Obwohl Ben noch zwei weitere kleine chirurgische Eingriffe über sich ergehen lassen musste, schritt seine Genesung mit jedem Tag voran. Die schlecht heilende Wunde am Oberschenkel schloss sich langsam. Der Tag, an dem der dunkelhaarige Polizist aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, rückte näher. Mittlerweile benötigte er nur noch eine Krücke, um das verletzte Bein zu entlasten und größere Strecken im Krankenhausbereich zurückzulegen. Seine gebrochenen Rippen bereiteten ihm dank der Schmerzmittel wenige Probleme. Mit jedem Tag wuchs sein Wunsch, endlich entlassen zu werden.
Ben saß vor dem Eingangsbereich der Klinik auf einer Bank und genoss die wärmenden Strahlen der Sonne. Die Bank befand sich in einem kleinen Park, der wie eine wohltuende grüne Oase wirkte. Sein Vater hatte ihn am gestrigen Abend besucht. Mit geschlossenen Augen dachte er über die lange Aussprache nach, die er mit ihm geführt hatte. Das Gespräch zwischen Vater und Sohn war sehr eindringlich und bewegend gewesen. Auch die Worte seiner Schwester auf der Intensivstation gingen ihm wieder durch den Kopf. Ihm war gestern so richtig bewusst geworden, welche Ängste sowohl sein Vater, als auch seine Schwester um ihn ausgestanden hatten. Der Satz seines Vaters, dass es wohl nichts Schlimmeres für Eltern gibt, als das eigene Kind zu Grabe tragen zu müssen, hatte Spuren in seiner Seele hinterlassen. Während er so grübelte, döste er ein bisschen ein und träumte.
Währenddessen….
Anna spazierte langsam über den schmalen Gehweg in Richtung Parkplatz. Beim jedem Schritt klapperten die Absätze ihrer Ballerinas auf dem gepflasterten Weg. Ihr weißes Sommerkleid umspielte ihre Figur. Sie blickte zu Boden und war unendlich traurig, dabei hatte dieser Nachmittag für sie so vielversprechend begonnen. Dank der bestandenen Abschlussprüfung hatte sie in der Klinikverwaltung ihren neuen Arbeitsvertrag unterschrieben und den gesamten Papierkram erledigt. Am nächsten Ersten würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen, ihre Ausbildung zur Fachärztin.
Ihr Freund Basti hatte sich vor einigen Tagen bei ihr gemeldet und ihr mitgeteilt, dass ein Patient namens Ben Jäger nach ihr gefragt hatte. Sie schwebte auf rosaroten Wolken nach diesem Anruf. Aber ihre Prüfungen gingen vor. Auch sie wollte den jungen Mann unbedingt noch einmal treffen, Gewissheit haben, ob ihre Gefühle an jenem Abend in der Bar nur Einbildung gewesen waren. Ihr war auch bewusst, dass es in einer riesigen Enttäuschung …. in einem Fiasko … für sie enden könnte und Ben Jäger sich als ihr Patient einfach nur bei seiner Krankenschwester bedanken wollte.
Es blieb bei einem Versuch, dem jungen Polizisten einen Krankenbesuch abstatten zu wollen. Anna war so was von enttäuscht gewesen, als sie den jungen Polizisten nicht in seinem Zimmer antraf. Die zuständige Krankenschwester teilte ihr nur mit, dass er sich bei der Stationsleitung abgemeldet hatte und auf dem Klinikgelände unterwegs sei und frühestens zum Abendessen zurückerwartet wurde. Irgendwie sollte es einfach nicht sein …. Warum nur? Sie haderte mit ihrem Schicksal.
