Vor der Schule - 16:25 Uhr
Semir fühlte sich von Bens Worten nicht beruhigt. Im erschien der Gedanke surreal, dass er vor einer halben Stunde noch dachte, Kevin hätte seine Tochter entführt und jetzt solle er davon ausgehen, dass der junge Polizist Ayda mit seinem Leben beschützte? Dieser Stimmungsumschwung Kevin gegenüber fand er abstrus, aber auf der anderen Seite auch nachvollziehbar. Er hatte sich einfach getäuscht, hatte sich von seinen Gefühlen leiten lassen... und von Vorurteilen. Vorurteilen gegenüber seinem Partner, jene Vorurteile, die mitschuldig daran sind dass aus Kevin eben jener Mensch wurde, der anderen Menschen nur schwer vertrauen kann.
Der erfahrene Beamte fühlte sich schlecht, hundeelend. Das schlechte Gewissen nagte an ihm, die Sorge um Ayda machte ihn wahnsinnig und auf die Gespräche mit den Lehrern konnte er sich nicht konzentrieren. Hin und wieder erwischte er sich bei dem Gedanken, Andrea anzurufen. Aber seine Frau war auf einer wichtigen Schulung und Semir wollte sie nicht ängstigen. Ein zweischneidiges Schwert... er würde seiner Frau eine Menge Streß ersparen, wenn hier alles unblutig ausginge, und er am Abend einfach davon erzählte. Allerdings wollte Andrea natürlich auch wissen, was mit ihren Kindern gerade passierte. Semir entschied sich erstmal dagegen.
Auch von anderen Lehrern war nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Ben hatte das Gefühl, er würde jedes Mal eine Schallplatte abspielen. Schweigsam, Eigenbrödler, Jens ein sehr schlauer Kerl, aber total verschüchtert. Dass es Mobbing-Attacken gegen die beiden Schüler gab, wollte keiner der Lehrer festgestellt haben, eine etwas jüngere Lehrerin vermutete es, als die beiden Polizisten sie befragten. "Ich... ich glaube schon dass sie aufgrund ihrer Introvertiertheit schon zu den bevorzugteren Opfern gehört haben könnten. Es gibt an unserer Schule auch einige Problemgruppen an Schülern, aber das gibt es überall." "Warum wurde von Seiten der Lehrer nichts dagegen unternommen?", fragte Semir dann, der sich erstmals in ein Gespräch einschaltete. In seiner Fantasie machte sich gerade eine Szene breit, in der seine Tochter von älteren Schülern oder Schülerinnen gemobbt wurde.
Die Lehrerin sah kurz zu Boden. "Wissen sie, das ist nicht so einfach wie sich die Eltern das vorstellen.", murmelte sie und Ben bemerkte ihre Verunsicherung. "Das heißt, die Lehrer haben selbst Angst, Opfer von Attacken zu werden?" "Wir haben sicherlich keine amerikanischen Verhältnisse, verstehen sie das nicht falsch. Aber viele Kollegen und Kolleginnen ziehen ihren Unterricht durch, und sind froh wenn sie sich mit den Problemen der Schüler nicht beschäftigen müssen."
"Das solltet ihr aber. Das gehört zu eurem Job.", sagte Semir missbillig und klang in seiner Stimme härter, als er eigentlich wollte, denn er sah die Lehrerin weiterhin beschämt zu Boden sehen. Ausserdem stand sie natürlich auch unter Schock, ob der Geschehnisse an ihrer Schule. "Hätten sie den beiden solch eine Tat zu getraut?", fragte Ben wieder etwas ruhiger, konnte sowohl Semirs Ton in seiner Lage, als auch die Gemütslage der Lehrerin verstehen. "Nein... also... Jens eher nicht. Tobias weiß ich nicht. Seinem Freund schon eher." "Seinem Freund? Also doch Jens?" Die Lehrerin schüttelte den Kopf. "Nein nein... ich meine Marvin, Marvin Glaubinger. Er ist ein Freund von Tobias, und ich habe mal mitbekommen, dass sie sich über Waffen unterhalten hatten. Allerdings habe ich mir nichts dabei gedacht, weil es sich um Sportschießen handelte, was ja wirklich nichts ungewöhnliches mehr ist."
Die beiden Polizisten sahen sich an. "Und das sagen sie erst jetzt? Dass einer der Täter einen Freund hat, der Sportschütze ist?", fragte Semir mit Erregung in der Stimme, und die junge Frau sah sich unsicher um. "Ich... also ich..."
