Aus dem Hintergrund erklang eine erboste männliche Stimme:„Was suchen Sie denn noch hier Schwester Anna? Hatte ich mich vorhin nicht eindeutig ausgedrückt? Sie sollten nach Hause gehen! Brauchen Sie richtig Ärger?“
Dr. von Zadelhoff war in der Eingangstür zu Zimmer 12 aufgetaucht. Seine nächsten Worte blieben ihm förmlich im Hals stecken, als er erkannte, dass der Chefarzt der Intensivstation vor dem Bett des Patienten stand und dessen Krankenakte studierte. Dieser schaute von dem Krankenblatt auf und musterte seinen neuen Assistenzarzt eindringlich.
„Vielleicht sollten Sie mir mal was erklären, Herr Dr. von Zadelhoff!“ Die Stimme des Chefarztes vibrierte. Jeder der ihn kannte, wusste der Dr. Kraus stand kurz vor einem emotionalen Tobsuchtsanfall. „Wann haben Sie die Werte des Patienten das letzte Mal kontrolliert?“ Dabei tippte er mit seinem Zeigefinger unmissverständlich auf die letzten Laborwerte in der Krankenakte. „Warum wurde ich von der Verschlechterung seines Zustandes nicht informiert, obwohl hier eine eindeutige Anweisung steht und ich seit einer Stunde Hintergrunddienst habe?“, fauchte der Professor den vor ihm stehenden Mann wutentbrannt an. Mit jedem Satz war der Klang seiner Stimme schärfer geworden.
Nachdem Dr. von Zadelhoff den ersten Schrecken über das unerwartete Auftauchen des Chefarztes verdaut hatte, kam seine übliche arrogante Art wieder zum Vorschein.
Friedrich von Zadelhoff hielt sich für etwas Besonderes, für etwas Besseres, seinen Kollegen und Kolleginnen überlegen. Nur noch ein paar Monate musste er diesen lästigen Klinikalltag mit Stress, Überstunden und Nachtschichten durchstehen, dann hatte er sein angestrebtes Ziel erreicht. Er dufte sich Facharzt für Innere Medizin bezeichnen und auf ihn wartete ein lukrativer und gut bezahlter Job in der Pharma-Industrie. Zu seinem Leidwesen erwartete sein künftiger Arbeitgeber den Nachweis von beruflicher Praxis in gewissen medizinischen Fachbereichen an einer Uni-Klinik und gute Verbindungen zur Klinikleitung, um Forschungsprojekte durchzuführen. Diese Beziehungen hatte er dank seines Onkels. Dem entsprechend verhielt er sich auch gegenüber dem Chefarzt.
„Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufregen Herr Professor Kraus?“ Dabei rümpfte er die Nase. „Die Werte des Herrn Jägers werden selbstverständlich von mir oder der Schwester stündlich kontrolliert.“ Fast schon schnippisch kam die Antwort über die Lippen des jungen Mannes. Er zuckte mit den Schultern und reichte wie zum Beweis seinem Chef die neuesten Laborergebnisse, die er in seinen Händen hielt. „Da sehen sie doch selbst! ... Was kann ich dafür, dass das Labor den Erreger noch nicht bestimmt hat! Sollte ein Befund vorliegen, dann kann selbstverständlich eine entsprechende Therapie eingeleitet werden.“ Für ein paar Augenblicke schwieg der angehende Facharzt, ließ seine Worte auf seinen Chef wirken und legte nach: „Wissen Sie, Herr Professor Dr. Kraus, ich arbeite strikt nach Lehrbuch und Kosteneffizienz!“
Mit einer fast schon unnatürlichen Ruhe im Tonfall, leise fast schon flüsternd, antwortete der Chefarzt: „Sie wollen mir allen Ernstes erklären, ihre einzige therapeutische Maßnahme waren Blutentnahmen, das Fieber mit Medikamenten senken und das Warten auf die neuesten Laborwerte, sonst nichts?“
Aus welchem Grund auch immer fühlte sich der Assistenzarzt durch diese Frage in seinem Handeln bestätigt und hatte den warnenden Unterton in der Stimme seines Chefs völlig überhört. Er fing an zu selbstzufrieden grinsen: „Natürlich! … Alles andere wäre doch Verschwendung von teuren Medikamenten, die doch keinen Erfolg haben würden! … Schließlich bin ich auf die größte mögliche Kostenersparnis bedacht, was auf dieser Station ja nicht üblich zu sein scheint. Meinem Onkel habe ich davon schon unterrichtet.“
Die Blicke des anwesenden Personals richteten sich auf ihren Chef. Jeder konnte die Spannung fühlen, die sich aufgebaut hatte. Man hatte das Gefühl die Luft knisterte und nur noch ein kleiner Funke würde eine gewaltige Explosion auslösen. Dr. Kraus Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut:„Das ist wirklich ihr Ernst?... Sie haben keinen erfahrenen Arzt um Rat gefragt? … Den Oberarzt nicht von der dramatischen Verschlechterung des Zustands ihres Patienten seit der Morgensivite informiert?“
Der Assistenzarzt, der sich mittlerweile an den Türrahmen angelehnt hatte, nickte voller Überzeugung. „Ich weiß ja schließlich was ich kann! … Keine Ahnung, was ihnen diese unfähige Krankenschwester“, dabei durchbohrte sein Blick Anna förmlich, „für einen Floh ins Ohr gesetzt hat.“
Dem Chefarzt entwich deutlich hörbar die Atemluft. „Pfffff!“ Er umrundete das Krankenbett und forderte die neben ihm stehende Krankenschwester auf, ihm zu assistieren.