Die angehende Ärztin überlegte, ob sie noch einen Abstecher in die Cafeteria machen sollte, deren Sonnenterrasse lud bei dem schönen Wetter richtiggehend zum Verweilen ein. Vielleicht würde sie ihn dort antreffen? In ihre Gedankengänge hinein fixierte sich ihr Blick auf eine Parkbank rechts von ihr im kleinen Park. Der Mann, der darauf saß, schien in der angenehmen Maisonne vor sich hinzudösen. Sein Kopf ruhte auf seinem rechten Arm, den er auf der Rückenlehne der Bank abgelegt hatte. Neben ihm stand eine Krücke und ein Bein lag ausgestreckt auf der Bank. Die wuscheligen braunen Haare waren so vertraut und zogen sie magisch an. Das war er doch … ihr Traumprinz. Ihr stockte der Atem und gleichzeitig beschleunigte sich ihr Puls. Kurz entschlossen, näherte sie sich ihm und blieb an der Rückseite der Bank stehen. Sein Drei-Tage-Bart zierte mittlerweile wieder sein Gesicht, es fehlte nur noch sein strahlendes Lächeln. Sanft tippte sie ihn an der Schulter an
„Hallo, ich bin es Anna, nicht erschrecken! … Stör ich?“, meinte sie etwas schüchtern.
Diese dunkle Frauenstimme hätte er überall wiedererkannt. Er schlug die Augen auf und blinzelte in Annas Gesicht. Der Schatten ihres Körpers verdeckte die Sonne.
„Sie?“ Ben lachte freudestrahlend auf, „nein, Sie würden niemals stören. Haben Sie einen Augenblick Zeit, dann setzen Sie sich doch zu mir.“
Er nahm sein verletztes Bein von der Bank herunter und deutete einladend auf die freie Sitzfläche. Anna umrundete die Bank und ließ sich neben Ben nieder. Ihre Blicke begegneten sich und blieben eine gefühlte Ewigkeit ineinander haften. Sie bemerkte, wie ihr kleiner Schutzwall, den sie sicherheitshalber um ihre Seele herum aufgebaut hatte, zu bröckeln begann.
„Ich war gerade in der Verwaltung und habe meinen neuen Vertrag abgeholt.“ Was rede ich denn da für einen Blödsinn, schoss es ihr durch den Kopf „Sebastian, der Krankenpfleger, meinte, Sie wollten noch mal mit mir reden.“
Ben musterte die junge Frau einen Augenblick. Seine Blicke umschmeichelten sie. Anna trug ihre schwarz-gelockten Haare heute offen. Wie eine Mähne rahmten diese ihr bildhübsches und ebenmäßiges Gesicht ein. Wieder blieb sein Blick an ihren wundervollen rehbraunen Augen hängen. Irgendetwas faszinierte ihn daran. Es lag ein unheimlicher Zauber darin, dem er einfach nicht widerstehen konnte. Erneut erwiderte sie seinen Blick und er spürte, wie sich in seinem Bauch Schmetterlinge regten. Er räusperte sich kurz.
„Ähm … ich hätte nur eine Frage an Sie?“, sagte er lächelnd.
„Und die wäre?“, kam neugierig zurück.
„Darf ich Sie zu einem Abendessen einladen, sobald ich hier raus bin?“
Wie oft hatte sich Anna in ihren Träumen ausgemalt, wie wunderbar es sich anfühlen würde, wenn sie eine Einladung von dem jungen Polizisten für ein Rendezvous erhalten würde. Hoffnungsvoll blickte er sie an. Auf einmal war er wieder da, dieser Giftstachel aus ihrer letzten Beziehung, der sich wie ein böses Geschwür in ihr Herz reingebohrt hatte …. Auch wenn Anna sich in ihrem Herzen nichts sehnlichster gewünscht hatte, als einmal mit Ben auszugehen, schlummerten tief in ihr drinnen noch die schlimmen Erfahrungen ihrer letzten Beziehung. Ihr ehemaliger Freund Andre hatte sie tief verletzt. Meinte es der junge Polizist mit ihr ehrlich? Oder war es nur eine Einladung aus Dankbarkeit? Der Zweifel nagte in ihr und sie haderte Sekundenbruchteile mit sich selbst und ihre Ängste siegten.
