Gabrielas Blick fiel auf die blutige Klinge in ihrer Hand. Mit dem Zeigefinger der linken Hand strich sie elegant über die Klinge, betrachte das Blut auf der Fingerkuppe und wischte es an Bens Jackenärmel ab. Wortlos klappte sie das Messer wieder zusammen und schob es zurück in die Außentasche ihrer schwarzen Lederjacke. Sie erhob sich und beobachtete aus ihren grauen Augen, die so gefühllos wirkten, weiter ihr Opfer. Ihre Kippe, die in ihrem Mundwinkel hing, spuckte sie auf den Boden und trat sie dem Absatz aus.
Im Hintergrund fing Aida lautlos an zu weinen und versteckte sich hinter dem Rücken ihrer Mutter. Ben konnte erkennen, wie die Ärmste vor Angst zitterte. Die Kleine tat ihm so unendlich leid, dass sie das alles mitansehen musste … miterleben musste und gleichzeitig stachelte es seinen Zorn auf die Dunkelhaarige an. Doch wie sollte er Andrea und Aida nur schützen? Wie? In seinen dunklen Augen funkelte es vor Wut und Schmerz auf. Seine innere Stimme warnte ihn, sei vernünftig und halt bloß die Klappe Ben. Reize diese dunkelhaarige Hexe nicht noch mehr, die macht dich endgültig fertig! Diese Frau kennt keine Gnade, die bringt dich eiskalt vor den Augen von Andrea und Aida um. Ihre nächste Aussage bestätigten seine Gedankengänge.
„Spielst wohl gerne den harten Mann?“, kam die spöttische Frage der Dunkelhaarigen. „Kein Problem! Na dann schauen wir doch mal, wieviel du wirklich verträgst! Aber alles schön der Reihe nach. Zuerst, wirst du mir meine Fragen von gestern beantworten.“ Genüsslich leckte sich Gabriela mit der Zungenspitze über ihre vollen Lippen.
Scheiße, dachte er bei sich! Fragen, auf die es keine für sie zufriedenstellenden Antworten gab. Ben hatte sich auf den Rücken gewälzt und versuchte, gestützt auf seinen rechten Unterarm, rückwärts weg von ihr zu kriechen.
Gabriela zog eine Schusswaffe aus einem Holster, welches hinten an ihrem Gürtel befestigt war, entsicherte die Waffe und richtete sie auf Andrea. Die Mündung zielte auf Andreas Kopf, aus deren Gesicht jegliche Farbe wich. Instinktiv machte Andrea ein paar Schritte rückwärts und suchte eine Deckung, wo es keine gab.
„So, überlege dir deine Antworten genau mein kleiner Bulle, sonst drücke ich ab!“ warnte sie ihn. Ein Blick in ihre Augen zeigte Ben eindeutig, die Drohung war ernst gemeint. Diese Frau würde tatsächlich keine Sekunde zögern, den Abzug der Waffe durchzuziehen. „Also noch mal, was weiß die Polizei über Nicolas Schneider und was hat dein übereifriger Partner geplant?“, stellte sie unbeirrt ihre Fragen.
„Neiiiiin! … Nicht abdrücken!“, keuchte Ben verzweifelt auf. „Ich sag … ja …alles … alles! Semir hat … nichts geplant! Er wollte euch nicht reinlegen. Niemand wollte euch reinlegen. Es war alles nur … ein dummer Zufall. … Eine Verkettung von Zufällen … Kapiert ihr das nicht! … Das Frühstück auf dem Rastplatz … Dieser Nicolas Schneider ist ein unbeschriebenes Blatt bis auf den Unfall, den er verursacht hat. Wir haben nichts … gar nichts Weiteres gegen ihn in der Hand!“
„Willst du mich verarschen Bulle!“, blaffte sie ihn an. Ihre Augen blitzen ihn zornig an. „So viele Zufälle gibt es gar nicht im Leben! Erst eure Aktion auf der Autobahn und dann dein Auftauchen gestern am Haus der Gerkhans …! Letzte Chance! Wer hat euch den Tipp mit dem Rastplatz gegeben? Was wisst ihr über den Deal, der da ablaufen sollte?“
„Oh Gott! Ich weiß nichts! … Die Polizei weiß nichts!“, schrie er verzweifelt. Gleichzeitig stockte Ben der Atem, als er erkannte, wie sie den Zeigefinger immer weiter krümmte und den Abzug der Waffe durchzog. Blankes Entsetzen machte sich in ihm breit, er sah schon Andrea blutüberströmt zu Boden sinken. Gabriela feuerte einen Warnschuss in die Schuppenwand neben Andreas Kopf. Holzsplitter flogen durch die Luft. Aida schrie erschrocken auf und Andrea zitterte am ganzen Körper vor Entsetzen.