„Anna, helfen Sie mir bitte den Verband abzunehmen!“ Mit geschickten Fingern kam diese der Aufforderung ihres Chefs nach. Mit einem kleinen Ruck riss sie die Wundabdeckung am Rücken, die sich mit dem angetrockneten Wundsekret verklebt hatte, ab. Die Verkrustungen, die sich gebildet hatten, wurden mit abgelöst. Zwischen den Stichen der Naht, die die klaffende Wunde verschlossen hatte, sickerte eitriges Sekret hervor. Die Augen des Chefarztes funkelten vor Zorn. Er kämpfte mit sich, um seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren und blaffte von Zadelhoff an: „Und jetzt erklären Sie mir mal diese Sauerei hier! Nach Lehrbuch, so weit ich mich entsinnen kann, steht die Suche nach möglichen Infektionsherden und deren Säuberung an erster Stelle! Nach ihren Aufzeichnungen haben sie vor zwei Stunden auf Bitten der Schwester die Wunden des Patienten das letzte Mal kontrolliert. Wie kann es sein….“ Professor Kraus wandte sich seinem Assistenzarzt wieder zu. Sein Gesicht war vor Zorn gerötet, „Das eine Krankenschwester,wie haben sie sich so abfällig ausgedrückt ... als unfähig bezeichnen, die geröteten und geschwollenen Wundränder sehr wohl erkennt und sie nicht? … Obwohl Schwester Anna sie extra darauf aufmerksam gemacht hat?“
Die Gesichtsfarbe des Assistenzarztes änderte sich in Leichenblässe, als er seinen verhängnisvollen Fehler erkannte. Von Zadelhoff wich zwei Schritte zurück in Richtung des Ganges. Er suchte verzweifelt nach Worten, um sich zu rechtfertigen. Gerade noch rechtzeitig erkannte der Assistenzarzt an der Mimik seines Vorgesetzten, dass dies weder der geeignete Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür waren.
„Falls sie es noch nicht begriffen haben, Herr Dr. von Zadelhoff, wir Ärzte arbeiten um Menschenleben zu retten und nicht um jeden Cent dreimal umzudrehen, wie diese Erbsenzähler in der Verwaltung. …. Soviel zum Thema Kostenersparnis!“ Professor Kraus schnaubte durch, „Wir sprechen uns noch verehrter Dr. von Zadelhoff. Doch zuerst werden wir versuchen, das Leben dieses Patienten zu retten!“
Der Chefarzt schnaufte mehrmals erregt durch und versuchte zu verdrängen, welche persönlichen Beziehungen ihn mit dem jungen Patienten verbanden. In diesen Minuten war nur noch seine fachliche Kompetenz gefragt.
„Welcher OP ist frei Schwester Anja? Schaffen wir ihn rüber! Schnell!“, forderte er die Stationsschwester auf, tätig zu werden. Diese eilte zum Stationsstützpunkt, um die notwendigen Schritte einzuleiten, um nur wenige Minuten später ihren Chef etwas hilflos erklären zu müssen: „Tut mir leid Dr. Kraus! Momentan ist kein OP frei. Im Gegenteil! Es herrscht das reinste Chaos im OP Bereich. Operationssaal 1 ist vorläufig wegen Infektionsgefahr gesperrt und in OP zwei und drei laufen langwierige Eingriffe. Deswegen steht auch kein weiterer Chirurg zur Verfügung, der ihnen assistieren könnte. Wir werden noch warten müssen!“
Ein erneuter Blick auf die aktuellen Vitalwerte des fiebernden Ben Jägers offenbarten Dr. Kraus, dass es hier keine Zeit mehr zu verlieren gab. Er schüttelte seinen Kopf, während er antwortete, „Keine Zeit! Die Vitalwerte sind so instabil. Wir säubern die Wunde auf Station! Anna, sie gehen mir zur Hand!“ Sein Blick schweifte suchend umher. „Wo ist Dr. Vollmer?“ – „Im OP-Bereich, an der Schleuse! – Es gibt momentan Diskussionen, welche Intensivstation den infektiösen Patienten aus OP1 übernimmt!“ - „Was gibt es da zu diskutieren?", blaffte der Chefarzt. "Wir sind Rand voll, soweit ich es überblicken kann. … Also schaffen Sie mir Dr. Vollmer und alles her, was wir für den Eingriff brauchen. Wir werden den Eingriff im Patientenzimmer unter lokaler Betäubung durchführen. Sie werden mir ebenfalls assistieren, Schwester Anja.“
Gezielt erteilte der Chefarzt seine Anweisungen und der Eingriff wurde vorbereitet.