unsichtbares Band um seine Kehle, würgte ihn und schnürte ihm die Luft ab. Tränen schossen ihm in die Augen und er biss die Lippen krampfhaft zusammen, um nicht lauthals loszuschreien. Sein getrübter Blick war auf Aidas Gesicht gerichtet. An ihrer Mimik konnte er erkennen, auch seine Tochter hatte begriffen, dass etwas Schreckliches mit Ben passiert sein musste. Ihr Körper bebte und sie krabbelte auf seinen Schoß. Mit ihren Armen umschlang sie seinen Nacken und wisperte mit ihm aufschluchzend ins Ohr: „Papa … Papa? Ist was mit … Ben? …. Ihr … seid ….“, sie schniefte … „alle so furchtbar traurig!“ … wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. „Papa … Papa … ist … ist … Ben … tot?“
Semir konnte ihr nicht antworten … nur noch nicken und seine Tochter an sich drücken. Weinend vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Ihre Tränen durchtränkten sein Hemd … Mehr mechanisch strich er ihr über das Haar. Wie sollte er Aida denn trösten? Semir verstand es doch selbst nicht. War das der Preis, den er zahlen musste, damit seine Familie gerettet worden war? Das Schicksal war einfach nur grausam und dieses Wissen raubte ihn fast den Verstand. Neben dem Verlust seiner Familie war das, das Schlimmste, was man den Türken antun konnte. Ein Schauder nach dem anderen jagte durch seinen Körper. Seine Gedanken fingen an sich im Kreis zu drehen. Der Türke war innerlich völlig zerrissen. Er spürte den zierlichen Körper seiner Tochter, der von einem Weinkrampf nach dem anderen geschüttelt wurde. Seine Seele, sein Herz fochten einen inneren Kampf aus. Auf der einen Seite war er der Familienvater, der die Not seiner Tochter und seiner Frau wahrnahm. Gerade in diesem Moment brauchten sie ihn als einen Fels in der Brandung, der ihnen Halt gab, der ihnen Trost spendete, wo er doch selbst Trost gebraucht hätte. Sein letztes bisschen Verstand, das ihm unter dem Eindruck der Erlebnisse der letzten Tage, Stunden, Minuten geblieben war, wollte den endgültigen Beweis, dass sein Freund Ben tot war. Es fühlte sich für ihn so an, als rief die Seele seines verstorbenen Freundes Ben nach ihm. War es Einbildung oder Magie? Wurde er verrückt? Oder einfach nur der Wunsch nach dem letzten Beweis, dass Ben tot war. Wie an einen Strohhalm klammerte sich seine Seele an diesen letzten Hoffnungsschimmer. Doch dann nahm sein Verstand wieder die tränenerstickte Stimme seiner Tochter war. Es war ein einziger Hilfeschrei, der ihm zeigte wie sehr das Mädchen litt, wie sehr seine Tochter ihren Vater brauchte.
Semir wusste nicht wieviel Zeit verstrichen war, in der er völlig verzweifelt mit Aida im Arm dagesessen hatte und seinen schlimmsten Kampf ausfocht. Irgendwann legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der Türke schaute auf und blickte in das Gesicht von Kim Krüger. Es war zu einer eisernen Maske erstarrt. Ihre Augen waren gerötet und total verquollen. Sie sah elend und mitgenommen aus. Man sah ihr an, wie sie darum kämpfte, nicht ihre Fassung zu verlieren. Mit einer dumpfen, fast schon monotonen Stimme an sprach sie ihren Kommissar an und riss ihn endgültig aus seiner Lethargie.
„Semir! … Herr Gerkhan, hören sie mich? Ich habe gerade mit der Einsatzleitung im Fuchstalgrund gesprochen.“ Sie räusperte sich. „Ich … ich … habe denen ein Foto von Ben Jäger per Handy geschickt. Einer der Toten …“ Sie schwieg für einige Sekunden, sammelte sich erneut und biss sich auf die Lippe, bevor sie stockend weiterredete „… einer der Toten ist der Beschreibung nach Ben Jäger. … Er trägt eine rot-karierte Jacke … und … und der Zeuge behauptet … ihn … nach dem Foto … erkannt zu haben!“ In den Augenwinkeln von Kim Krüger schimmerte es feucht und sie rang krampfhaft darum, nicht wieder ihre Fassung zu verlieren.
Hinter ihm erklang ein herzzerreißender Aufschrei „Neeeiiiiinnnn!“. Ohne dass Semir sich umblickte, wusste er, der Schrei war von Andrea gekommen. Der Schrei ging über in ein haltloses Aufschluchzen. Wie im Zeitlupentempo kam der Sinn der Worte seiner Chefin im Gehirn des Türken an. Das letzte Fünkchen Hoffnung war zerstört. Sein Herzschlag beschleunigte sich in ungeahnte Dimensionen. Semir fing an zu zittern und gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus. Von seinen Händen ausgehend, breitete sich eine Eiseskälte in seinem Körper aus. Immer wieder murmelte der Kommissar ein paar Worte vor sich hin „Nein …Ben …. nein …Ben bitte nicht Ben … nein …!“ Es war wie der Wunsch, einen Zauberspruch auszusprechen und der Spuk war vorbei. Das was geschehen war, würde wieder rückgängig gemacht werden. Jedoch da war noch eine andere Stimme in seinem Kopf, die ihm klar machte … es ist aus und vorbei … Ben, sein Freund … sein Partner … er lebte nicht mehr … diesmal gab es keine Rettung für seinen Partner. Semir schmeckte den salzigen Geschmack der Tränen auf seinen Lippen, die unaufhaltsam rannen. Wie in Trance drangen die nächsten Sätze von Frau Krüger zu ihm durch.
„Herr Gerkhan … ! Es ist ein Rettungswagen hierher unterwegs. Er sollte jeden Moment hier eintreffen. Er wird Sie und ihre Familie ins Krankenhaus bringen!“ Er schüttelte den Kopf und protestierte: „Nein …. Nein … ich muss zu Ben!“
Kim Krüger ging leicht in die Hocke, um auf einer Blickhöhe mit ihrem Kommissar zu sein. „Denken Sie nicht die Lebenden brauchen sie mehr wie …!“ Sie konnte es einfach nicht aussprechen.
Semirs Blick wanderte von der Meldung auf dem Bildschirm zu von seiner Tochter, die sich wie eine Ertrinkende an ihn klammerte hinüber zu seiner Frau, die von Weinkrämpfen geschüttelt, in Susannes Armen lag. Der Anblick seiner Liebsten schockte den Türken endgültig. In diesem Moment wurde Semir klar, es machte keinen Sinn, die Wahrheit zu verdrängen. Sein bester Freund und Partner Ben Jäger war tot.
Irgendwann standen ein Notarzt und die Sanitäter neben ihm, sprachen ihn und Aida an und hängten ihm eine Decke zum Wärmen um. Zuerst kümmerte sich der Arzt um seine Tochter, die aber um nichts in der Welt ihren Vater los ließ. Er spürte einen kleinen Stich am Arm, als der Notarzt ihm etwas spritzte. Dies alles ließ er widerstandslos über sich ergehen. Aida, auf den Armen tragend, wurde er von einem der Sanitäter zum Rettungswagen geführt.