„Aufhören! Nicht mehr schießen! … Es ist die Wahrheit! … Keiner wollte euch reinlegen! Nicht mehr schießen! Bitte! … Bitte!“, flehte, ja bettelte sie Ben förmlich an. Bei den letzten Worten wurde seine Stimme leiser. „Frag doch den Wabbel neben dir! Ich hatte gestern Mittag nicht mal eine Schusswaffe dabei! …. Verdammt noch mal Semir hat mich nicht geschickt!“, brüllte Ben sie voller Verzweiflung an. Gabrielas Blick wanderte zu ihrem Bruder, der schuldbewusst den Kopf senkte und nickte. In der Dunkelhaarigen fing es an zu kochen und zu brodeln. Hinter Andreas Rücken bewegte sich etwas. Aida lugte an der Seite vorbei und wisperte in Richtung der Entführerin: „Aber es ist wirklich so! Ben sagt die Wahrheit. Er lügt nicht! Onkel Ben hatte gestern frei und wollte mit mir ins Phantasialand! Deswegen war er am Nachmittag bei uns.“
Gabriela fuhr bei den leise gesprochenen Worten des Mädchens zusammen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Mehr und mehr setzte sich bei ihr die Erkenntnis durch, dass es sich hier tatsächlich um eine Verkettung dummer Zufälle gehandelt hatte und keine Absicht dahinter gestanden hatte. Keiner hatte sie reinlegen wollen. Kein Spitzel hatte ihre Pläne verraten. Grenzenlose Wut glomm in ihr auf über sich selbst und den Rest der Welt. Völlig irre und hysterisch lachte sie vor sich hin. Sie hätten ihren ursprünglichen Plan beibehalten und die Frau und das Kind freilassen können, nachdem sie den Überfall und den Waffendeal erfolgreich durchgeführt hätten. Der Polizist hätte einfach am Haus der Gerkhans zurückgelassen werden können … hätte … wenn … und aber … doch jetzt … jetzt war alles zu spät … jetzt war alles anders.
Jetzt waren diese Menschen Zeugen …. Lästige Zeugen, die sie identifizieren konnten. Da war das Telefongespräch von gestern mit ihrem Auftraggeber, dass der Polizist belauscht hatte. Gabriela verfluchte ihren bodenlosen Leichtsinn. Ihr ganzer Zorn richtete sich gegen Ben. Er war schuld, dieser Polizist war an allem schuld. Sein gestriges Erscheinen am Haus der Gerkhans, das unerwartete Auftauchen auf dem Rastplatz am Tag vorher, der Unfall, die Verhaftung … alle diese Ereignisse, die schief gelaufen waren, tickerten durch ihren Kopf. Ihr Gehirn lief regelrecht Amok und sie verlor endgültig ihre Selbstbeherrschung. Wütend wie ein gereizter Bulle schnaubte sie durch ihre Nase. Ihr Grimm, den sie in diesem Moment verspürte, entlud sich in einem Tritt gegen das verletzte Bein des am bodenliegenden Polizisten.
Ben hatte das Mienenspiel seiner Gegnerin genau beobachtet. Die Erleichterung, dass sie die Waffe senkte und wieder zurück in das Holster steckte, wich sehr schnell. Er sah das irre Aufflackern in ihren Augen, hörte ihr irres Lachen und nur Sekunden später kam ihre Stiefelsohle auf ihn zu. Bevor Ben reagieren konnte, traf diese seinen verletzten Oberschenkel. Für ihn fühlte es sich an, als würde eine Feuerlohe den Muskel und den Knochen in tausend Einzelteile zersprengen. Ben schrie gequält auf „Oh Gott! … Oh Gott! … Du elendes Miststück!“ Gleichzeitig versuchte er sich vor ihrem nächsten Tritt in Sicherheit zu bringen. Sein bewusstes Denken war ausgeschaltet. Es regierte in seinem Kopf nur noch der Instinkt, der Wunsch zu überleben, angespornt durch seinen Zorn. Er rollte sich auf seine rechte Seite. Aus reinem Reflex trat mit seinem linken Fuß gegen das Standbein der Dunkelhaarigen. Die heulte daraufhin vor Wut und Schmerz auf und taumelte leicht rückwärts. Dies verschaffte Ben nur für Sekundenbruchteile ein wenig Luft. Die Quittung folgte sofort. Es traf ihn ein mörderischer Tritt in seine rechte Seite. Doch das war erst der Anfang. Ihr Wutausbruch, der darauf folgte, glich dem Ausbruch eines Vulkans.
Ben wurde durch die Wucht des nächsten Treffers förmlich vom Boden hoch gehoben und schrie erneut fürchterlich auf. Er hatte das Gefühl seine rechte Seite würde zerbersten. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Verzweifelt rang er nach Atem, was ihm Dank seiner geprellten Rippen nur noch mehr Schmerzen bereitete. Gabrielas Kilic nächste Treffer landeten zielgerichtet auf seinen Oberkörper. Vergeblich versuchte Ben ihnen auszuweichen. Anfangs schaffte er es noch zumindest seinen Kopf zu schützen. Trotz seiner eisernen Willenskraft erlahmten seine Bewegungen. Jeder Tritt, jeder Treffer löste eine Welle von Schmerzen in seinem Körper, die betroffenen Körperstellen brannten … glühten … der Schmerz schien ihn innerlich zu verbrennen. Seine furchtbaren Schmerzensschreie hallten in der Enge des Raumes wieder. Erbarmungslos trat die Dunkelhaarige fortwährend auf ihr Opfer ein. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzerrt. Gabriela war wie in einem Rausch gefangen. Jeder Aufschrei von Ben stachelte sie dazu an, erneut zu zutreten.
In ihm stieg Todesangst auf. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Wer sollte dieser Furie Einhalt gebieten? Ben war sich in diesem Augenblick sicher, diese Frau würde ihn tot treten. Nein, er wollte nicht hier sterben. …Nein! … Nicht hier, nicht jetzt, schrie sein Inneres verzweifelt auf … nein … nicht so … nicht vor Aida und Andrea … seine qualvollen Schmerzensschreie brachten seine Not zum Ausdruck … der Schmerz wurde unerträglich … es war die Hölle auf Erden.