„Sorry, … ich vermische berufliches nicht mit privaten, das verstehen Sie doch oder? … Sie sind hier Patient bzw. Sie waren mein Patient und befanden sich in einer absoluten Ausnahmesituation, sie brauchten Hilfe, so was nutze ich nicht aus.“
Sie verstummte und schalt sich im selben Augenblick, du blöde Kuh, was ist nur gerade in dich gefahren, … oh Gott was hast du nur geantwortet, … was hast du nur getan, als sie seinen enttäuschten Blick sah. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, geküsst, seine Hände auf ihrem Körper gespürt, denn ihre Antwort stand ja im krassen Gegensatz zu dem, was sie tatsächlich für ihn empfand. … Bevor sie weiterdenken konnte, sprach er weiter.
„Machen Sie doch bitte Mal eine Ausnahme. Bitte … Bitte ich flehe Sie an … Ich denke, ich schulde ihnen noch ein Abendessen und ein paar Konzertkarten!“ Fast schon beschwörend kamen die Worte aus seinem Mund. Er fasste zärtlich ihre Hand an. Die Berührung jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper. Sein Blick … er drückte alles aus, was er für sie in diesem Moment empfand. „Bitte… geben Sie mir eine Chance!“
„In jener Nacht … haben Sie gehört, was ich Ihnen alles erzählt habe? Oh, mein Gott …“
Anna errötete leicht und blickte verlegen zu Boden. ... Ihr Herzschlag und ihre Atmung beschleunigte sich … es kribbelte in ihrem Magen … „Alles? …“
Er nickte ihr zu und fuhr sich mit seinen gespreizten Fingern durch sein Haar.
„Wenn es Sie beruhigt, ich kann mich zwar nicht mehr an jedes Detail erinnern … aber ja … das eine oder andere, vor allem das Abendessen und die Konzertkarten sind irgendwie bei mir hängen geblieben! Und noch etwas…!“
„Noch etwas? …“, fragte sie verblüfft. Ihre Wangen glühten vor Verlegenheit … sie ahnte es … In jener Nacht hatte sie ihm gestanden, dass sie sich unsterblich in ihm verliebt hatte. … Verzweifelt suchte sie die Rasenfläche vor sich nach einem Mauseloch ab, in das sie sich verkriechen konnte. „Ich … ich … mache … so was normalerweise nicht …. Nur … nur …!“ Ihr Herz raste …. Ihre Knie wurden butterweich, wäre sie nicht gesessen, wäre sie vor ihm in sich zusammengefallen … Und wieder rettete er sie aus dem Dilemma, in das sie sich selbst hineingebracht hatte.
"Bedeutet das einverstanden? … Ja? … Übrigens, ich heiße Ben!“
„Anna!“ Unwillkürlich mussten beide auflachen.
„Und was meinst du mit normalerweise?“, neckte er sie ein bisschen. „Wir sind uns nicht hier das erste Mal begegnet oder?“ Ben schaute sie fragend an. Zärtlich berührte er abermals ihre Hand und sie hatte Gefühl, ein Stromstoß würde durch ihren Körper hindurchrauschen. Anna nickte und wisperte: „Der Club 99? … Du erinnerst dich …. an mich?“
Er blickte sie unverwandt an. Die Intensität seines Blickes jagte ihr die Gänsehaut über ihren Körper. „Ja, … ich habe dich nicht vergessen. Nur in jener Nacht hatten wir noch eine ungeplante Razzia und ich musste sofort nach dem Auftritt weg. Und anschließend …. Warst du nicht mehr da. All die Abende, die ich noch dort war, habe ich vergeblich nach dir gesucht. Keiner kannte dich … Das letzte Mal war ich am Abend vor der Entführung dort … und dann treffe ich dich ausgerechnet hier im Krankenhaus wieder! … Wenn das nicht Schicksal ist!“
Innerhalb weniger Minuten waren die beiden jungen Menschen in ein anregendes Gespräch vertieft … fanden Gemeinsamkeiten … lachten miteinander … flirteten und genossen den glücklichen Moment und vergaßen die Welt und die Zeit um sich herum.