Ein schriller Signalton ertönte … ein weiterer kam hinzu … und da war sie auf einmal wieder, diese dunkle, weiche und warme Stimme … Nein, das war nicht die Stimme seiner Mutter. Wer war das? Eine unbekannte Frau? Dennoch hatte sie eine unheimlich beruhigende Wirkung auf ihn.
„Hallo Herr Jäger … nicht aufregen … Ihnen passiert doch nichts! Hey, ganz ruhig!“
Etwas Warmes berührte seine Wange.
„Scht … scht … hey nicht aufregen. Sie sind im Krankenhaus. Ich heiße Anna, bin Krankenschwester und kümmere mich heute um sie. …. Sehr gut .. Langsam und gleichmäßig atmen! So ist es gut! Nicht dagegen ankämpfen!“
Eine Hand strich ihm über die Stirn, streifte durch seine Haare. Die Haut fühlte sich so weich und warm an.
„Auweia, da ist ja alles verklebt! Puuh … da werden wir wohl mit ein bisschen Wasser ran müssen. Aber heute nicht mehr, sie hatten schon genug Stress mit all den Untersuchungen.“ Ihre Finger tasteten vorsichtig über die Schwellung und die Verkrustungen. „Wer war dann nur so brutal und gemein zu ihnen und hat ihnen all das angetan?“
Ben wollte sich bemerkbar machen. Seine krampfhaften Versuche die Augenlider zu öffnen, scheiterten kläglich. Sie gehorchten ihm einfach nicht. Zu der ruhigen Frauenstimme kam eine hektische dazu. Es war diese Stimme, die Ben Angst einflößte, dieser Akzent, der ihm nur eines suggerierte: Schmerz und Qualen.
„Soll ich den Arzt holen? Brauchst du Hilfe Anna?“
„Nein … alles ok Natascha. Ich habe alles unter Kontrolle. Kannst du mir einen Gefallen tun, sein Vater sitzt draußen vor der Eingangstür. Holst du ihn bitte rein? Ich glaube, es wäre gut für Herrn Jäger, wenn er jetzt bei ihm wäre!“, sprach die angenehme Stimme.
Bens von Medikamenten vernebeltes Gehirn begriff nur eines: Sein Vater war da. Aber wo war Semir? Er brauchte doch Semir.
„Ihr Vater war die ganze an ihrem Bett gesessen.“ Den Rest ihrer Worte verstand Ben nicht mehr. Seine Seele schrie nach seinem Freund.
Minuten später ….
„Tut mir leid Anna. Sein Vater ist nicht mehr da. Nur ein anderer Mann, ein Herr Gerkhan, der behauptet sein Freund zu sein und er wolle unbedingt zu ihm! Aber das geht doch nicht. Hier dürfen nur Angehörige rein!“, empörte sich die blonde Krankenschwester und rümpfte auch vor ihrer Kollegin die Nase. Natascha, die Krankenschwester, empfand Angehörige und Besucher auf der Intensivstation, die sie bei der Arbeit beobachteten, als lästig.
In Bens Bewusstsein drang nur eine Information durch … sein Freund war da … Semir war da und durfte nicht zu ihm. Sein Unterbewusstsein rebellierte dagegen. Alarmtöne erklangen …
„Hol ihn rein Natascha … nun mach schon! Das geht in Ordnung! Professor Kraus hat es selbst angeordnet. Schau in die Krankenakte, wenn du mir nicht glaubst! Ein Herr Gerkhan darf jederzeit Herrn Jäger besuchen!“
Schwester Anna sprach wieder beruhigend auf ihren Patienten ein, während sich ihre Kollegin nur widerwillig auf den Weg zum Eingang der Intensivstation machte und den kleinen Türken reinholte.
Dieser blieb wie versteinert an der Schiebetür stehen und betrachtete seinen Freund.
Die Beschreibung seiner Verletzungen durch den Arzt heute Morgen war eine Sache. Augenblicklich traf ihn mit voller Wucht die Erkenntnis, an welch seidenen Faden Bens Leben hing. Ein Gewirr aus Schläuchen und Kabeln umgaben sein Bett. Die Leitungen führten zu den verschiedensten Monitoren, auf denen Messwerte blinkten, seinen Herzschlag abbildeten und für ihn als Laien nur noch mehr furchteinflößend waren. Semirs Blick wanderte weiter zum Gesicht seines Freundes. Die zahlreichen blutunterlaufenen, kleinen Risswunden, die mit kleinen Klammerpflastern versorgt worden waren und die daraus resultierenden Schwellungen waren wohl noch die harmlosesten Verletzungen. Sein Drei-Tage-Bart war verschwunden, sein dunkles Haar war verklebt und hatte nichts mit seiner normalen wuscheligen Haarpracht mehr zu tun. Semir hätte auf den ersten Blick seinen Freund fast nicht erkannt. Abgrundtief seufzte er auf und dachte an ihren letzten gemeinsamen Abend am Montag.