Plötzlich wurde die, beinahe unheimliche Stille vor der Schule durch zwei gedämpfte Schüsse unterbrochen, die alle Anwesenden auf dem Vorplatz zusammenzucken ließen und Richtung Schulgebäude blicken. "Verdammt...", murmelte Semir erschrocken und biss die Zähne aufeinander. In einige Beamte kam Bewegung und die beiden Polizisten sahen, wie Kosicke über den Parkplatz Richtung Einsatzzentrale sprintete, um dort sofort wieder den Hörer in die Hand zu nehmen und die Handynummer von Tobias zu wählen. Das Freizeichen dauerte einige Sekunden, bis abgehoben wurde. "Kosicke hier! Was ist da drinnen bei euch los? Du hast gesagt, dass keinem etwas passieren wird, wenn wir euch in Ruhe lassen!", sagte er mit strenger Stimme in den Hörer.
Semir und Ben kamen gerade in den Bus, als Kosicke den Ton auf laut stellte. "Ich habe gesagt, dass wir unser Ding durchziehen. Es sind noch nicht alle Rechnungen beglichen.", hörten sie die Stimme. Kosickes Atem beruhigte sich langsam, er versuchte kühlen Kopf zu bewahren. "Dann erzähl mir endlich von diesen Rechnungen. Und wir finden gemeinsam eine Lösung." Die darauffolgende Stille war unheimlich, beinahe gespenstisch. Semir hatte das Gefühl, der Boden unter ihm wäre glühend heiß. "Hallo? Tobias, rede mit mir." Als Kosicke den Namen erwähnte, wurde die Leitung unterbrochen.
"Mist.", fluchte der erfahrene Verhandlungsführer des SEKs und legte den Hörer wieder auf. "Er verhält sich nicht typisch. Er ist weder eiskalt und gelassen, noch wirkt er nervös." Dann blickte er zu den beiden Polizisten. "Was meint er mit Rechnungen." "Eine der Lehrern erzählte uns, dass sowohl Jens als auch Tobias durch ihre Introvertiertheit ein gutes Mobbing-Opfer abgeben könnten. Bemerkt haben will sie nichts, aber das glaube ich ihr nicht... wie kommt man sonst auf sowas?", sagte Ben und runzelte dabei die Stirn. "Ausserdem hat Tobias noch einen Freund, der Sportschütze ist. Sein Name ist Marvin Glaubinger..." Über Funk gab der Einsatzleiter sofort weiter, sich um die Adresse des Marvin Glaubinger zu kümmern und einen Streifenwagen dorthin zu schicken, um zu prüfen ob dessen Waffen noch im Haus waren, und er selbst auffindbar.
"Wir müssen etwas unternehmen, Karl-Heinz. Wir können nicht warten, bis die beiden Jungs alle auf ihrer Liste befindlichen Leute, die sie mal gemobbt haben und dort drin sind, getötet haben.", sagte Semir fieberhaft, dachte dabei aber natürlich zuerst an seine kleine Tochter. "Euer Spezialist analysiert den Auslöser an der Tür. Aber er kommt nicht heran, da er von innen angebracht ist und auslöst, sobald man die Tür öffnet." "Wie weit sind ihre Männer mit dem Gebäudeplan?", fragte Ben den Einsatzleiter. "Das Dach wäre eine Möglichkeit. Allerdings ist dort die Tür verriegelt, und man müsste sie aufsprengen, was Geräusche verursacht. Sie liegt direkt über der Aula, was bedeutet, dass man uns hören könnten." "Na klasse...", seufzte Ben und Semir schüttelte nur den Kopf.
"In einigen Minuten kommen die Eltern von Jens und Tobias.", sagte Kosicke. "Bei Jugendlichen kann das etwas auslösen. Normalerweise sind Mobbing-Opfer in ihrem Wesen sehr sensibel... ist ja klar, sonst würden sie nicht so extrem darauf reagieren. Wer sensibel ist, und eine gewisse Empathie hat normalerweise eine recht gute Erziehung genossen, dementsprechend ein gutes Verhältnis zu den Eltern. Das beobachten wir oft bei Mobbing-Opfern. Wir hoffen, dass wir zumindest einen der beiden so zur Aufgabe bewegen können, und er seinen Kollegen dann mitzieht.", erklärte der Diplom-Psychologe. "Das ist die größte Chance, die wir momentan haben."
"Alternative ist nur die Hauruck-Aktion.", schaltete sich dann der Einsatzleiter ein und sah Kosicke an. "Der Ministerpräsident macht Druck... wir können keine weiteren Opfer verantworten und die Geiselnahme muss so schnell wie möglich beendet werden." "Bei einer Hauruck-Aktion könnten noch weitere Schüler sterben. Geben sie den Eltern eine Chance..."