Nur ein Teil seines Oberkörpers war zu sehen, der Rest war durch die Bettdecke verborgen. Bens Brust war übersäht mit Hämatomen, die in allen Regenbogenfarben schimmerten, blutunterlaufene Schwellungen. Die Schusswunde an der linken Brustseite und die Wunden an der rechten Seite wurden durch Verbände geschützt. Weiße Pflaster bedeckten die verschiedenen Operationswunden und ließen ihn das wahre Ausmaß der inneren Verletzungen nur erahnen.
„Oh mein Gott Ben!“, murmelte der Polizist entsetzt vor sich hin.
„Hallo Sie müssen Herr Gerkhan sein? Professor Kraus hat mir schon von ihnen erzählt! Ich bin Schwester Anna und betreue den jungen Mann während des Frühdienstes!“, wurde er von der hübschen Krankenschwester an Bens Seite begrüßt. Sie hatte ihre schwarz-gelockte Haarpracht zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein paar widerspenstige Haarsträhnen hatten sich wie ein Pony auf ihre Stirn verirrt. Darunter lag ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht mit zwei warmherzig blickenden dunklen Augen.
„Hallo, ja der bin ich. Wie geht es Ben“ Dabei wanderte sein besorgter Blick zu den Beuteln, die teilweise mit blutrot gefärbter Flüssigkeit gefüllt waren, die rund um das Bett sichtbar waren und wieder zurück zu seinem Freund. In jedem Beutel steckte ein Schlauch, der unter der Bettdecke hervorkam und scheinbar mit Bens Körper verbunden war. Mit schleppenden Schritten ging er an das Krankenbett.
„Wie heißt es so schön, den Umständen entsprechend. Kommen sie doch näher! Jetzt müssen wir einfach abwarten!“, erklärte sie weiter und strahlte dabei eine unheimliche menschliche Wärme und Verständnis aus.
Plötzlich gab der Herzmonitor wieder an ein Alarmsignal von sich. Die Herzfrequenz war nach oben geschnellt. Erneut strich Anna dem Schwerverletzten beruhigend über die Haare von Ben und sprach auf ihn ein.
„Hallo Herr Jäger … ganz ruhig … nicht aufregen … sie haben Besuch … ihr Freund ist da…“ Sie löste ihren Blick von Ben und schaute Semir an: „Reden Sie mit ihm Herr Gerkhan! Ich weiß nicht wieso, aber meine weibliche Intuition sagt mir, Herr Jäger wartet auf Sie!“ Sie sah seinen fragenden Blick. „Ich bin überzeugt, er versteht sie. Man hat ihn nur leicht sediert.“
„Hallo Ben …!“ seine Stimme klang belegt „hörst Du mich?“ Er griff vorsichtig die fixierte Hand seines verletzten Freundes und hielt sie fest umschlungen. „Andrea und Aida sind in Sicherheit, verstehst du? Ihr habt es tatsächlich geschafft, diesen Monstern zu entkommen. Was würde ich für ein kleines Lebenszeichen von dir geben.“ Der kleine Autobahnkommissar verstummte für einen Moment, betrachtete erneut eingehend das eingefallene Gesicht seines Freundes, suchte die Spur einer Regung. Ganz still lag der Verletzte da. Nichts deutete darauf hin, dass er bemerkte, wer neben seinem Bett saß und mit ihm redete.
Im Gegensatz dazu stellte Anna schon nach den ersten Worten von Semir fest, dass sich der Herzschlag des verletzten Polizisten stabilisierte. Die Ausschläge nach oben verschwanden, die Zacken der grünen Kurve wurden gleichmäßig. Nach einigen Minuten beschloss die Krankenschwester die beiden Freunde allein zu lassen. „Hey! Schauen Sie mich an Herr Gerkhan, alles wird wieder gut werden. Ihr Freund wird wieder gesund, glauben Sie mir! Ich lass Sie ein bisschen alleine mit ihrem Freund.“
Leise schloss sie hinter sich die Schiebetür, verharrte dahinter und beobachtete durch das Fenster weiter die Reaktion ihres Patienten auf seinen Besucher.